Tessiner Verwicklungen. Sandra Hughes

Tessiner Verwicklungen - Sandra Hughes


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      »Keine.«

      »Anstellungsbehörden?«

      »Kindergarten und Primarschule Oberwil. Seit April hat sie unbezahlten Urlaub, geplant war er bis Ende Oktober.«

      »Um was zu machen?«

      »Laut Aussage der Mutter war sie von einem Ferienaufenthalt im Tessin im Oktober so begeistert gewesen, dass sie unbezahlten Urlaub genommen hat, um zurückzukehren.«

      »Was hat sie so begeistert? Warum Meride?«

      »Die Mutter hat keine Ahnung.«

      »Hmm«, sagte Emma.

      »Wir legen alle Informationen zum Fall ab. Du hast ja Zugang.«

      Alex wusste genau, dass sie ihren Dienstcomputer immer bei sich hatte, für alle Fälle.

      »Diesem Commissario«, sagte Emma, »kannst du schon mal ankündigen, dass ich mich bei ihm melde. Was ist er für einer?«

      »Was weiß ich?«, brummte Alex. »Ein Beamter aus dem Tessin halt.«

      »Bestimmt so ein richtiger Commissario mit dunklen Tränensäcken und zu enger Uniform.« Emma kicherte. »Er kämpft gegen einen wachsenden Bauch und Frauen im Dienst.«

      »Ich habe dir den Kontakt geschickt. Mach’s gut, wir hören uns«, sagte Alex und legte auf. Er hatte erfolgreich delegiert, für ihn war die Angelegenheit erledigt.

      »Aber gern«, sagte Emma ins Nichts. »Auch dir vielen Dank.«

      Es war nun wieder still im Bus, nur Rubio grunzte im Schlaf. Emma ging die Informationen nochmals durch. Gut, dass Gaby den Fall betreute. Sie war die Beste im Care Team.

      Emma sah eine betende Mutter vor sich, den verzweifelten Vater.

      »Die armen Eltern«, murmelte sie. Und zu Karin gewandt: »Kanntest du sie?«

      »Nein.«

      »Erzähl mir von Stefanie.«

      »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Wir haben bloß dieses Mosaik zusammen gemacht. Und sie hat die Eingangstür abgeschliffen und gestrichen.«

      »Woher kennt ihr euch?«

      »Sie war bei mir im Nähkurs.«

      Die Stimme klang, als würde Karin gleich wieder anfangen zu weinen.

      »Du gibst Nähkurse?«

      Emma realisierte, dass sie von ihrer Gastgeberin nicht viel mehr wusste, als dass diese ebenso leidenschaftlich gern Mosaike legte wie sie selbst. Karin nickte, Emma sah es aus dem Augenwinkel. Sie fragte noch ein bisschen weiter, und den knappen Antworten entnahm sie, dass Stefanie Schwendener im letzten September einen Kurs von Karin in Basel besucht hatte. Karin hatte ursprünglich Schneiderin gelernt, bevor sie dann über viele Weiterbildungen in der IT gelandet war. Sie wollte zurück in ihren ersten Beruf. Deshalb hatte sie begonnen, Nähkurse anzubieten. Ihr längerfristiger Wunsch war, davon leben zu können: Kurse im Winter und Frühling in Basel, wo sie wohnte, im Sommer und Herbst im Rustico bei Arzo.

      »Du bist mutig«, sagte Emma. »Beginnst einfach mit etwas Neuem. Das würde ich nie wagen.«

      Karin schwieg.

      »Wann hast du mit Stefanie das Mosaik gelegt?«, fragte Emma. »Im April, hast du vorhin gesagt, richtig?«

      »Ja.«

      »Als Stefanie im September bei dir im Nähkurs war, wollte sie da schon nach Meride? Hat sie dir von ihren Plänen erzählt?«

      Stille.

      »Karin?«

      Emma blickte kurz zu ihr hinüber. Karins Lippen zitterten.

      »Oh nein«, sagte Emma. »Hast du Stefanie auf die Idee gebracht, nach Meride zu kommen?«

      »Ich habe ihr doch nur davon erzählt.« Karins Stimme versagte.

      »Und dann hat sie im Oktober hier Ferien gemacht. Bei dir?«

      Karin schüttelte den Kopf. »Auf dem Campingplatz«, presste sie hervor, dann schluchzte sie auf. Emma legte ihr die Hand auf den Arm, so gut es ging beim Fahren.

      »Es ist nicht deine Schuld, Karin. Du hast nichts mit dem zu tun, was geschehen ist.«

      Die restlichen Kurven bis Meride weinte Karin still vor sich hin, während Emma tröstende Worte murmelte und versuchte, ihren Bus mit einer Hand zu steuern.

      Emma parkte auf dem parcheggio bei der Mehrzweckhalle von Meride, suchte Münzen für den Parkautomaten. Karin wischte die Tränen weg, schnäuzte nochmals und schlug den Vorschlag von Emma aus, bei einem Kaffee auf sie zu warten, damit sie sich erst mal ein bisschen fassen konnte.

      »Ich komme mit«, sagte sie. »Wohin gehen wir?«

      »Zur Fabrik«, sagte Emma und speicherte die Nummer des Commissario in ihrem Handy. »Aber zuerst zeig mir bitte das Haus, in dem Stefanie Schwendener gewohnt hat.«

      Rubio schien begeistert von all den Hunden, die den Parkplatz vor ihm besucht hatten. Er war kaum mehr von der kleinen Rasenfläche wegzubringen. Schließlich setzte sich Emma durch, und sie gingen die Kurve entlang zur Postautohaltestelle hoch. Karin wies stumm auf ein kleines Eckhäuschen, ein Zimmer breit, wie von Kinderhand aus schönen Steinen geschichtet, Erdgeschoss mit Tür und Fenster, im ersten Stockwerk ein zweites Fenster. Der vorgelagerte Torbogen war mit Quadern verziert, der sich dahinter erstreckende Hof mit weiteren Häusern ließ kühle Loggien erahnen. Niemand war zu sehen.

      »Später«, murmelte Emma und widerstand der Versuchung, den Hof zu betreten. »Wo geht’s da hoch?« Sie deutete auf die steile Gasse, die rechts am Torbogen vorbeiführte.

      »San Silvestro. Kirche und Friedhof«, sagte Karin.

      Sie gingen die Hauptstraße entlang, die keine Straße war, sondern eine Gasse. So breit wie eineinhalb Autos, an manchen Stellen ein bisschen breiter, sodass zwei Fahrzeuge knapp aneinander vorbeikamen. Seit Emma letzten Sommer mit ihrem Bus an einer Mauer entlanggeschrammt war, wegen eines Idioten auf der Gegenfahrbahn, der ihre Spur geschnitten hatte, hörte sie das Kreischen von Metall auf Beton, wenn sie solchen Manövern nur zusah. Aber die Frauen und Männer von Meride hatten ihre Steuer im Griff. Sie wechselten ein paar Worte von Autofenster zu Autofenster, während sich Touristinnen an Hauswände drückten und Radfahrer im Neondress auf ihre Zähler am Handgelenk sahen. Schon wieder ein Hindernis, das ihr Tagesziel beeinträchtigte. Emma, Karin und Rubio ließen das Museo dei fossili di Meride und das Gemeindehaus hinter sich. Gleich danach öffnete sich vor der Kirche San Rocco die Piazza Mastri. Ein geteerter kleiner Platz mit einem Brunnen, auf zwei Seiten von Häusern umgeben, ganz vorne von einer Mauer begrenzt, sodass man sich bequem aufstützen und auf die Häuser blicken konnte, die das Dorf gegen unten begrenzten. Dahinter neigte sich der Hang sanft weiter talwärts, üppige Gärten und Reihen von Reben wechselten sich ab. Diesen Ausblick genossen einzig die Fremden im Dorf. Zentrum und Anziehungspunkt auf der Piazza Mastri war die Bottega Bar l’Incontro, Umschlagplatz für das Neuste vom Tag und immer gut für einen schnellen caffè. Ein paar Stühle mit Tischchen gleich vor dem Eingang waren den Einheimischen vorbehalten, auf dem Platz draußen standen weitere Tische neben einer Lounge-Ecke unter Sonnenschirmen. Hier hatten Emma und Karin gestern Morgen vor der Führung in der Spaghettifabrik einen Cappuccino getrunken, bequem in die tiefen Sessel gefläzt. Jetzt, am frühen Nachmittag, saßen Straßenarbeiter beim Espresso vor dem Haus, an einem Tisch ein älteres Paar mit identischen Wanderhosen und -stöcken, beide auf ihren Handys tippend. Emma und Karin gingen weiter, Emma von Rubio gezogen, der dauernd die Straßenseite wechselte, die Nase am Boden. Sie war zu nachlässig mit dem Hund, sie wusste es. Aber warum ihm all diese aufregenden Duftnoten vorenthalten, ihn auf ihren Weg zwingen, stur geradeaus? Die Hauptstraße hieß nun Via Nottai Fossati-Oldelli, später ging sie in die Via Ercole Doninelli über. Ein paar Kinder rannten um die Wette, eines blieb bei Rubio stehen, um ihn zu streicheln, was er sich schwanzwedelnd gefallen ließ. Ab und zu ein Schatten hinter halb geschlossenen Fensterläden, der sich bewegte, sobald


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