Tessiner Verwicklungen. Sandra Hughes

Tessiner Verwicklungen - Sandra Hughes


Скачать книгу

      Seit einer Weile schon ging Emma hin und her, von Rubio schwanzwedelnd begleitet. In ihrem Hirn ratterten die Gedanken. Es gab nichts, was sie dagegen tun konnte. Einmal Ermittlerin, immer Ermittlerin, auch in den Ferien.

      »Warum tötet jemand eine nette, hübsche Kindergärtnerin aus Oberwil, die nebenberuflich als Reiseleiterin im Mendrisiotto arbeitet?«

      Karin reagierte nicht. Sie saß mit blassem Gesicht am Tisch und nippte an dem Wasserglas, das Emma ihr gereicht hatte.

      »Wo wohnte sie?«, fragte Emma.

      »Am Dorfeingang.«

      »Bei der Spaghettifabrik?«

      »Nein. Am anderen Ende. Dort, wo das Postauto hält. In dem kleinen Eckhaus mit der schönen Steinfassade.«

      Emma wusste nicht, welches Eckhaus. Schöne Steinfassaden gab es hier einige, aber die Haltestelle hatte sie gesehen, »Meride Paese«. Eine Gruppe von rotgesichtigen Deutschschweizern hatte auf der Bank gesessen, die karierten Hemden nass geschwitzt, die Sprüche lahm nach einem oder zwei Bier.

      »Zur Miete?«

      »Ja. Das Haus gehört den Peverellis.«

      »Warst du mal bei ihr?«

      Karin schüttelte den Kopf.

      »Wie gut kanntest du Stefanie?«

      »Sie hat mir ein bisschen geholfen«, sagte Karin und deutete auf das Haus. »Auch mit dem Mosaik bei der Tür.«

      Sie verbarg das Gesicht in den Händen. Emma setzte sich neben sie, legte einen Arm um sie.

      »Wann war das?«

      »Im April.«

      »Komm, trink mehr Wasser«, sagte Emma, schenkte nach und schob das Glas sanft gegen Karins Arm. Sie drückte Karin erneut und erhob sich.

      »Später erzählst du mir alles, was du über Stefanie weißt.«

      Emma versuchte, ihre Erinnerung an die Führung in der Fabrik nochmals durchzugehen. Karin hatte den Ausflug vorgeschlagen und sie angemeldet. Montag, elf Uhr, wenn die Tour durch die Spaghettifabrik Savelli in deutscher Sprache angeboten wurde.

      »Italienisch geht auch«, hatte Emma gesagt. »Eigentlich lieber auf Italienisch.«

      Keiner traute ihr diese Sprache zu. Jeder riss die Augen auf, wenn sie loslegte, Emma Tschopp, geborene Bellucci. Karin hatte ihren Wunsch überhört, und so waren sie zusammen mit sieben weiteren Interessierten von Stefanie Schwendener in deutscher Sprache mit Basler Dialekt begrüßt worden. Eine zierliche Frau, Emma schätzte sie auf etwas über dreißig. Sie hatte ein hübsches Gesicht, helle Haut, rotes, schulterlanges, glattes Haar. Zurückhaltende Gesten, eine angenehme Stimme. Sie gab kompetente Erklärungen zum Produktionsprozess, ließ den Gästen genügend Zeit, sich selbst umzusehen. Emma war lange auf dem kleinen Steg gestanden, zwei Meter über dem Rührwerk. Es mischte Wasser und Hartweizengrieß, frei von Gentechnik und regional, wie Stefanie Schwendener betonte. Es schlug und knetete, verwandelte die kargen Zutaten in eine blassgelbe, zäh wabernde Masse, die sich aufbäumte und zusammensackte. Herrscher über das Rührwerk waren der Patron und Dante Savelli, der älteste Sohn. Der Mann mit weißem Arbeitskittel und Haarnetz hatte, der Gruppe den Rücken zugewandt, Spaghettischnüre auf dem Band geordnet. Laut Stefanie Schwendener wusste Dante noch besser als sein Vater, wie das Herzstück der Firma zu behandeln war. Einmal im Jahr zerlegte er das Rührwerk in seine Einzelteile, schrubbte und spülte, ölte und setzte alles wieder so zusammen, dass es für weitere zweitausend Stunden funktionierte.

      »Er ist Historiker und Doktor der Philosophie«, flüsterte Stefanie Schwendener verschwörerisch, als der leicht gebückte Mann Richtung Trockenraum ging. »Er ist auch schon im Fernsehen aufgetreten.«

      Emma hatte ihm erstaunt hinterhergesehen, während der Gruppe das nächste Mitglied dieser Familie vorgestellt wurde, die nur eines kannte, wie Stefanie Schwendener wiederholt versicherte: gemeinsam für Qualität einstehen.

      »Francesco Bernasconi, er ist eingeheiratet«, sagte sie und gab dem Mann ein Zeichen, damit er ein paar Begrüßungsworte sagen konnte. Holpriges Deutsch, aber sehr charmant. Er war nebst dem Trocknungsprozess für das Schneiden der Pasta zuständig.

      An der Schneidemaschine betätigte sich auch der Patron. Emma hatte ihn zuvor draußen eine Zigarre anzünden sehen, eine Krumme, die sie aus den Friedrich-Glauser-Filmen mit Wachtmeister Studer kannte. Der alte Savelli hatte mit geübter Geste den Grashalm herausgezogen und ein Stück der Spitze entfernt. Jetzt in der Fabrik streifte er sich dünne Gummihandschuhe über seine nikotingelben Finger. Danach schwang er die Klinge, wischte die halbierten Spaghettischlaufen resolut in Kistchen, mit Routine und Konzentration, ohne sein Publikum zu beachten. Er war groß, kräftig gebaut und sah aus wie die ältere Ausgabe seines Sohnes Luigi. Dem Zweitgeborenen waren sie zu Beginn der Führung begegnet. Er hatte sie vor der Weltkarte als Geschäftsführer begrüßt und die Firmengeschichte in ein paar Sätzen umrissen. Als Basis für den Erfolg pries er die Familie, arbeitsame Menschen, vor drei Generationen aus Kalabrien eingewandert. Migranten, die etwas wollten: Geld verdienen, nicht bloß überleben. Dann war er in einem winzigen Büro verschwunden. Im Packraum arbeitete Alessia Bernasconi-Savelli, Tochter des Hauses und Frau von Francesco. Sie lächelte der Gruppe freundlich zu und füllte von Hand Pasta in Tüten. Spaghetti und Penne, immer zu tausend Gramm. Sie verschloss die Tüten sorgfältig, ordnete sie in Kisten, die gestapelt auf den Transport zu jenen warteten, die sie in feinen Restaurants zu Gerichten mit schönen Namen verkochten.

      Applaus. Damit endete die Führung.

      Was hatte Stefanie Schwendener gesagt, als sie im Anschluss noch ein wenig geplaudert hatten? Als sie gefragt wurde, ob sie als eine aus der Deutschschweiz, als »Zücchina«, mit Feindlichkeiten seitens Einheimischer konfrontiert sei? So, wie es immer behauptet wurde?

      »Noch nie«, hatte Stefanie Schwendener gesagt. »Es sind alle so nett hier.«

      Wie man sich täuschen konnte.

      7

      In der Via Ercole Doninelli rollte der junge Polizist die Absperrbänder zusammen. Die Menge Neugieriger hatte verstanden, dass es ihr nicht gelingen wird, einen Blick ins Innere der fabbrica zu werfen, und löste sich langsam auf. Gestalten in Schutzanzügen gingen durch das Tor hinein und hinaus, mit Koffern, über deren Inhalt nur spekuliert werden konnte. Die Neugierigen mit Geduld und viel freier Zeit kriegten mit, wie ein Sarg aus der Fabrik getragen und in einen Wagen geschoben wurde. Da war sie, die Zücchina auf dem Weg zur Obduktion. Jeder hatte eine ganz eigene Vorstellung davon, wie das Opfer im Sarg aussah. Wieder wurden Kreuze geschlagen. Auf dass sie ihre ewige Ruhe fand, la povera. Sie sahen zu den Fenstern im Haus nebenan hoch, wo Antonio Savelli wohnte, da, wo seine Großeltern aus einem halb zerfallenen Winzerhof bewohnbare Räume geschaffen hatten und seine Eltern geboren worden und gestorben waren. Dann wandten sich die Männer und Frauen von Meride mit einem Schauder von diesem Haus und seinem Patron ab. Hier hatte der Teufel seine Finger im Spiel.

      Antonio Savelli schlief tief. Eine der vielen Personen, die in der Fabrik das Kommando übernommen hatten, hatte ihm eine Spritze gegeben und angeordnet, dass jemand aus dem Ermittlungsteam bei ihm blieb. Nun saßen sie zu zweit in diesem stickigen Zimmer, ein schwitzender Polizist, der immer wieder einnickte, und Dante Savelli, Antonios ältester Sohn. Es roch nach kaltem Rauch. Dante betrachtete den vollen Aschenbecher auf dem Nachttisch seines Vaters. Bewundernswert stur ignorierte papà alles, was ihn von seinen geliebten Brissagos abhalten sollte, auch die Tatsache, dass er längst nicht mehr ein Ur-Tessiner Produkt unterstützte, von Tessinern für Tessiner und Italiener gemacht, wie er immer behauptete, sondern die deutsch-schweizer Firma Burger Söhne mit Sitz im Aargau, die ihre Gewinne mit Eventlocations neben den Fabrikräumen in Brissago optimierte. Eventlocations. Dante versuchte, sich wieder auf den Text vor sich zu konzentrieren. Er hatte ein Buch aus seiner Wohnung an der Piazza Mastri geholt, um sich die Zeit ein wenig zu vertreiben.

      »Wie kannst du jetzt ans Lesen auch nur denken?«, hatte Luigi ihn angefahren und auf den Vater gewiesen, der aschfahl dalag,


Скачать книгу