Rising Skye (Bd. 2). Lina Frisch

Rising Skye (Bd. 2) - Lina Frisch


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gesagt, dass ich ihm vertrauen kann. Jetzt werde ich sehen, ob meine Intuition mich getäuscht hat. Ich beiße mir auf die Lippe.

      »Hör zu, Ocean. Ich verspreche dir, dass ich meine Gründe habe. Sehr, sehr wichtige Gründe. Bitte geh einfach wieder nach Hause. Und bitte verrate mich nicht!«

      Ocean verschränkt die Arme. »Ich gehe, wenn ich diese Gründe kenne.«

      »Ocean –«

      »Du kannst nicht von mir verlangen, meine Familie zu belügen, ohne mir zu erklären, weshalb! Also: Was tust du hier?«

      »Ich …«, beginne ich, ohne zu wissen, wo ich anfangen soll. Wie kann ich einem Vierzehnjährigen erklären, dass die Testung kein Sommercamp ist, in dem wir unsere wahre Persönlichkeit herausfinden? Wie soll der verträumte Ocean verstehen, dass die Traits als Werkzeuge dienen, um Frauen zurück in eine Rolle zu drängen, die die Kristallisierer für unsere natürliche halten? Ich drehe mich zurück zum Computerbildschirm. Notfallcode 011. Mit klopfendem Herzen scrolle ich nach unten.

      Und da steht ihr Name. Luce Vaillant.

      »Ich versuche, ihr das Leben zu retten«, sage ich leise. Ich wende den Blick vom Bildschirm ab und sehe in die Augen des Sturms. »Reka wurde zu einem Mädchen nach Greenhill gerufen. Dieses Mädchen, Luce, muss noch heute Nacht aus dem Krankenhaus verschwinden, sonst –« Ich hole tief Luft. »… sonst bin ich verantwortlich für ihren Tod.«

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      Seid ihr befreundet?«, fragt Ocean, während ich auf das Foto auf dem Bildschirm starre.

      Ich nicke wortlos. Weißblonde Locken umrahmen Luces Wangen und bilden einen starken Kontrast zu den dunklen Schatten unter ihren Augen. Jemand hat ihr ein zweites Kissen unter den Kopf gelegt. Für einen kurzen Moment überlege ich, Hunter um Hilfe zu bitten, doch dann denke ich an Yanas Vorwurf. Luce ist meine Freundin. Sie zu retten ist meine Verantwortung.

      Ich schiebe meinen Stuhl zurück. »Wie komme ich am schnellsten zu diesem Krankenhaus?«

      Ocean stellt sich in die Tür des Arbeitszimmers und hebt beschwichtigend die Hände. »Ich weiß, wie hart sich das anhört, aber du musst den Ärzten vertrauen. Reka wird dafür sorgen, dass die Drogen aus ihrem Körper kommen, dann kann deiner Freundin geholfen werden. Vielleicht schicken sie Luce ja auch auf so eine Farm. Ich glaube, Reilly geht es gut dort«, fügt er nachdenklich hinzu.

      Reilly? Ich brauche einen Moment, doch dann fällt mir das Mädchen in Oceans Skizzenbuch wieder ein.

      »Was für eine Farm?«, frage ich.

      Ocean zuckt mit den Schultern. »Ich weiß selbst nichts Genaues. Während Reillys Testung ist dem Konsilium aufgefallen, dass sie psychische Probleme hat. Ihre Mum hat etwas von Depressionen erzählt. Auf den Farmen scheinen die betroffenen Jugendlichen Hilfe zu bekommen.«

      Und auf einmal fällt es mir wie Schuppen von den Augen. »Daliawood«, flüstere ich und denke an die Mädchen in schwarzen Overalls, die in der fünften Nacht der Testung in den Transporter verladen wurden. Ich frage mich, ob Depression auch die Erklärung war, die den Eltern von Fiona und Maxeni für das Verschwinden ihrer Töchter gegeben wurde …

      »Man sollte meinen, ich hätte was davon gemerkt«, sagt Ocean abwesend, »immerhin hat mich Reilly jeden Tag auf ihrer Vespa mit zur Schule genommen. Sie wohnt gleich gegenüber … also, wohnte. Ich habe keine Ahnung, wann sie zurückkommt.« Oceans schmale Schultern sacken in sich zusammen und am liebsten würde ich ihn in den Arm nehmen. Aber dazu bleibt uns keine Zeit.

      »Diese Vespa«, sage ich stattdessen. »Du kannst sie dir nicht zufällig ausleihen?«

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      Yana presst die Hände gegen ihre Stirn. Ich weiß, dass ihr Verstand sich ebenso sehr gegen die Fakten wehrt, die ich ihr gerade eröffnet habe, wie meiner.

      »Sie behaupten, unsere Welt wäre aus dem Gleichgewicht geraten«, versuche ich zu erklären. »Dass Straftaten, Depressionen und Krankheiten die Welt überfluten, weil wir uns von der menschlichen Natur abgewandt haben. All diese Probleme sollen verschwinden, wenn wir wieder unsere natürlichen Rollen annehmen.«

      »Männer an die Arbeit und Frauen an den Herd, oder was?«, sagt Yana kopfschüttelnd. »Ich würde dir nicht glauben, es klingt einfach zu wahnsinnig – aber den Kristallisierern traue ich mittlerweile alles zu.« Sie seufzt. »Jetzt bereue ich, dich so unter Druck gesetzt zu haben. Wie heißt es so schön? Selig sind die Unwissenden.«

      Ich beobachte meine beste Freundin. Sie streicht gedankenverloren über ihr eigenes E, das ich ihr vor zwei Jahren im Lesesaal der alten Bibliothek gestochen habe. Die groben Striche pflügen durch ihre Haut. Damals war ich noch nicht besonders gut darin, die Tätowierung zu fälschen.

      »Aber wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert.« Yana lässt die Hände sinken. »Die Leute werden ReNatura nicht einfach so hinnehmen!« Ich ziehe an meiner Zigarette. Die Argumente der Kristallisierer sind krank, doch sie wirken. Und auf alle, bei denen sie es nicht tun, wartet ein schwarzer Transporter … »Sol wusste von ReNatura. Und sie hat es doch auch nicht hingenommen!«

      Ich atme den Rauch aus. Es war schwer, Yana die volle Wahrheit über meine Mutter zu sagen. »Und wie ist das ausgegangen?«, erwidere ich mit rauer Stimme. »Ganz abgesehen von der hohen Sterblichkeitsrate unter Kristallisierungsgegnern ist nicht jeder bereit, für das Richtige einzustehen.« Meine Hände verkrampfen sich. »Sieh dir doch nur mal an, was wir schon seit Jahren protestlos geschehen lassen! Emotionale dürfen die Nationen ohne Antrag nicht verlassen, Emotionale dürfen ohne einen rationalen Bürgen kein Konto eröffnen und keine Wohnung mieten. Es fehlt nur noch der Zusatz, dass Frauen und Emotionale ein und dasselbe sind, dann geht die ReNatura-Gleichung auf! Glaub mir, das E wird Frauen so lange an ihre Grenzen stoßen lassen, bis sie bereit sind, an ihre eigene Unmündigkeit zu glauben. Und genau in diesem Moment eilen die Kristallisierer zur Rettung.«

      »Mit einem Programm, das den Frauen die Verantwortung für ihr Scheitern nimmt«, murmelt Yana nachdenklich.

      »Ganz genau.« Ich drücke die Zigarette aus und fahre mir müde durch die Haare.

      »Trotzdem.« Yana steht auf. »Damit kommen sie nicht durch. Doch nicht im verdammten Internetzeitalter, in dem das alles in Sekunden um die Welt gehen wird!«

      »Du meinst um die Welt, mit der Chloe Cremonte Beitrittsgespräche führt?«, entgegne ich nüchtern.

      »Ich habe die Schlagzeilen aus Europa gelesen«, sagt Yana. »Aber das heißt noch lange nicht, dass niemand erkennen wird, welches Spiel die Kristallisierer spielen!«

      »Genauso wie alle erkannt haben, dass die Traits bloß der erste Schritt sind?« Ich schüttle den Kopf. »Selbst Chloe Cremonte ist zu blind, um zu merken, dass ihr Ausnahmestatus sie nicht ewig schützen wird. Niemand wird aufwachen, wenn die schleichende Indoktrinierung der Kristallisierer weiter fortschreitet.«

      »Dann ist wenigstens klar, was wir zu tun haben.« Yana sieht mich auffordernd an. »Also, wo ist euer Beweis? Was genau haben wir in der Hand?«

      Ich massiere meine Schläfen. Verbrannt. Zerstört. Verloren. Asche. Das ist unser Beweis. Doch vielleicht gibt es eine Möglichkeit, die Grausamkeiten der Regierung öffentlich zu machen und gleichzeitig das Mädchen zu retten, das sich für unseren ersten Beweis geopfert hat.

      Ich blicke auf. »An diesem Punkt brauche ich deine Hilfe.«

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      Ocean beobachtet besorgt, wie ich den Motor aufbrummen lasse. Wahrscheinlich bereut er es schon jetzt, die Vespa aus dem Carport von Reillys Eltern geschoben und den nachlässig daneben hängenden Schlüssel eingesteckt zu haben. Es ist nicht seine Art, die Regeln zu brechen,


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