Tessiner Verwicklungen. Sandra Hughes

Tessiner Verwicklungen - Sandra Hughes


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neu zu spannen. Sein Kollege fuchtelte mit den Armen, zwang die Bewohnerinnen und Bewohner von Meride ein paar Schritte rückwärts. Von Haus zu Haus war die Nachricht gegangen, von der Via Ercole Doninelli in die Via Bernardo Peyer und von da in die verzweigten Gässchen hangauf- und hangabwärts.

      »Un morto«, wurde von Mund zu Mund gewispert, »assassinato.«

      In der fabbrica, bei der famiglia Savelli. Savelli? Ja, der Alte hatte alles entdeckt. Rote Spaghettischnüre in der Trockenmaschine? Blut in der Pasta? Männer und Frauen rissen die Augen auf, schlugen die Hände vor den Mund. Ja, dazu eine Blutlache, die sich unter der Tür des Trockenraumes hindurch bis zum Rührwerk ausbreiten konnte. Dann wurde die Leiche gar nicht im Büro gefunden, mit zertrümmertem Schädel? No! Und die Leiche war kein Mann, sondern eine Frau?

      In der Bottega Bar l’Incontro gingen Gerüchte und Espressi über die Theke. Erste Neugierige brachen in die Via Ercole Doninelli auf. Es folgten alle, die nicht zur Arbeit den Hang des Monte San Giorgio hinunterfahren mussten, nach Riva San Vitale oder weiter in den Süden bis nach Chiasso. Sie bildeten eine nervöse Gruppe vor der Fabrik.

      »Eine Hand?«, kreischte Valeria, Kassenfrau im Fossilienmuseum Monte San Giorgio, das erst um neun öffnete.

      Ja, eine Hand. Im Rührwerk war sie aufgetaucht. Abgehackt. Schreckgeweitete Blicke, unterdrückte Schreie. Wessen Hand? Della Zücchina?

       »Sì, la Zücchina!«

      Kreuze wurden geschlagen, Gebete gemurmelt in vielstimmigem Chor:

      »Herr über Meride, gib dem alten Savelli die Kraft, dieses teuflische Verbrechen zu überstehen.«

      Mit geneigten Köpfen stand die Gruppe da, tonlos stiegen ihre Worte zu dem hoch, den sie da oben vermuteten:

      »Herr über Meride, wir danken Dir für die Ereignisse, die Du uns bescherst. Sie machen unsere langweiligen Tage reich und unsere Herzen froh. Denn nichts stärkt uns mehr, als wenn der Nachbar vom Leid getroffen kriecht und wir weiterhin aufrecht gehen können. Und lass, lieber Gott, unsere kleine Fabrik mit der besten Pasta der Welt weiterhin gedeihen, zum Wohle der Bevölkerung von Meride, der guten, Dir treu ergebenen. Grazie tanto. Amen.«

      In der Fabrik saß Luigi Savelli, zweiter Sohn des alten Savelli und Geschäftsführer des Familienbetriebs, mit Commissario Bianchi zusammen und deutete auf die Weltkarte an der Wand. Sie war mit roten, grünen und weißen Stecknadeln versehen.

      »Die Karte ist der ganze Stolz meines Vaters. Hier startete sein Großvater.« Luigi tippte auf eine rote Nadel. »Meride Paese. Er wurde Hoflieferant vom Wuppertaler Bankier Eduard von der Heydt, der sich ein Hotel auf dem Monte Verità bauen ließ. Hier.« Er tippte die grünen und weißen Nadeln an. »Sein Vater holte das Grand Hotel Villa Castagnola, das Hotel Giardino, das Eden Roc und die Villa Principe Leopoldo hinzu. Jetzt beliefern wir ausgewählte Delikatessläden in Zürich, Basel, Mailand, Rom und München. Ohne die regionale Kundschaft verloren zu haben.«

      Sie saßen im Packraum, in dem die Pasta in Tüten zu je einem Kilogramm abgefüllt wurde. Wochentags ab sieben Uhr dreißig – wenn keine Leiche im Kühlraum lag. Die Spurensicherung hatte einen Teil des Raums freigegeben. Für Commissario Bianchi hatte Luigi den speckigen Drehstuhl aus dem winzigen Büro gerollt, für sich eine Kiste platziert.

      Er beobachtete den Commissario, während er die Firmengeschichte darlegte. Was für ein Geck dieser Polizist war, mit seinem langen Haar, das ihm glänzend am Kopf klebte. Er hielt das Gesicht meist auf seine Notizen gesenkt, nur seine Hakennase ragte hervor. Schlanke Finger. Ein zerfranstes Band ums Handgelenk, ein Glücksbringer wohl, unpassend. Die Ärmel des weißen Hemdes hochgekrempelt. Bügelfalten in der Anzughose. Das Notizbuch auf den Knien, in Leder gebunden. Dauernd hatte ihn der Commissario unterbrochen, um sich Notizen zu machen, obwohl seine Aussage auch von dem Gerät aufgezeichnet wurde, das zwischen ihnen lag. Luigi musste sich wiederholen. Ja, er hatte einen Schrei gehört, beim Kaffeetrinken. Die genaue Uhrzeit wusste er nicht. Nach 6:15 Uhr, weil Luigi ab dann Kaffee trank, und vor 6:45 Uhr, dann hörte er den Wirtschaftsbericht im Radio. Ob er Familie hatte? Nein, hatte er nicht. Seine Frau war weg. Keine Pasta mehr, die sie in Tüten füllen musste.

      »Nicht mit mir!«, hatte sie geschrien und ihn angespuckt, als er sie festhalten wollte.

      Aber das sagte Luigi dem Commissario nicht. Er sagte etwas über die einmalige Verbindung von süditalienischer Kochkunst und Schweizer Qualitätsarbeit, die die Savelli-Pasta auszeichnete. Wie ihr Traditions- und Familienbewusstsein bewirkte, dass Savelli-Pasta regional und ohne endlosen Wachstumsanspruch produziert wurde, immer schon, nicht bloß dem aktuellen Nachhaltigkeitshype geschuldet. Er legte dar, wie die gemeinsame Arbeit den Zusammenhalt zwischen ihm und seinen Geschwistern Alessia und Dante stärkte. Aber da unterbrach der Commissario schon wieder.

      Nein, die Stimme und Herkunft des Schreis hatte Luigi nicht identifiziert. Er war die Treppe seines kleinen Hauses schräg gegenüber der Fabrik hinuntergerannt, hatte die Tür aufgerissen, gehorcht. Es war wieder still gewesen. Er hatte sich das alles wohl eingebildet. Trotzdem ging er zur Fabrik. Warum? Er wusste es nicht. Ein Gefühl. Das Tor zur Fabrik war nicht verschlossen. Das war jeden Tag so, weil sein Vater frühmorgens schon dort war. Luigi ging durch den Packraum, das Licht war an, der Ventilator im Büro lief bereits. Weiter durch den Korridor Richtung Produktionsraum, er hörte ein unbekanntes Geräusch, wie von einem Tier.

      »Papà!«, rief er.

      Keine Antwort.

       »Papà?«

      Wieder das Geräusch, er betrat den Produktionsraum. Dort kauerte der Vater auf den Knien, schlug den Kopf auf den Boden. Luigi rannte zu ihm, wollte ihn aufrichten. Der Vater begann zu schreien, zeigte nach hinten, zum Kühlraum. Er hatte Atemnot. Luigi umfasste ihn, zog ihn hoch, wollte ihn auf einen Stuhl setzen. Aber es gab keinen. Der Vater wollte keine Stühle in der Fabrik.

      »Arbeiten, nicht faulenzen«, hatte er immer gesagt, als sie Kinder waren, und selbst als Erwachsene hatte er sie angeherrscht:

      »Hier wird nicht rumgesessen.«

      Also ließ Luigi den Vater auf dem Boden sitzen, an die Trockenmaschine gelehnt, und ging zum Kühlraum, auf den sein Vater wies.

      Hier unterbrach sich Luigi. Der Commissario hatte den Kopf schief gelegt und sah ihn an, ohne zu schreiben. Eine weiße Stecknadel löste sich aus der Karte. Es war so still, dass man das leise Pling hörte, als sie zu Boden fiel.

      Luigi hatte die Tür zum Kühlraum geöffnet. Er sah sie erst, als er einen Schritt in den Raum machte. Sie lag links von der Tür, weiter hinten, auf dem Rücken. Die blauen Beine. Ihr grünes Kleid. Haare. Eine Schere.

      »Und?«

      Die Stimme des Commissario, Luigi zuckte zusammen.

      »Was und?«

      »Was ging Ihnen durch den Kopf?«

      »Nichts. Ich rannte zurück zu meinem Vater. Er kriegte keine Luft mehr.«

      Die dunklen Augen von Bianchi fixierten ihn, aber Luigi hielt dem Blick stand.

      5

      Alessias Kopf schmerzte. Die Augen brannten vom Weinen und den rauen Taschentüchern. Sie sah den Mann gegenüber nicht mehr ganz deutlich. Als Commissario Marco Bianchi vom Commissariato Lugano hatte er sich vorgestellt. Ihr schien, als würde sie seine Fragen schon zum zweiten oder dritten Mal beantworten. Sie versuchte, sich auf seine Worte zu konzentrieren.

      »Der Notruf ging um 7:06 Uhr ein, von Ihrem Mobiltelefon, Signora Bernasconi. Um cirka 6:35 Uhr, spätestens 6:40 Uhr waren Sie gemäß Ihren Angaben vom Joggen zurück und trafen auf Ihren Bruder. Zwischen Ihrem Blick in den Kühlraum und der Benachrichtigung der Polizei sind also mindestens 26 Minuten vergangen. Was ist in dieser Zeit passiert?«

      Wieder sah sie Luigi vor sich, wie er vor ihrer Haustür gestanden hatte. Er hatte sie am Arm gepackt und geschüttelt.

      »Wo seid ihr denn, verdammt?«, hatte er gezischt.


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