Rising Skye (Bd. 2). Lina Frisch
des Autos passten. Damit sie Las Almas in der Großstadt nicht vergisst, hat er immer gesagt. Schließlich reiche es manchmal nicht, die Sonne im Namen zu tragen.
Ich nicke Manuel stumm zu und nehme den Topf entgegen, während ich versuche, die Bilder von Mum in unserem kleinen Vorgarten aus meinem Kopf zu schieben.
»Reka hat mir erzählt, dass es um deine Freundin nicht gut steht«, sagt Amanda in die Stille hinein. »Das tut mir leid. Obwohl Daniels Tod jetzt schon zwei Jahre her ist, erinnert sich jeder von uns daran, wie schwer es ist, einen geliebten Menschen leiden zu sehen.«
Im Sessel neben mir versteinert Yana. Ich strecke die Hand nach ihr aus, bevor mir einfällt, dass sie es nicht leiden kann, getröstet zu werden. Verlegen zupfe ich an dem Shirt, das Reka mir geliehen hat. Es muss Daniel gehört haben. Yanas verstorbenem Vater.
»Ich bin sehr dankbar für Rekas Hilfe«, wechsle ich schnell das Thema. Dabei bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob die erfahrene Ärztin Skye überhaupt helfen kann. Am Tag nach unserer Ankunft hat Reka es mit einhundertprozentigem Sauerstoff versucht. Doch als sie Skye die Maske nach den vorgeschriebenen neunzig Minuten Beatmung wieder abnahm, blieben ihre Augen geschlossen. »Skye wird jeden Moment aufwachen, mach dir keine Sorgen«, hieß es am Morgen darauf. Schließlich führt selbst eine schwere Rauchvergiftung nicht zu langfristiger Bewusstlosigkeit – und Skye war den giftigen Gasen kaum drei Minuten lang ausgesetzt. Aber diese hoffnungsvolle Prophezeihung ist mittlerweile sieben Tage her. Sieben Tage, in denen ich Skyes Zimmer kaum verlassen habe, bis Yana mich heute Morgen überredet hat, sie endlich zum Cottage ihrer Großeltern zu begleiten. Ich blicke auf und sehe in drei besorgte Gesichter.
»Inzwischen schließt Reka eine Rauchvergiftung aus. Sie hat alle möglichen Tests durchgeführt, aber anders als bei einer Vergiftung konnten keinerlei Schadstoffrückstände in Skyes Blut nachgewiesen werden. Aus medizinischer Sicht gibt es keinen Grund dafür, dass Skye noch immer Anzeichen von Atemnot zeigt, obwohl sie ausreichend Sauerstoff bekommt, und –« Meine Stimme stockt. »Und auch keinen dafür, dass sie nicht wieder aufwacht.«
Ich stütze die Ellenbogen auf die Knie und überlege zum tausendsten Mal, was Skye in Angelas Wohnung noch passiert sein könnte. Denn wenn die Folgen des Rauchs ihr nicht das Bewusstsein rauben – was dann?
Amanda mustert mich. Ihrem Blick standzuhalten ist nicht einfach, aber ich bin an die irritierende Wirkung des hellen Kreises gewöhnt, der sich um ihre fast schwarze Iris legt. Als Kinder haben Yana und ich so getan, als sei Amanda eine Hexe. Oder eine Seherin. Letzteres erscheint mir manchmal gar nicht so unwahrscheinlich.
»Warum erlaubst du Reka nicht, deine Freundin ins Krankenhaus nach Greenhill zu bringen? Sie könnte dort weitaus besser behandelt werden.«
Ich setze mich aufrecht hin. Es ist wohl an der Zeit, Manuel und Amanda einen Teil der Wahrheit zu sagen.
»Nach Skye und mir wird gesucht«, beginne ich zögernd.
Manuels Augenbrauen heben sich überrascht. »Du bist auf der Flucht?« Das entspannte Lächeln verschwindet aus seinem Gesicht. »Was ist denn passiert? Bist du in Schwierigkeiten?«
»Wer von uns ist das nicht.« Meine Verbitterung ist nicht zu überhören.
»Du solltest eins wissen, bevor du weitersprichst.« Amandas Stimme bekommt einen warnenden Unterton. »Das Gesetz der Kristallisierer ist auch unseres. Es ist eine gute Regierung.«
Die Worte treffen mich wie ein Schlag. Das Reservat war immer neutraler Boden! Insgeheim habe ich sogar damit gerechnet, dass Amanda und Manuel Kristallisierungsgegner sind. Trotz der Mittagshitze ist mir, als würde auf einmal ein kalter Windhauch durch das Cottage ziehen.
»Und warum schließt Manuel dann so schnell, dass jemand vor einer so guten Regierung auf der Flucht ist?«, frage ich frustriert.
Amanda tut so, als hätte sie mich nicht gehört. »Unter Chloe Cremonte hat sich die Lage der Natives im ganzen Land verbessert. Die Kristallisierer sind die Ersten, die sich ernsthaft für unsere Rechte einsetzen.«
»Indem sie euch ihre Ordnung aufzwingen?« Meine Stimme wird laut. Das kann nicht wahr sein. Das Reservat sollte uns in Sicherheit bringen – sollte Skye in Sicherheit bringen!
Ich werfe Yana einen Blick zu, den sie zerknirscht erwidert. Das war es also, was sie mir sagen wollte, kurz bevor ich geklingelt habe.
»Die Gläsernen Nationen schützen die Unabhängigkeit des Reservats und lassen uns mit ihren Traits in Frieden – im Tausch gegen unser Wort, der Kristallisierung außerhalb des Reservats nicht im Wege zu stehen«, unterbricht Amanda meine Gedanken.
»Dann ist es wohl doch keine so tolle Bewegung, wenn ihr die Traits selber nicht haben wollt!«, erwidere ich wütend. »Und soweit ich weiß, gab es hier noch vor zwei Jahren einen Riesenzirkus um Yanas E!« Ich deute anklagend auf ihr Handgelenk mit dem falschen Traitmark. Yana hat mir erzählt, dass für ihre Großeltern eine Welt zusammenbrach, als sie damals als angeblich frisch Kristallisierte aus New York zu Besuch kam.
»Die Welt ist nicht so einfach, wie du sie dir machst, Hunter«, erklärt Manuel ruhig. »Uns wurde im Zuge der Anti-Rassismus-Erklärung ein Pakt angeboten. Die Kristallisierer wollen für die Fehler der Geschichte geradestehen.«
»Und wie?«
Manuel erhebt sich. Schwerfälliger als früher geht er zu einem der Regale. »Reka hat uns damals geraten zuzustimmen«, sagt er und legt mir ein Stück Papier in den Schoß.
Ich überfliege das Gerede über die großartige Gerechtigkeit der Gläsernen Nationen und die Hilfspläne zur Senkung regierungsgemachter Probleme in den Reservaten. Am letzten Satz bleibe ich hängen.
Das Land der Stämme, die dem Pakt zur Aufarbeitung historischer Schuld zustimmen, untersteht weiterhin einer eigenen Verwaltung, ist von der Ordnung der Gläsernen Nationen befreit und erhält alle oben aufgeführten Hilfen, sofern diese Verwaltung sich bereiterklärt, mit dem Justizsystem der Kristall-Administration zu kooperieren.
Ich lasse die Urkunde sinken und schließe die Augen. Mir hätte klar sein müssen, dass Chloe Cremonte die Reservate nicht ohne Grund vor der Kristallisierung verschont. Mit dem Justizsystem der Kristall-Administration kooperieren. Die Härchen auf meinen Armen stellen sich auf, als mir klar wird, wie falsch ich lag. Dies ist ein Auslieferungspakt. Manuel und Amanda müssen uns der Administration melden, wenn sie erfahren, dass wir Untreue sind! Ich betrachte ihre unversehrten Handgelenke. Niemand in Las Almas muss sein Leben von einem weißen Buchstaben bestimmen lassen. Aber dieser Frieden hat seinen Preis – und Amandas entschlossener Blick verrät mir, dass sie bereit ist, ihn zu zahlen. Übelkeit steigt in mir auf. Anstatt uns in Sicherheit zu bringen, habe ich Skye und mich geradewegs in eine Falle geführt.
Auf einmal fühle ich mich, als säße ich wieder am Testungscomputer im Zentrum und würde einem Avatar dabei zusehen, welche Entscheidungen er trifft. Rational oder emotional? Das hier ist nichts weiter als ein kompliziertes Szenario. Es gibt eine Lösung – ich muss sie bloß finden!
Yana holt tief Luft. »Wenn du ihnen nicht sagen willst, weshalb ihr gesucht werdet, dann muss ich es eben tun.«
Panisch sehe ich zu ihr hinüber. Was zur Hölle hat sie vor? Meine Gedanken rasen. Yana hat keine Ahnung von dem Diktiergerät, auch nicht von der Bombe. Aber sie weiß, dass wir aus dem Zentrum geflohen sind. Sie weiß genug, um Manuel und Amanda zu zwingen, die Ordnungswahrer zu rufen. »Yana, ich …«
»Hunter und Skye sind ein Paar«, erklärt sie gelassen. Ich schließe verdattert den Mund. »Aber Skyes Mutter ist gegen die Beziehung und macht den beiden das Leben schwer. Also sind sie abgehauen. Sie brauchen einen Unterschlupf, zumindest für eine Weile.« Der Blick aus Yanas dunklen Augen trifft meinen.
»Warum hast du das denn nicht gleich gesagt!« Erleichtert lehnt Manuel sich in seinem Sessel zurück. »Wenn das so ist, könnt ihr selbstverständlich erst einmal hierbleiben.«
»Vielen Dank, wirklich.«
Ich sehe Yana an, während ich spreche, doch ihr Lächeln verschwindet.