Rising Skye (Bd. 2). Lina Frisch
Wo ist der Autoschlüssel?«
Ich lasse vor Schreck die Packung fallen, auf die Chief sich in Sekundenschnelle stürzt. Mit klopfendem Herzen schiebe ich mich an dem Hund vorbei zur Küchentür.
»Ist alles in Ordnung?«, frage ich.
Reka, die gerade eine Jacke über ihren Schlafanzug zieht, greift sich an die Brust. »Mein Gott, Skye! Du hast mich erschreckt.« Sie drückt mir ihr Handy in die Hand, während sie ihre Schuhe zubindet. »Auf Lautsprecher«, befiehlt sie knapp.
»Ein Notfall, sechzehn Jahre und Überdosis. Wir brauchen Sie sofort auf der Intensivstation, Dr. Faray«, plärrt eine Stimme aus dem Handy.
»Zustand?«, ruft Reka.
»Das Mädchen kam in einem Regierungstransporter aus dem Landesinneren. Greenhill war das nächste Krankenhaus, aber sie ist zwei Stunden unversorgt geblieben. Kommen Sie schnell.«
Die Verbindung endet mit einem Klick, während mir auf einmal eiskalt wird. Es gibt nur einen Ort, von dem dieser Transporter kommen konnte.
Yana stürzt mit verwuschelten Haaren aus dem Wohnzimmer. Sie fischt einen Autoschlüssel aus der Tasche ihrer Jeansjacke, die an der Garderobe hängt, und hält ihn mit einem schuldbewussten Blick ihrer Mutter hin. Reka verschwindet, ohne sich zu verabschieden, während ich an Luces Festnahme und die Worte des Konsiliars denke. »Sie wird uns schon die Wahrheit erzählen. Dafür haben wir Mittel und Wege.«
Sechzehn Jahre, Überdosis. Was haben sie nur mit dir gemacht? Kraftlos sinke ich gegen die Wand und frage mich, ob ich die Antwort überhaupt wissen will. Denn wie auch immer sie lautet: Es ist meine Schuld.
Die kühle Nachtluft zieht durch die Ritzen ins Innere der Garage. Ein lang gezogenes Quietschen des Wellblechtors kündigt an, dass ich nicht länger allein bin. Yana duckt sich durch den schmalen Spalt, den sie das Tor geöffnet hat, und schließt es hinter sich.
»Du warst schnell«, stellt sie fest.
Ich lege mein Handy mit Yanas Nachricht zur Seite, auf die ich bis gerade gestarrt habe, und mache eine Bewegung mit dem Kopf in Richtung des Tors. »Das Haus hat also noch immer keinen neuen Besitzer?«
»Würde es hier sonst noch so aussehen wie früher?«, fragt Yana und deutet auf das alte Sofa, die Kaffeemaschine und den Kühlschrank, die wir vor Jahren mit vereinten Kräften in unser Geheimversteck geschleppt haben.
»Ich schätze nicht«, gebe ich zu. »Wie geht es Skye?«
»Sie war ziemlich aufgewühlt. Wie es scheint, kennt sie das Mädchen. Aber ich hoffe, dass sie trotzdem zurück ins Bett gegangen ist.«
Das hoffe ich auch. Ich weiß ganz genau, was jetzt in ihr vorgeht. Es ist nicht deine Schuld! Es ist die Schuld dieser kranken Regierung, die Sechzehnjährige foltert … Ich sehe zu Yana hinüber. Ich muss so schnell wie möglich an einen neuen Beweis für ReNatura kommen. Nur so kann ich etwas für Luce tun. Denn dass es Luce war, die so grausam verhört worden ist, daran besteht kein Zweifel.
Yana lässt sich auf das durchgesessene Plüschsofa fallen, das zwischen alten Motorradteilen und lange vergessenen Kartons fehl am Platz wirkt. Der Geruch nach Tabak und Tiefkühlpizza hat sich in den Polstern festgesetzt, als würden die verregneten Sommerabende meiner Vergangenheit darauf bestehen, nicht in Vergessenheit zu geraten.
»Die Testung soll hart sein, jeder kennt die Gerüchte. Aber Drogen, Hunter?« Yana sieht mich an. »So weit kann das Konsilium doch nicht gehen!«
»Das war kein Teil einer Aufgabe«, sage ich düster. »Das war ein Verhör.«
Für ein paar Atemzüge ist nur das Surren des alten Kühlschranks zu hören, den ich vor wenigen Minuten eingeschaltet habe, ohne damit zu rechnen, dass er noch immer funktioniert.
»Wenn du meine Hilfe willst, wirst du mir verraten müssen, weshalb ihr wirklich aus dem Zentrum geflohen seid.«
Mein Blick bleibt an Yanas Vogeltattoo hängen. Wandert zu ihrem entschlossenen Gesichtsausdruck. Es gibt niemanden, der besser dafür geeignet wäre, einen Beweis für das größte Staatsgeheimnis der Nationen zu stehlen. Ich hole tief Luft.
»Also gut.«
Ich lausche in die Dunkelheit, als würde Reka so schneller zurückkommen, um mir zu sagen, dass es nicht Luce war, die sich in diesem Transporter befand. Oder wenigstens, dass ihr Opfer sie nicht das Leben gekostet hat. Dass Elias’ Verrat ihn nicht zu einem Mörder gemacht hat. Der Wecker auf dem Nachttisch zeigt vier Uhr morgens. Es ist totenstill im Bungalow – Yana muss wieder eingeschlafen sein auf der Couch im Wohnzimmer. Ich hingegen bin hellwach.
Vielleicht ist es jemand anders. Im Zentrum sind immerhin noch über 70 weitere Mädchen. Aber nur einer von ihnen gehört das Diktiergerät, mit dem ich mich in die geheimen Labore geschlichen habe. Nur eine hat sich Elias und dem Konsiliar gestellt, damit ich es schaffe, die Beweise für ReNatura aus dem Zentrum zu bringen. Ich richte mich auf und schiebe die Decke zur Seite, bevor ich noch wahnsinnig werde. So geräuschlos wie möglich drücke ich die Klinke der Schlafzimmertür hinunter und schleiche den schmalen Flur entlang. Rekas Arbeitszimmer ist klein und hat kein Fenster. Ich setze mich auf den Drehstuhl und schalte den Computer ein. Die Anmeldeseite baut sich auf und bietet mir die Wahl zwischen Rekas privatem Account und dem des Greenhill Hospital. Meine Finger trommeln auf die Tischplatte, während ich fieberhaft überlege, woraus Rekas dienstliches Passwort bestehen könnte. Mir läuft die Zeit davon. Wenn es wirklich Luce ist, werden die Konsiliare sie zurück ins Zentrum bringen, sobald sie wieder einigermaßen stabil ist, um mit ihrem Verhör fortzufahren. Aber das kann ich nicht zulassen.
Ich durchblättere Rekas Adressbuch, schiebe Papierberge zur Seite, taste den Rand der Tischplatte ab – und bleibe an einem Klebestreifen hängen. Ich reiße ihn ab und tippe triumphierend die Zahlenfolge in das Passwortfeld.
Greenhill Hospital, Zugriff Dr. Reka Faray.
Ungeduldig fahre ich mit der Maus über die verschiedenen Ordner mit Zahlencodes, die mir nichts sagen, bis meine Augen an einem gelben Symbol hängen bleiben. Notfalldokumentation. Ich lasse den Cursor über Daten und Uhrzeiten fliegen. 03:33 Notfallcode 011, Ärztin in Bereitschaft: Dr. Faray.
Mein Zeigefinger schwebt zitternd über der Maus.
»Yana?«
Ertappt springe ich auf und stoße mit dem Knie gegen den Schreibtisch. Ocean streichelt einem aufgeregt wedelnden Chief beruhigend den Rücken.
»Du bist es«, sagt er überrascht. »Was ist passiert? Chief stand bellend vor unserer Haustür. Es ist mitten in der Nacht!«
Chief kommt auf mich zu und hinterlässt einen Sabberfleck auf meiner Schlafanzughose.
»Er muss in all der Aufregung aus der Tür gelaufen sein. Danke, dass du ihn zurückgebracht hast.«
Ocean bewegt sich nicht von der Stelle. »Danke, dass du ihn zurückgebracht hast?«, wiederholt er entgeistert. »Warum konnte er überhaupt abhauen? Was war hier los? Wo ist meine Tante und –« Er wirft einen Blick auf den Computer. »… und was tust du hier?«
»Schht!« Ich ziehe Ocean ins Arbeitszimmer und schließe leise die Tür. »Yana schläft auf der Couch.«
»Im Wohnzimmer ist niemand«, erwidert Ocean. »Da habe ich als Erstes nachgesehen. Wir sind allein.«
Ich lasse mich wieder auf Rekas Schreibtischstuhl sinken. Wohin ist Yana verschwunden? Aber diese Frage ist zweitrangig. Je weiter sie vom Bungalow entfernt ist, desto besser. Yana würde mich, ohne mit der Wimper zu zucken, an Reka verraten, wenn sie wüsste, was ich hier tue. Und Reka würde nicht lange brauchen, um die richtigen Schlüsse zu ziehen und die Romeo-und-Julia-Geschichte als das zu enttarnen, was sie ist: eine Lüge.
Ich