Tessiner Verwicklungen. Sandra Hughes

Tessiner Verwicklungen - Sandra Hughes


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dann. Wie sie aufblühte, diese piccola Zücchina. Wie sie den Kopf hochtrug, als sie durch das Dorf ging. Und in der fabbrica groß redete. Über die Firmengeschichte, blabla, Familienzusammenhalt, blabla, Weizen und Maschinen, blabla. Zu allem wusste sie etwas zu sagen. Sie sprach plötzlich laut und deutlich. Einzig mit den Kindern, das machte sie gut. Mit Kindern konnte sie wirklich. Aber etwas war ihr zu Kopf gestiegen. Einmal fingerte sie hier an meinen kleinen Tierchen herum.«

      Valeria deutete auf die bunten Saurierfiguren aus Plastik, die liebevoll geordnet auf der Theke standen und sich begierigen Kinderaugen präsentierten.

      »›Was tust du da?‹, hatte ich gefragt. Da wurde die Signorina rot und hauchte: ›Ich habe sie bloß ein wenig zurechtgerückt.‹«

      Valeria klopfte mit den Knöcheln ihrer linken Faust auf die Theke.

      »›In meinem Museum gibt es nichts zum Zurechtrücken‹, habe ich gesagt. Der Zücchina war wirklich etwas zu Kopf gestiegen.«

      Francesco war es, der geil hinter seiner Pasta hervorschielte und ein erprobtes Repertoire bereithielt. Ein Lächeln, immer wieder, nicht nur zum Grüßen vor und nach einer Führung. Ein langer Blick. Ein sehr langer Blick. Ganz nah ging er an ihr vorbei, weil es in der fabbrica so eng war. Er streifte ihren Arm, ihre Hüfte. Nahm ihre Hand auf dem Weg nach draußen, ganz kurz. Er führte sie in den Trocknungsprozess von Pastateig ein, nach Feierabend. Man sah ihn die Salita San Silvestro hinaufgehen, vorbei am Haus, wo diese Zücchina wohnte. Alle wussten, dass er nach Cassina unterwegs war. Um es dort mit ihr zu treiben. In der Schutzhütte im Wald oben. Oder in der Fabrik. Im Trockenraum, zwischen Spaghettischnüren. Oder im Luxushotel, wenn es sein musste, in Serpiano drüben.

      »Und seine Frau?«, fragte Karin.

      »Alessia füllte Pasta in Tüten und lächelte freundlich«, sagte Valeria. »Bis sie nicht mehr konnte.«

      »Wie meinst du das?«

      »Ist doch klar«, sagte Valeria. »Bis sie das zerstörte, was sie kaputt machte.«

      Emma ging zum Dispenser hinüber, füllte die Becher für alle nach.

      »Dann hast du zugesehen?«

      Valeria riss die Augen auf. »Wobei?«

      »Dem Treiben von Francesco Bernasconi und Stefanie Schwendener.«

      »Wo denkst du hin! Francesco hat in all den Jahren gelernt, seine Affären geheim zu halten.«

      »All die Jahre?«, fragte Emma.

      »Aber sicher«, schnaubte Valeria, »seit der zweiten Hochzeitsnacht. Er geht weg, wenn er denkt, dass alle in Meride schlafen, und schleicht sich wieder ins Haus, bevor es hell wird. Ganz Meride weiß Bescheid.«

      »Gibt es irgendetwas, was nicht ganz Meride weiß?«

      Valeria überlegte. »Ja. Aber das hat nichts mit dem Mord zu tun.«

      »Macht nichts.«

      Valeria zögerte. »Die alte Savelli. Die Mutter von Alessia und ihren Brüdern. Warum sie sich erhängt hat, bleibt ein Geheimnis.«

      »Ein Suizid in der Familie«, sagte Emma. »Auch das noch.«

      »Es tut mir leid, cara«, sagte Valeria. »Hier gibt es nichts, was es nicht gibt.«

      Sie wurden von zwei Besucherinnen unterbrochen, die das Museum betraten. Zuvor hatte Emma erfolglos versucht, von Valeria einen Kontakt von jemandem zu erhalten, der noch mehr über die Familie Savelli wusste.

      »Findest du hier nicht«, beschied ihr Valeria. »Zwei, drei Alte vielleicht, die noch irgendetwas mitgekriegt haben. Aber die sind alle gaga. Die leben in ihrer eigenen Welt.«

      Emma und Karin gaben ihren Platz vor der Kasse frei, Rubio erhob sich verschlafen und tappte hinter Emma her zur Wand mit den Plakaten, wo die »Laboratori creativi con Stefanie Schwendener« ausgeschrieben waren. Nachdem die beiden Besucherinnen in die Ausstellungsräume hochgegangen waren, winkte Valeria sie wieder zu sich und ließ sich über Dante Savelli aus. Antonio Savellis Erstgeborener schien ihr Lieblingsthema zu sein. Der Philosoph. Der Mann, der so viel im Kopf hatte, dass er sogar mal im Fernsehen war. Alle in Meride hatten vor ihren Geräten gesessen und gestaunt, wie schick Dante plötzlich aussah. Sie konnten es kaum fassen. War das derselbe Mann, der in der fabbrica Spaghettischnüre hin und her schob? Kein leicht gebeugter Mann mehr, der in seinem Arbeitskittel durchs Dorf schlurfte, das Haarnetz noch auf dem Kopf. Nein, elegant sah er aus in diesem schönen dunkelblauen Anzug samt Hemd und Krawatte. Bestimmt hatte ihn eine Stylistin vom Fernsehen so vorteilhaft herausgeputzt. »Dr. Dante Savelli, Historiker und Philosoph« war am Rand unten im Bild eingeblendet, »Experte Schmugglerinvasion«. Wie gescheit er redete!

      »Experte Schmugglerinvasion?«, unterbrach Emma sie.

      »Ja. An unseren Grenzen hier. Wegen Mussolini und so. Menschenschmuggel. Und Reis. Und Waffen. Dante kennt die ganzen Geschichten.«

      Dante wurde nach der Fernsehsendung wie ein Held gefeiert. Täglich erhielt er Besuch in der fabbrica, wo er weiterhin Gestelle mit Spaghettischnüren in den Trockenraum schob. Eine aufdringliche aufgetakelte alte Schachtel brachte selbstgemachte Zitronenlimonade und torta di pane, ein Hobbyschmuggelforscher sein Manuskript zur Prüfung, eine Lehrerin aus Riva San Vitale schickte ihre Klasse für ein Interview hoch. Wie liebenswürdig Dante mit allen umging, wie geduldig er zuhörte und Fragen beantwortete. So nett war er. Auch wenn er ein bisschen eigensinnig wirken konnte, der Dottore.

      »Dottore Dante Savelli«, wiederholte Valeria und schüttelte den Kopf, »wer hätte je gedacht, dass er seine Familie verraten würde?«

      Emma setzte den Becher wieder ab, aus dem sie eben trinken wollte.

      »Verraten?«

      9

      Dante Savelli stand am Fenster seiner Wohnung mit Blick auf die Piazza Mastri. Nur er hatte etwas Abstand zwischen sich und die Familie bringen können, war immerhin zweihundert Meter weggezogen von dem Ort, wo er aufgewachsen war. Die Häuser seiner Geschwister duckten sich für immer im Schatten der fabbrica. Dafür hatte er nur eine Zweizimmerwohnung, im ersten Geschoss gegenüber der Bottega Bar l’Incontro. Aber das reichte für ihn. Wozu brauchte er ein ganzes Haus, das nach Tradition und Moder roch? Dante schob den Laden ganz auf. Die Bewohnerinnen und Bewohner von Meride standen in Gruppen zusammen, um die Ereignisse des Tages zu besprechen.

      »Ignoranten«, murmelte Dante.

      Links bei der Mauerbrüstung erkannte er den Commissario, das Telefon am Ohr, dem Platz den Rücken zugewandt, den Blick auf die Gärten und Rebhänge gerichtet, die sich unterhalb des Dorfes ausbreiteten. Vor der Kirche standen diese Deutschschweizerin, die den alten Stall von Albisetti gekauft hatte, und Valeria, die Schwätzerin. Sie schienen sich von einer dritten Frau mit Hund zu verabschieden, die er noch nie gesehen hatte. Dante kniff die Augen zusammen. Es war ein Labrador. Einer, wie er ihn sich als Kind gewünscht hatte. Ein schönes Tier mit weichem Fell, an das er sich hätte kuscheln können, in dem er sein Gesicht hätte wärmen können.

      »Besser als mamma!«, hatte er geschrien, bevor ihn der Hieb seines Vaters traf.

      Dante ging zum Tisch zurück, betrachtete wieder die Fotografie der jungen Frau. Er hatte das Papier vorhin reflexartig eingesteckt und aus dem Zimmer des Vaters getragen, vorbei am dösenden Beamten. So also hatte seine Mutter ausgesehen, bevor sie zu der Frau geworden war, die er als Junge kannte. Mamma. Es waren bloß fünf Buchstaben, die er aber kaum über die Lippen brachte. Diese Frau ohne Fleisch und Blut und mit Augen, die immer an ihm vorbeisahen. Felsenhart der Schoß, den er vergeblich zu erklettern versucht hatte. Eiskalt ihre Hände, die ihn von sich stießen, als er noch klein war und schwach.

      »Und jetzt«, sagte Dante, »tauchst du hier auf, nach all den Jahren. Was soll das denn, mamma

      Er griff nach der Fotografie und zerriss sie in viele kleine Stücke. Dann warf er sie in die Toilette und spülte.

      Конец


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