Tessiner Verwicklungen. Sandra Hughes

Tessiner Verwicklungen - Sandra Hughes


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hier«, hatte Dante geantwortet und Richtung Kühlraum gezeigt.

      Nun drang aus der fabbrica nebenan eine Männerstimme zu ihnen hoch. Sie gehörte dem Commissario. Der Mann telefonierte. Dante schüttelte den Kopf. Diese Betriebsamkeit, wo doch für heute alles getan war. Sogar die Gaffer waren nach Hause gegangen. Ihre Hoffnung auf Blutströme und einen mutmaßlichen Mörder, der in Handschellen abgeführt wurde, war zerschlagen. Es blieb nur das Warten auf den nächsten Tag. Auch wenn das hektische Telefongespräch des fleißigen Chefbeamten etwas anderes suggerierte. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Auf Berichte aus dem Labor weit weg im Tal unten, auf neue Befragungen, die Widersprüche zutage brachten, weil die Befragten von ihrer Version abwichen, ihren Erinnerungen nicht trauten.

      Dante dachte an seine Schwester, die heute fast pausenlos geweint hatte. Ihr Mann Francesco, sein Schwager, war mit dunklen Augenringen umhergeschlichen und hatte nach Alkohol gerochen. Gefeiert hätte er, hatte er allen ungefragt erklärt, den Geburtstag eines Kollegen, bis frühmorgens, in Como. Und Luigi, der große Geschäftsführer, hatte den Commissario angefleht, sie alle an ihre Arbeit zurückkehren zu lassen. Luigi hatte die weiße Stecknadel vor sich hergetragen, die aus der Karte gefallen war. Ein Zeichen für den beginnenden Zerfall der Firma sei das, hatte er gejammert, man solle ihn um Gottes willen die Arbeit tun lassen, die getan werden musste. Dieser Wicht mit Tendenz zum Drama. Dann war da papà, der mit zitternden Händen und Lippen in seinem Bett lag und alle paar Minuten aufjaulte, bis er eine Spritze erhielt und einschlief.

      Dante erhob sich, um den Lappen auf der Stirn des Vaters erneut in das Becken mit kaltem Wasser zu tauchen. Als er ans Kopfende des Bettes trat, stieß er gegen das Schränkchen, das als Nachttisch diente. Ein jäher Schmerz fuhr ihm ins Knie. Er bückte sich. Da steckte ein Schlüssel, wo vorher nie einer gewesen war. Dante drehte ihn, öffnete das Schränkchen. Es war leer. Er wollte es eben schließen, als er das Papier sah. Er griff danach, betrachtete es im schwachen Licht des abgedunkelten Zimmers. Es war eine Schwarz-Weiß-Fotografie, das Gesicht einer jungen Frau mit schmalem Gesicht. Ihre fast schwarzen Augen und die vollen Lippen deuteten ein Lächeln an. Sie trug das Haar hochgesteckt, eng um den Hals gelegt eine schimmernde Perlenkette, an der Bluse eine Brosche in Form einer Blume. Dantes Herz klopfte heftig. Er sah seinen papà von damals im Schlafzimmer sitzen, mit dem Rücken zur Tür. Dante hatte das Zimmer betreten, als papà nicht antwortete, und über dessen Schulter geschaut.

      »Ist das mamma?«, hatte er gefragt, und Antonio war von seinem Stuhl hochgeschossen, hatte das Bild an sich gepresst und mit einer Stimme geflüstert, die Dante Angst machte:

      »Raus hier.«

      Danach hatte papà sehr lange nicht mehr mit ihm gesprochen. Dante wusste für immer: Papàs Zimmer betreten war verboten. Und nie, niemals sprach man über mamma.

      Antonio Savelli tauchte langsam aus der Tiefe seines Schlafes auf, von einem Traum begleitet. Er stand in einer Kirche am Altar, es war die Chiesa San Rocco in seinem Dorf, aber mit einem Priester, den er nicht kannte. Die Orgel spielte sehr laut. Er suchte Matilda. Viele Menschen waren da, Männer, Frauen und Kinder. Wo war seine Braut? Er ging durch das Kirchenschiff zurück, an den Bankreihen entlang, schaute in fremde Gesichter. Manche lachten, schnitten Grimassen, einer stellte ihm ein Bein. Er stolperte und wollte nach Matilda rufen, aber er brachte keinen Ton heraus. Da. Da war sie. Bei der Kirchentür, im weißen Kleid, einen langen Schleier hinter sich herziehend. Der Schleier reichte beinahe bis zu ihm. Er wollte ihn fassen, sich an dem Stoff entlang bis zu Matilda hangeln. Er eilte dem Schleier hinterher, bückte sich immer wieder, um ihn festzuhalten. Vergeblich.

      »Warte, Matilda!«, wollte er rufen.

      Doch sie eilte zur Kirche hinaus und nach rechts in die Via Bernardo Peyer. Erst jetzt sah er das Kind. Ein kleines Mädchen mit roten Haaren, so rot, dass ihr Anblick seinen Augen wehtat. Das Mädchen zog Matilda an der Hand hinter sich her. Matilda lachte, und das Kind lachte auch. Alle lachten ihn aus. Überall an der Straße standen fremde Menschen, sahen ihm zu und lachten. Er rannte schneller. Er fasste den Schleier mit einer Hand, zog. Er zog und zerrte. Da war viel Stoff, keine Matilda. Er verhedderte sich, fiel zu Boden. Die Fremden scharten sich um ihn, bewarfen ihn mit etwas, das schmerzte. Bevor er mit einem heiseren Krächzen in der Kehle aufwachte, sah er das Mädchen. Es beugte sich über ihn und warf Reiskörner aus einem weißen Beutel. Sie bohrten sich wie Pfeile in seine Haut.

      8

      Emmas Kollege Alex rief an, als sie mit Karin und Rubio im Campingbus nach Meride unterwegs war. Karin hatte darauf bestanden, mitzukommen. Emma hatte nachgegeben, ihr aber das Versprechen abgenommen, sich von jemandem aus dem Dorf zurück zum Rustico fahren zu lassen oder ein Taxi zu nehmen, wenn ihr alles zu naheging. Sie hatten eben die Brauerei Maitri Beer hinter sich gelassen, und Emma hatte sich gewundert, weil sie Bier und das Tessin bisher noch nie zusammengebracht hatte.

      »Störe ich dich?«, dröhnte eine Männerstimme durch den Bus, so laut, dass Karin auf dem Beifahrersitz zusammenzuckte.

      »Aber nein, lieber Alex«, sagte Emma und drehte die Freisprechanlage etwas leiser. »Ich habe auf deinen Anruf gewartet.«

      »Ach ja?«, sagte Alex, nun etwas misstrauisch. »Es tut mir leid, dass ich dich in deinen Ferien stören muss. Du bist doch im Tessin, richtig?«

      »Richtig. Bei den Sportplätzen von Arzo. Hier spielen Mädchen Fußball, Alex, sehe ich eben. Bei euch im Club auch?«

      Sein Gesicht lief jetzt rot an, sie wusste es und grinste. Er gab sich Mühe, freundlich zu bleiben.

      »Wie gesagt. Es tut mir leid, dich in deinen Ferien zu stören, aber …«

      »Geht es um die Kindergärtnerin aus Oberwil?«

      Stille. Das gab zwei Punkte für Emma. Sie wartete.

      »Du bist …?«

      »Informiert, genau. Ich bin unterwegs zum Tatort.« Emma grinste immer noch vor sich hin. Noch zwei Punkte.

      Alex fasste sich und schluckte alle Fragen herunter. Wie Emma es liebte, schneller als er zu sein.

      »Das Opfer war zuletzt in Basel-Landschaft wohnhaft. Presser lässt fragen, ob du unseren Teil übernehmen und vor Ort nach dem Rechten schauen kannst.«

      Ach, Alex. Falsches Spiel. Das war seine eigene Idee. Ihrem Vorgesetzten hatte sie nie gesagt, dass sie Ferien im Tessin machte.

      »Dir würde es hier gefallen«, sagte Emma. »Jede Menge Rindsbraten und Ossobuco. Sogar lokales Bier haben sie. Artigianale.«

      Stille.

      »Die Überstunden werden mir ja alle ausbezahlt«, sagte Emma.

      Alex seufzte.

      »War ein Scherz.«

      »Es würde die Sache vorantreiben, wenn du übernimmst.«

      »Ja«, sagte Emma. »Es geht bestimmt schneller, als wenn du kommst.«

      Zwei Punkte dazu. Sechs zu null für sie.

      »Und wir schonen Ressourcen, gerade in diesen Zeiten«, sagte Alex. Er tat oft so, als würde er sie nicht hören. »So ein Zufall aber auch, dass du dort Ferien machst.«

      »Die Ferien sind jetzt vorbei.«

      »Dann übernimmst du?« Wie erleichtert er klang. Sie hätte ihn noch ein wenig zappeln lassen müssen.

      »Mein Kontakt hier?«

      »Commissario Bianchi vom Commissariato Lugano. Oder Chiasso. Die sind dort ganz anders organisiert, aufgeteilt nach Region. Wir haben telefoniert. Ich schicke dir seine Koordinaten.«

      »Weiß er, dass ich komme?«

      »Nein«, sagte Alex. »Ich wollte zuerst Rücksprache mit dir halten.«

      Ein Punkt für Alex.

      »Wurden die Angehörigen bereits informiert?«

      »Der Vater ist zusammengebrochen, die Mutter betet.«

      »Oh


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