KALTE GIER. Rachel Amphlett

KALTE GIER - Rachel Amphlett


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      Aaron Hughes steckte knietief in Schwierigkeiten. Bereits eine Stunde war er zu spät dran und sein Handy-Akku war leer, also radelte er so schnell wie möglich nach Hause. Seine Mutter würde ihn umbringen. Vor einer Stunde hatte seine Schule ihr mitgeteilt, dass er die Extrakurse schwänzte, zu denen sie ihn während der Ferien verdonnert hatte, weil sie in dem Zeitraum arbeiten gehen musste. Die schwache Wintersonne begann bereits zu sinken.

      Er konnte einfach nicht anders … das neue Computerspiel war am Montag herausgekommen und Jack Mills hatte es irgendwie geschafft, seine Eltern dazu zu überreden, ihm das Spiel sofort zu kaufen – als Vorab-Geburtstaggeschenk. Innerhalb von vier Stunden waren die beiden Jungen bei Level 6 angekommen, bevor Aaron erst bemerkte, wie spät es inzwischen geworden war und hastig das Haus seines Freundes verlassen hatte.

      Er radelte auf die Saint Cross Road, zog an den College-Gebäuden vorbei und überlegte, ob er die Abkürzung durch die Felder und über den Fluss Cherwell nehmen sollte. Da er ohnehin schon in Schwierigkeiten steckte, war es jetzt auch egal, ob seine Kleidung schmutzig und schlammbespritzt war. Allerdings wirkte das Ufer des Flusses mit seinen bewaldeten, unkrautübersäten Nebenflüssen selbst zur besten Zeit ein wenig gruselig. Aaron war der letzte, der das leugnen würde.

      Aber die Strecke war immer noch eine Abkürzung nach Old Marston und im Moment brauchte er jeden Vorteil, den er sich verschaffen konnte. Er bog nach rechts auf die Schotterpiste hinter den College-Spielfeldern ab und schaltete einen Gang herunter.

      Aaron verlangsamte sein Fahrrad und warf einen Blick über seine Schulter. Aus Erfahrung wusste er, dass er innerhalb von 15 Minuten quer durch die Spielfelder hindurch und wieder zurück in der Vorstadt sein würde – aber nur, wenn er es schaffte, seine Fantasie keine Überstunden machen zu lassen.

      Aaron stöhnte einen kurzen Seufzer aus. Er musste es tun. Er trat wieder in die Pedale und fuhr den Pfad entlang. Leicht keuchend, wobei er nicht wusste, ob aus Angst oder vor Anstrengung, radelte er auf die erste schmale Brücke über den Fluss und bemerkte, wie der städtische Verkehrslärm hinter ihm in die Ferne versickerte.

      Auf halbem Weg über die Brücke stoppte er und blickte auf den kleinen Wasserlauf hinunter, der sich durch die Felder zum Hauptfluss ergoss. Der Bach schlängelte sich nach links, bevor er hinter einer Kurve verschwand, während sich der Weg vor ihm zu wenig mehr als einem Reitpfad verengte. Aaron warf einen letzten Blick auf den Bach und fuhr dann so schnell weiter, wie er es auf der steinigen Oberfläche des Weges riskieren konnte, ohne ins Schleudern zu geraten.

      Als er sich der nächsten Brücke näherte, verengte sich der Pfad weiter und er konnte den frühabendlichen Duft von feuchtem Unterholz, Kiefernsaft und Pferdekot riechen.Schneeglöckchen lugten vorsichtig aus den Grasrändern auf beiden Seiten des Weges hervor.

      Als urplötzlich ein kreischender und mit den Flügeln schlagender Fasan vor ihm auftauchte, zuckte Aaron zusammen. Er lachte kurz nervös auf, erschreckte sich aber bald erneut, als irgendetwas anderes in der Nähe aufschrie.

      Der schmale Pfad verlief zwischen zwei Nebenflüssen des Cherwell, bevor er über sie hinweg und durch die Felder bis nach Old Marston führte. Aaron verlangsamte das Tempo, als er sich an die Horrorgeschichten von Menschen erinnerte, die ins Wasser gefallen waren und es nicht geschafft hatten, bei den zu dieser Jahreszeit vorherrschenden eisigen Temperaturen zu überleben. Er steuerte das Fahrrad in die Mitte des Weges, weg von den Flussufern, fest entschlossen, nicht abzurutschen und hineinzufallen.

      Während er sich der Kurve näherte, hinter der es nach Hause gehen würde, sah er etwas am Flussufer zwischen dem flachen Grasrand und dem Schotterpfad liegen. Aarons Herz begann zu rasen, während er scharf abbremste. Das Etwas sah aus wie ein altes Kleiderbündel, das jemand am Wegesrand fallen gelassen hatte.

      Er sah sich um und wünschte sich plötzlich, er hätte diesen Weg nicht genommen. Da er aber nicht mehr umkehren konnte – inzwischen war er seinem Ziel schon viel zu nah gekommen – stieg er stattdessen vom Fahrrad ab und schob es in Richtung des Kleiderhaufens. Während er näherkam, konnte er die Umrisse eines Menschen erkennen. »Hallo?«

      Er hielt an. Als kleiner Junge hatte er genug Geschichten darüber gehört, wie gefährlich Fremde sein konnten, und auch wenn es seine Eltern ihm nicht glaubten … er hatte ihre Warnung verstanden: Nicht mit Fremden mitgehen. Aber das hier war etwas anderes. Es fühlte sich nicht richtig an.

      »Geht es Ihnen gut?«, fragte er vorsichtig.

      Vielleicht war das ja ein Betrunkener. Es half nichts, dachte er, aber er musste einfach näher heran. Aaron atmete aus und schob das Fahrrad ein Stückchen weiter, wobei er darauf achtete, dass es eine Art Schutzschild zwischen ihm und der Gestalt bildete. Schließlich konnte er erkennen, dass es ein Mann in einem Anzug war, sein Gesicht jedoch lag von Aaron abgewandt. Er machte einen Schritt um den Mann herum und fing zu schreien an. Das Fahrrad fiel zu Boden, als sich der Junge umdrehte, zur anderen Seite des Schotterweges rannte und in das hohe Gras kotzte.

      Es schien eine gefühlte Ewigkeit zu vergehen, bevor er den Mut aufbrachte, zurückzurennen, sich sein Fahrrad zu greifen und so schnell er konnte die restliche Strecke bis nach Hause zu fahren. Wo seine Mutter zuerst versuchte, ihren hysterischen Sohn zu beruhigen und anschließend die Polizei verständigte.

      Doch es würde noch wesentlich länger dauern, bevor die Erinnerung an das Gesicht des Toten anfangen würde, aus seinen Albträumen zu verschwinden.

      Der Weckeralarm kreischte zweimal laut auf, bevor eine Hand unter der Decke hervorgeschossen kam und auf die Ausschalttaste schlug.

      Dan setzte sich auf und schwang die Beine über die Bettkante. Verdammt, es war eiskalt. Er hievte sich hoch, zog einen dicken Bademantel an und tapste zur Schlafzimmertür. Während er runter ins Erdgeschoss ging, fuhr er mit einer Hand durchs Haar und starrte mit trüben Augen auf die Zeitschaltuhr der Zentralheizung. Er schlug hart mit der Handfläche darauf und hörte befriedigt, wie die Heizungsanlage mit einem sanften Brüllen ansprang.

      Gähnend setzte er den Wasserkessel auf und begann, Kaffee zu machen. Dann drehte er sich um und nahm das Handy von der Küchenbank. Keine Nachrichten. Er runzelte die Stirn … er hatte vor drei Tagen gleich nach seiner Rückkehr aus dem Pub versucht, Peter zurückzurufen, doch leider nur seine Mailbox erreicht. Dan überlegte gerade, wen er an der Universität kontaktieren könnte, um Peter aufzuspüren, als Schritte an der Vorderseite des Hauses seine Aufmerksamkeit erregten.

      Der Briefschlitz quietschte in seinen Scharnieren und Dan blickte auf. Langsam trottete er durch den Flur, hob das Exemplar der Oxford Times von der Fußmatte auf, dann schlenderte er zurück in die relative Wärme der Küche. Während er darauf wartete, dass das Wasser endlich kochte, setzte er sich an den Küchentresen und blätterte durch die Zeitung, bis sein Blick an einem Bericht auf Seite fünf hängen blieb.

      Er spürte, wie seine Kinnlade vor Schock runterklappte. Die Schlagzeile lautete:

       Prominenter Dozent in grausamen Kampf getötet.

       »Die Polizei bestätigte, dass es sich bei dem Körper, der vor vierundzwanzig Stunden in der Nähe des Flusses Cherwell in Old Marston gefunden wurde, um Doktor Peter Edgewater, Dozent für Geologie am Department of Earth Sciences, Universität Oxford, handelt. Sie beschreibt den Angriff als erschreckend brutal. Doktor Edgewaters Arbeitskollegen alarmierten die Polizei, als er es versäumte, gestern Morgen beim ersten Fakultäts-Treffen des neuen akademischen Semesters zu erscheinen.

       Doktor Edgewater, bekannt für seinen Einsatz für mehr Forschung zu alternativen Energiequellen, war anscheinend zu Fuß hinter dem College-Gelände unterwegs, als der Angriff erfolgte. Der namhafte Dozent hatte aktuell eine erfolgreiche Vortragstour in Europa beendet. Bei den Vorträgen setzte er sich für seine Theorie ein, die besagt, dass ein Pulverextrakt aus sogenanntem Weißem Gold eine Alternative sein könnte, um Kohle bei der Stromerzeugung zu ersetzen. Doktor Edgewater nutzte seine Vorträge auch regelmäßig dazu, die Gas- und Kohle-Unternehmen dafür zu kritisieren, dass sie grundlegende Forschungen zu alternativen Energiequellen angeblich verzögerten. Gegenwärtig ist die Mordwaffe noch nicht gefunden


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