Rising Skye (Bd. 2). Lina Frisch

Rising Skye (Bd. 2) - Lina Frisch


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      Ich starre auf das kleine rote Ausrufezeichen auf dem Bildschirm vor mir und denke an die Touristin im Café, die ihren Mann nicht erreichen konnte. »Bist du sicher, dass der Ausfall nicht nur Las Almas betrifft?«, frage ich, doch Hunter schüttelt den Kopf.

      »Dann hätte ich den Fehler längst entdeckt. Nein, die Gläsernen Nationen sind komplett abgeschnitten. Es gibt keine Möglichkeiten mehr, in irgendeiner Form Kontakt aufzunehmen. Die Mobilfunkleitungen sind tot, das Internet ist aus.«

      Ich schließe die Augen und stütze die Stirn auf meine Hände. »So wollen die Kristallisierer uns aufhalten«, flüstere ich.

      Nun erst wird mir klar, was dieser Shutdown bedeutet: Unser Diktiergerät ist wertlos. Ohne Internet, ohne die Möglichkeit, jede Frau, jeden Mann und jedes Kind in den Gläsernen Nationen hören zu lassen, wie die Kristallisierer die Emanzipation zurückdrehen wollen, sind wir nichts weiter als drei machtlose Teenager in einer verlassenen Garage am Ende der Welt.

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      Ich nehme den Kaffee entgegen, den Yana mir schweigend reicht, obwohl ich noch nie welchen getrunken habe.

      »Es nennt sich Internet Kill Switch«, erklärt Hunter, während er in der Garage auf und ab läuft und dabei fast über einen Reiserucksack stolpert, den jemand achtlos auf dem Boden liegen gelassen hat. »Jeder, der sich ein bisschen für die Thematik interessiert, weiß, dass Staaten das Internet und das Mobilfunknetz stilllegen können, zum Beispiel im Fall von nationalen Krisen oder Angriffen. Das funktioniert wie mit einem Notausschalter.«

      »Und das ist legal?«, wirft Yana ein und tippt auf ihrem Handy herum.

      »Solange ein solches Gesetz existiert, ja.« Hunter lacht trocken. »Was auch immer das noch wert ist. Immerhin sprechen wir von einer Regierung, die Menschen verschwinden lässt und ihre Bürger ausspioniert.« Er setzt sich und zieht den Laptop erneut zu sich. »Sieht so aus, als müssten wir einen Weg finden, die Sperrung zu umgehen, wenn wir mehr wissen wollen«, murmelt er.

      Der Kaffee ist noch zu heiß, aber ich trinke trotzdem einen bitteren Schluck, während ich seinen langen, schlanken Fingern dabei zusehe, wie sie auf die Tastatur einhämmern. Wie lange können die Kristallisierer diesen Shutdown halten, ohne Unruhen zu provozieren? Nervös tippe ich mit den Fingerspitzen gegen meine Tasse.

      »Kannst du das bitte lassen?«, fragt Hunter angepannt. Er öffnet einen Browser – und anstelle des kleinen roten Fehlerzeichens baut sich vor unseren Augen die CCN-Seite auf.

      »Du hast es geschafft!«, rufe ich.

      Yana sieht erstaunt von ihrem Handy auf. »Wie hast du das denn gemacht?«, fragt sie anerkennend.

      Doch Hunter schüttelt den Kopf. »Das war nicht ich.«

      Yana, Hunter und ich rutschen dichter vor dem Bildschirm zusammen. Die Livestreamübertragung von CrystalClear-News funktioniert ohne jede Unterbrechung, als hätte im Internet nicht Sekunden zuvor noch gähnende Leere geherrscht.

      »Mit dem nationalen Shutdown reagierte ein Krisenstab der Regierung heute Mittag auf den größten Social-Media-Eklat in der Geschichte der Gläsernen Nationen«, sagt Regierungssprecher Edward McCarty in ein Mikrofon, das ihm vor den Toren des Weißen Hauses entgegengehalten wird. Der Sitz des Präsidenten ist dem Washingtoner Original nach der Gründung der Gläsernen Nationen täuschend echt in einem abgeriegelten Teil des Central Parks nachgebaut worden.

       »Ein Datenleck in bisher unbekanntem Ausmaß wurde zuvor vom nationalen Sicherheitsdienst detektiert. Woher der Hackerangriff stammt, ist noch unklar, aber er beweist die Unsicherheit der sozialen Netzwerke und Nachrichtendienste mit erschreckender Deutlichkeit.«

      Ein Hackerangriff, ausgerechnet jetzt? Ich schaue zu Hunter, der die Worte des Regierungssprechers mit gerunzelter Stirn aufsaugt. »Das ist ein Vorwand, oder nicht?«, wispere ich.

      Hunter nickt, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden. »Die IT-Experten des Weißen Hauses werden das Silicon Valley eigenhändig lahmgelegt haben«, murmelt er. »Selbst der Kristall braucht einen Grund für den Einsatz des Kill Switchs.«

      Wie aufs Stichwort schwenkt die Kamera von McCarty zu Chloe Cremonte. Sie trägt Weiß, wie immer, und trotz des Windes, der die Wipfel der Bäume bewegt, liegen ihre glatten Haare gleichmäßig um ihr Gesicht.

      »Wir müssen die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger um jeden Preis gewährleisten«, verkündet sie mit ihrer klaren Stimme, die kein Mikrofon benötigt. Chloe Cremonte, der Kristall, ist das perfekte Beispiel einer Rationalen, ruhig und gefasst in jeder Krise. Und obwohl ich ihr Spiel durchschaue, erwische ich mich dabei, wie ihre Worte mich in dem alten Vertrauen wiegen. »Dieses Datenleck ist ein bedauernswerter Fehler, aber ein solcher Angriff wird zukünftig unmöglich sein.«

      Chloe Cremontes glattes Lächeln verschwindet vom Bildschirm und lässt uns ohne Antworten zurück. Dass ich mein rechtes Handgelenk umklammert halte, bemerke ich erst, als Yana mir einen spöttischen Blick zuwirft.

      »Was ist, kleine Rebellin? Trauerst du um das R, das du hättest haben können? Hast du etwa doch nicht die Seiten gewechselt?«

      Ich starre auf die Adern, die durch die dünne Haut meines Handgelenks schimmern. Ein Teil von mir vermisst die Klarheit meiner früheren Welt. Rational oder emotional. Beherrscht oder impulsiv. Es gab nichts dazwischen. Es war nicht nötig, sich zu fragen, wer man wirklich ist – es war nicht nötig, sich überhaupt irgendetwas zu fragen. Ich schließe die Augen. Die Seiten gewechselt habe ich, daran besteht kein Zweifel. Aber wofür genau kämpft meine? Für eine Welt ohne ReNatura? Für eine Welt ohne Traits? Und wenn das der Fall ist, wie werden wir ohne die Buchstaben zurechtkommen, die unsere Identität ersetzt haben? Ich gebe mir einen Ruck und erwidere Yanas herausfordernden Blick.

      »Ich bin auf der Seite derjenigen, die ReNatura aufhalten wollen«, sage ich und deute auf den Verband quer über meiner Schulter. »Das hier sollte als Beweis reichen.«

      »Du musst nichts beweisen.« Hunter zieht mich an sich. »Bald sind die Traits Geschichte«, sagt er mit fester Stimme. »Dann entscheiden nur noch wir selbst, wer wir sein wollen.«

      Ich lächle, obwohl sich mein Innerstes zusammenzieht. Hunter hasst die Traits von ganzem Herzen. Für ihn sind sie eine Fessel, von der er sich nicht schnell genug befreien kann. Was würde er über mich denken, wenn er wüsste, dass mir die Traits trotz allem, was passiert ist, noch immer wie ein Rettungsring vorkommen?

      »Wenn ihr zwei Turteltauben eure Hormone nicht bald in den Griff bekommt, dann sind wir demnächst Geschichte.« Yana dreht den Laptop zu uns. »Es ist so, wie ich es mir gedacht habe«, verkündet sie düster. »Das Internet ist zwar wieder da und auch Handys funktionieren wie gehabt. Aber während des Shutdowns haben diese Schweine eine schwarze Liste erstellt.« Sie fängt meinen fragenden Blick auf. »Die Kristallisierer haben bestimmte IP-Adressen gesperrt«, erklärt sie. »Während das Internet abgeschaltet war, haben sie eine Firewall aufgebaut. Sie blockiert jede Seite, auf der die Kristallisierer unerwünschte Inhalte gefunden haben.«

      »Mit anderen Worten, untreue Inhalte«, murmele ich.

      Yana nickt. »Grob gesagt, ja. Wir haben mit CCN zwar seit der Gleichschaltung der Medien sowieso nur noch einen einzigen Nachrichtensender, und die Kristallisierer löschen kritische Artikel und Profile, seit sie an der Macht sind. Aber bisher hatte man Zugang zu ausländischen Websites. Jetzt komme ich zu denen nicht mehr durch. BBC, Al-Jazeera und sogar Youtube sind gesperrt.« Yana schaut uns an. »Sie haben endgültig ein Nachrichtenmonopol geschaffen. Ab jetzt sehen wir wohl nur noch, was wir sehen sollen.«

      Ich starre auf den Bildschirm, auf dem sich das CCN-Logo langsam um sich selbst dreht. Es war alles umsonst. Das Labor, die Flucht, das Feuer. Bei der Erinnerung an die Hitze und den beißenden Rauch in Angelas Wohnung zieht sich erneut meine Lunge zusammen.


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