Rising Skye (Bd. 2). Lina Frisch
geflohen bin: Der weiße Faltenrock, die weiße Bluse und die Kniestrümpfe. Alles gewaschen und ordentlich zusammengelegt. Nur die Jacke fehlt, wahrscheinlich war zu viel Stoff verbrannt, um noch von Nutzen zu sein. Mit spitzen Fingern schiebe ich den Stapel Wäsche zur Seite. Darunter kommt Hunters silbernes Taschenmesser zum Vorschein, das in meiner Jackentasche gesteckt hat. Ich streiche über das kühle Metall und stecke es in die Tasche meiner Jeans. Es hat mich schon zwei Mal gerettet, erst im Labyrinth und dann in der Nacht der Flucht. Vielleicht werde ich es auch noch ein drittes Mal brauchen können. Das Diktiergerät finde ich nicht, aber das ist auch kein Wunder. Hunter muss es an sich genommen haben. Aber wo ist … Mein Magen knurrt. Ich gehe in die Küche und bestreiche zwei Toasts mit Erdnussbutter und Himbeermarmelade, dann durchsuche ich die Schublade in Yanas Zimmer ein zweites Mal. Doch das Lederband mit der orangefarbenen Glasscherbe ist nicht da.
»Seltsam«, murmele ich. Wahrscheinlich hat Hunter auch die Kette mitgenommen, schließlich weiß er, wie viel sie mir bedeutet. Ich ziehe ein Top von Yana an und schlüpfe im Flur in ein Paar ihrer Sandalen. Chief sieht mich mit schief gelegtem Kopf an und winselt.
»Also gut. Aber nur, wenn du mir den Weg zu diesem Cottage zeigst, wo Hunter übernachtet!« Ich kann mir trotz meiner Sorgen ein Grinsen nicht verkneifen. »Weißt du, ich habe Leute, die mit ihren Haustieren reden, bisher immer für verrückt erklärt.« Ich greife nach der Leine, die neben der Haustür hängt, und befestige den Karabinerhaken an Chiefs Halsband. Er wedelt enthusiastisch mit dem Schwanz. »Wenigstens bekomme ich von dir Antworten, anders als von den meisten Menschen«, murmele ich und öffne die Haustür.
Auf der Main Road brummt ein Lastwagen an mir vorbei. Ich schaue auf den Zettel mit der Adresse von Yanas Großeltern, die ich aus Rekas Adressbuch abgeschrieben habe. Jetzt muss ich nur noch jemanden finden, der mir den Weg zu ihrer Straße erklärt. Während ich mich umsehe, wird mir klar, warum Dad immer darüber schimpft, dass meine Generation sich so sehr auf Smartphones verlässt – ohne die Hilfe des Internets ist mein Orientierungssinn komplett aufgeschmissen. Mangels einer besseren Alternative lasse ich mich von Chief weiterziehen. Die Sonne strahlt warm vom Himmel und es weht ein leichter Wind. Perfektes Laufwetter, denke ich sehnsüchtig. Wenn das hier ein ganz normaler Tag wäre, würde ich jetzt meine Turnschuhe anziehen und das Adrenalin genießen, das durch meine Adern fließt, wenn ich zu joggen beginne. Aber es ist kein normaler Tag. Statt Rekordzeiten beschäftigt mich die Frage, was mit meinem Land passieren wird, wenn Hunter und ich es erst einmal ins Chaos gestürzt haben. Wer wird nach Chloe Cremonte und dem Präsidenten an die Macht kommen? Welches System wird das der Traits ersetzen?
Chief zieht ruckartig an der Leine. Ich verliere das Gleichgewicht und stolpere dem Hund hinterher in eine Querstraße. »Stopp!« Doch gegen fünfzig Kilo pure Willenskraft bin ich machtlos. »Chief, halt!« Zu meiner Überraschung bleibt der große Mischlingsrüde augenblicklich stehen. »Guter Junge«, keuche ich.
Als ich meine Hand aus der Leine gewickelt habe, bemerke ich jedoch, dass er mit aufgestellten Ohren starr geradeaus blickt und leise knurrt. Ich folge seinem Blick. Nicht weit von uns entfernt stemmt eine junge Frau ärgerlich die Hände in die Hüften. Ist das etwa … Sie hat uns den Rücken zugedreht, um ihr Gegenüber anzusehen, aber diese entschiedene Haltung würde ich überall erkennen.
»Woher weißt du, dass ich hier bin?«, faucht Yana.
Reflexartig ziehe ich den Hund hinter ein paar Mülltonnen am Straßenrand und ducke mich.
»Uns entgeht nichts, das solltest du doch wissen. Es tut mir leid, was in Arizona passiert ist. Aber das ist genau der Grund, aus dem ich –«
»Wenn du gekommen bist, um mich zu bitten, bei Beth ein gutes Wort für dich einzulegen, dann hast du dich geschnitten. Ich bin froh, dass sie dich aus New York hierher versetzt hat. Dann habe ich zumindest im Hauptquartier demnächst meine Ruhe.«
Vorsichtig spähe ich hinter den Mülltonnen hervor und sehe, wie Yana die Arme verschränkt. Ihr Körper versperrt den Blick auf denjenigen, mit dem sie spricht.
»Es geht um mehr als den Ring«, sagt der Typ jetzt. »Ich weiß, dass du so bist wie ich. Du willst etwas verändern –«
»Keine Chance«, fährt sie erneut dazwischen. »Ich werde nicht alles riskieren, was ich habe.«
»Und was genau hast du? Die Position als Handlanger von Beths Handlanger?«
Yana hebt warnend die Hand. »Wage es nie wieder, meine Arbeit zu beleidigen«, zischt sie. »Hunter ist vielleicht schon länger dabei, aber ich habe in den letzten beiden Jahren mehr geleistet als er in vier!«
Der Typ lacht. »Ich weiß. Und deshalb steht mein Angebot.«
»Und meine Antwort bleibt Nein. Beth vertraut mir. Wenn du mich noch einmal fragst, werde ich dafür sorgen, dass sie dich endgültig rauswirft!« Mit diesen Worten dreht sie sich um und lässt ihn stehen.
»Also willst du einfach geduldig darauf warten, dass sie deine Leistungen irgendwann anerkennt?« Was auch immer er will – der Typ gibt nicht so schnell auf.
»Nein«, ruft Yana über die Schulter. »Ich werde mir Beths Anerkennung verdienen!«
Chief springt schwanzwedelnd auf, als Yana an unserem Versteck vorbeistürmt, doch ich halte ihn am Halsband fest und lege meine Hand sacht auf seine Schnauze. Mit klopfendem Herzen presse ich mich gegen die Mülltonnen und warte, bis Yana um die Ecke gebogen ist. Dann richte ich mich auf. Die Straße ist leer, der Typ ist verschwunden. Yanas letzter Satz hallt durch meinen Kopf. Ich werde mir Beths Anerkennung verdienen. Das kann nur eins bedeuten … So schnell ich kann, laufe ich Yana hinterher in Richtung der Main Road. Ich muss Hunter finden. Ich muss ihm sagen, dass er der Falschen vertraut … Yana verehrt meine Mutter. Und im Augenblick gibt es einen sehr einfachen Weg, sich Mums Anerkennung zu verdienen und gleichzeitig in der Leitungsriege des Rings zu landen. Ich weiche einem Pärchen aus, das mir entgegenkommt. Yana könnte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Denn obwohl sie Hunter in der Nacht unserer Ankunft versprochen hat, uns nicht zu verraten, spüre ich, dass sie mich liebend gern an der Seite meiner Mutter in ein Flugzeug steigen sehen würde. Ohne Ticket zurück.
»Skye?«
Ich beschleunige meine Schritte.
»Hey, Skye! Warum rennst du so?« Ocean winkt mir aus der Tür eines Cafés zu. Das muss der Laden sein, wo Hunter die Doughnuts geholt hat. Monas Café.
»Bloß … ein Morgenspaziergang«, rufe ich ihm zu. Doch die Ablenkung hat mich Tempo gekostet. Seufzend sehe ich Yana hinterher, die gerade um eine Ecke verschwindet. Früher hätte ich sie problemlos eingeholt, aber meine Kondition ist nach mehr als einer Woche Bettruhe nicht mehr dieselbe. Vielleicht brauche ich Yana allerdings gar nicht, um Hunter zu finden. Mein Blick wandert zurück zu Ocean, der mir winkend bedeutet, ins Café zu kommen. Ocean kann mich ebenso gut zum Cottage seiner Großeltern führen. Ich binde Chief im Schatten vor Monas Café an.
»Nur eine Sekunde, versprochen«, sage ich und schiebe ihm den Wassernapf hin, der auf dem Gehweg steht.
Ich öffne die Glastür und dränge mich an den Tischen vorbei, an denen Leute die Zeitung lesen, ein frühes Mittagessen oder ein spätes Frühstück zu sich nehmen.
»Solltest du nicht in der Schule sein?«, frage ich, als ich zu Ocean an den Tresen trete.
»Chemieklausur.« Er grinst. »Lohnt sich nicht.« Er deutet auf einen Barhocker.
»Ich kann nicht bleiben«, sage ich abwehrend. »Hör zu, Ocean, ich muss dringend mit Hunter sprechen.« Ich erwische mich dabei, wie ich nervös mit den Fingern auf den Tresen trommle. »Kannst du mir erklären, wie ich zum Cottage deiner Großeltern komme?«
Ocean nickt. »Ich bring dich gleich hin, okay? Ich warte nur noch auf meine Pancakes.« Er sieht mich an. »Ich habe über deine Freundin nachgedacht. Wenn du wirklich herausfinden willst, wo sie ist, gibt es vielleicht eine Möglichkeit.«
Ich setze mich auf