Tessiner Verwicklungen. Sandra Hughes

Tessiner Verwicklungen - Sandra Hughes


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versucht, sich zu befreien. Er zwang sie, mit ihm zur Fabrik zu gehen.

      »Lüg mich nicht an. Francesco ist nicht da.«

      Er hatte sie durch die Tür in den Packraum der fabbrica gestoßen, durch den Korridor zur Produktion geschoben. Papà saß dort am Boden, weiß im Gesicht, auf der Stirn eine Platzwunde. Sie wollte sich zu ihrem Vater beugen, aber Luigi zerrte sie weiter zum Kühlraum hin, riss die Tür auf, schob sie hinein.

      »Da. Schau hin.«

      Etwas Bitteres kam ihr hoch. Sie schluckte es hinunter. Luigi ließ sie los, sie konnte sich abwenden, zurück in den Produktionsraum wanken.

      »Wer tut so etwas?!«

      Luigis verzweifelter Schrei hatte in ihren Ohren gedröhnt. Sie versuchte, einen Fuß vor den anderen zu setzen, fort von diesem Kühlraum. Eine Art Krächzen ließ beide zu ihrem Vater schauen. Er war zur Seite gekippt und bewegte die Lippen, ohne dass sie verstanden, was er ihnen sagen wollte.

      »Ich rufe jetzt die Polizei«, hatte Luigi gesagt, wieder gefasst.

      Da war sie aus ihrer Starre erwacht.

      »Warte! Lass mich das machen.«

      Sie war gerannt, zurück zu sich nach Hause, direkt nebenan.

      »Signora Bernasconi?«

      Sie zuckte zusammen.

      »Ich habe Sie etwas gefragt.«

      Der Commissario sah sie an. Der Schmerz in ihrem Kopf wurde immer stärker.

      »Ich … ich kam gerade vom Joggen. Dann war da Luigi und hat sie mir gezeigt … Es … es war ein Schock.«

      »Signora Bernasconi. Warum hat ihr Bruder nicht sofort die Polizei gerufen?«

      »Ich … Keine Ahnung. Wir waren so durcheinander.«

      Sie musste wieder weinen. In ihrem Kopf hämmerte es.

      6

      Emma wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der künftige Sitzplatz von Karins Rustico lag zwar im Schatten von Hopfenbuchen und Eichen, aber heiß war es trotzdem. Sie erhob sich, streckte den schmerzenden Rücken durch. Sah sich um, wieder erstaunt darüber, dass es solch stille Orte fernab von allem noch gab, samt Zufahrt bis zum Haus. Emma war den Schildern bis »La Perfetta« gefolgt, einem Betonklotz, der sich als Schul- und Ferienzentrum erwies, das einem Gefängnis gleich auf einer Anhöhe über Arzo lag, und von da aus über einen halb verwachsenen Waldweg geholpert, im Zweifel darüber, hier je irgendeine Spur menschlichen Lebens zu finden. Aber dann kam sie, die kleine Lichtung.

      Karin hatte sie entdeckt, als sie ihren Traum vom Rustico im Tessin verwirklichen wollte. Als Ferienhaus zunächst, aber schon damals mit dem Wunsch, im Sommer und Herbst dort wohnen zu können. Wochenende für Wochenende war sie mit dem Auto auf der Suche gewesen, vor allem im Mendrisiotto, ganz im Süden des Tessin. Die horrenden Preise von Anbietern im Internet überstiegen ihre finanziellen Möglichkeiten. Aber den damals halb verfallenen Stall hatte sie erwerben können. Das war vor fünf Jahren gewesen. Nach und nach hatte Karin ihn in ein bewohnbares Häuschen umgebaut. Ohne weinüberrankte Pergola und Schiefertisch, ohne Blick in die Ferne, dafür mit Waldschatten, offener Feuerstelle und Mosaiken.

      »Du fährst in die Sonnenstube der Schweiz?«, hatte Emmas Kollege Alex gespottet, als sie letzte Woche beim Pausenkaffee saßen. »Zu den deutschen Pensionären? Kampierst zwischen ihren fetten Eigentumswohnungen und Villen?«

      Er hatte über die dreitausend Deutschen gelästert, die für immer dort lebten, in Ascona nach einem »Eis« statt nach gelato verlangten, »Tschianti« tranken und sich im Paradies breitmachten.

      »Die haben es gut«, hatte Emma gesagt. »Du wirst es dir nie leisten können, in einer Villa mit Blick auf den Lago Maggiore zu wohnen. Mit deiner Pension. Nicht mal am Schattenhang über dem Vierwaldstättersee.«

      Alex’ wütender Blick befeuerte sie.

      »Zudem gibt es im Tessin auch Deutsche, die arbeiten, als Koch oder Yogalehrer. Oder Professorin. Und: Kann man das Paradies nicht einfach teilen? Auch wenn man Alex heißt und dauernd findet, einem werde etwas weggenommen?«

      Der Kollege hatte nichts mehr gesagt. Emma musste grinsen, als sie sich an ihr Gespräch erinnerte.

      »Sonnenstube der Schweiz«, murmelte sie und schaute sich wieder auf der wilden Waldlichtung um. »So ein Blödsinn.«

      Ihr Magen knurrte. Seit dem Frühstück hatten Karin und sie pausenlos gearbeitet. Sie hatten Karins Skizze auf den Untergrund übertragen, und Emma hatte die Flächen markiert. Schwarz und weiß. Viele Variationen gab es nicht bei diesem Motiv. Sie ließen alles gut trocknen. Danach hatte Emma den Einbettungsmörtel vom Zentrum des Bildes her aufgetragen. Immer nur so viel, dass Karin die Mosaiksteine eindrücken konnte, bevor er aushärtete. Fasziniert hatte sie zugesehen, wie schnell und präzis Karin die kubischen Steinchen setzte, wie bestimmt sie anschließend das Brett auf die Fläche presste, um die Teilchen flach auszurichten. Wenn sie selbst an der Reihe war, dauerte das alles länger. Karin hatte die Mörtelflächen verkleinert und Emma zugelächelt. Sie schien sich von der Überraschung, dass Emma sich kurzfristig als Gast angekündigt hatte, erholt zu haben. Das gemeinsame Arbeiten war angenehm. Sie dienten einander zu, ohne viele Worte, wie im Workshop vor einem Jahr, als sie sich kennengelernt hatten. In der Mittagspause damals hatte Karin allein draußen auf dem Rasen gesessen, alle anderen waren gemeinsam ins Restaurant aufgebrochen. Emma hatte zwei Klappstühle aus ihrem Bus geholt, sie hatten beide Salat aus ihren Lunchboxen gegessen, sich über Mosaikkurse und die Pläne, die Karin für ihr Rustico hatte, unterhalten.

      »Komm doch vorbei«, hatte Karin gesagt. »Wenn du mal in der Gegend bist!«

      Das ließ Emma sich nicht zwei Mal sagen.

      »Non è possibile!«, hörte sie nun Karin im Haus rufen.

      Offenbar gab es einiges zu besprechen. Karins Handy hatte geklingelt, und nun war sie schon seit Längerem verschwunden. Emma ging zur Liege, die neben einem Tisch und zwei Stühlen halb im Wald stand. Sie trank Wasser, nahm sich eine Tomate aus der Schale, ließ sich auf die Liege fallen. Rubio war schon da. Er erhob sich, legte seinen warmen, schweren Kopf auf ihre Beine. Emma kraulte ihn. Er stupste sie, wenn sie aufhörte, das immer gleiche Spiel. Sie schreckten beide auf, als Karins Stimme über ihnen ertönte.

      »Stefanie wurde ermordet!«

      Emma sprang so schnell hoch, dass ihr kurz schummrig wurde.

      »Stefanie? Die Stefanie von der Führung?«

      »Ja, sie.«

      »Wer sagt das? Mit wem hast du telefoniert?«

      »Mit Valeria. Einer Bekannten aus Meride.«

      Karin unterdrückte ein Schluchzen. Emma legte ihr den Arm um die Schultern. Ihre Gedanken rasten. Stefanie Schwendener. Die junge Frau, die sie am Tag zuvor durch die Spaghettifabrik geführt hatte, ermordet?

      »Wie ungerecht«, murmelte Emma.

      Das war immer ihr erster Gedanke. Schon als Kind fand sie vieles ungerecht. Dabei hätte sie wegschauen können, wie alle anderen. Was musste es sie kümmern, wenn eine Klassenkameradin verprügelt wurde? Die war selbst schuld, hatte ihr loses Maul zu weit aufgerissen, Gift versprüht gegen die Bande von Jungs. Andererseits war sie so ein zartes blondes Wesen. War es gerecht, wenn sich vier brüllende Kerle auf sie stürzten? Nein. Also warf Emma sich dazwischen. Und was hatte sie damit zu tun, dass der Klassenbeste einer mit Brille, abstehenden Ohren und Sommersprossen war? Nichts. War es gerecht, dass niemand mit ihm sprach? Dass sich alle mit einem Schulterzucken abwandten, wenn er das Wort an sie richtete? Emma hörte ihm zu, auch dann noch, wenn sich der Pausenhof längst geleert hatte. Als Emma verkündete, dass sie später einmal Kriminalkommissarin werden wollte, um die Ungerechtigkeit aus der Welt zu schaffen, hatte ihr Vater gelacht. So auch Fräulein Huber, die Grundschullehrerin, bei der sie ihre Berufswünsche zeichnen mussten. Emma hatte sich eine Polizeimütze auf die wilden Locken gesetzt,


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