Rising Skye (Bd. 2). Lina Frisch

Rising Skye (Bd. 2) - Lina Frisch


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cool«, sage ich und halte Ocean einen der Ohrstöpsel hin, bevor ich auf Play drücke.

      Ocean lächelt mir zu. Dann rutscht er näher zu mir heran und öffnet das Skizzenbuch. »Daran arbeite ich im Moment«, sagt er und deutet auf eine Zeichnung. »Es ist noch nicht perfekt, aber –«

      »Es ist wunderschön!«, entfährt es mir.

      Ocean hat das Gesicht des Mädchens zwar nur mit Bleistift skizziert, aber keine Farbe hätte ihre Züge lebendiger wirken lassen können. Die sanfte Akustikmusik des MP3-Players lässt mich entspannen. Ich blättere durch die Seiten. Neben wenigen Landschaftsbildern hat Ocean immer wieder dasselbe Mädchen gezeichnet, mal mit wehenden Haaren auf einer Vespa, mal mit fröhlichem Lächeln in einer Schulcafeteria.

      »Sie heißt Reilly.«

      »Deine Freundin?«, frage ich.

      Ocean nimmt seinen Kopfhörer heraus und schüttelt den Kopf. Auf einmal wirkt er niedergeschlagen, und ich wünschte, ich könnte meine neugierige Frage zurücknehmen.

      »Zeig ihr irgendwann mal dieses Buch«, rate ich ihm, nachdem ich den MP3-Player wieder auf den Nachttisch gelegt habe. Welches Mädchen würde bei so viel Hingabe nicht gerührt sein? Aber ich spüre, dass Ocean über dieses Thema nicht weiter sprechen will. »Sag mal, funktioniert der?«, lenke ich ab und deute auf einen alten Fernseher in der Ecke gegenüber von meinem Bett.

      Ocean nickt und steht auf, um die Fernbedienung zu holen. »Die Qualität ist nicht mehr die beste«, bemerkt er.

      Auf dem eingeschalteten Programm läuft eine Serie, bei der ein künstliches Publikum im Hintergrund lacht. Der nächste Sender zeigt eine Spielshow. Ich atme tief durch. Das Nachrichtenbanner am unteren Bildschirmrand berichtet über Aktienkurse und einen Unfall auf einer Bohrinsel. Keine Fahndung nach einem falschen Testleiter und einer Verräterin. Natürlich nicht, denke ich mit einem Anflug von Häme. Schließlich kann die Regierung ihre Suche nach uns nicht begründen, ohne sich selbst zu verraten. Ocean schaltet weiter.

      »Lass das mal dran.«

      Mein Blick bleibt an dem vertrauten CCN-Logo hängen. Ich erkenne das Audimax der Cremonte-Universität, aber die Sitzreihen sind nicht mit Studierenden besetzt. Unter den schweigenden Menschen entdecke ich Mitglieder des Rats, Vertreter des Parlaments und Gründungsmitglieder der Kristallisierungspartei. Ihre Gesichter sind ernst. Über dem Rednerpult hängt ein Banner mit den Worten In Memoriam.

      »Das ist bloß eine Wiederholung«, sagt Ocean, doch ich bedeute ihm mit einem Kopfschütteln, dass ich sie gern sehen möchte.

      »Was haben wir heute für einen Tag?«, frage ich.

      »Dienstag«, erwidert Ocean. »Dienstag, den 20. Juni.«

      Also habe ich über eine Woche verpasst. Und damit auch den Jahrestag des großen Skandals.

      Eine Gänsehaut zieht sich über meine Arme, als eine schlanke Frau Ende zwanzig ans Rednerpult tritt, deren beinahe farbloses Haar akkurat auf Höhe ihres Kinns endet. Chloe Cremonte. Der Kristall. In ihrem weißen Hosenanzug sticht die Vorsitzende der Kristallisierungspartei aus der schwarzen Masse von Krawattenträgern heraus wie eine Lichtgestalt.

       »Wie Sie wissen, habe ich am 14. Juni vor fünf Jahren in diesem Hörsaal meine kleine Schwester verloren«, beginnt sie mit gesenktem Kopf. »Emma hätte in diesem Sommer ihren Abschluss gemacht. Sie wäre jetzt 22 Jahre alt.«

      Auf der Wand hinter dem Kristall erscheinen die Aufnahmen der Überwachungskameras, die ich schon so oft gesehen habe. Agenten des United States Secret Service stürmen während der Begrüßung der Erstsemester das Audimax. Sie rufen den Studierenden zu, mit erhobenen Händen den Hörsaal zu verlassen, während die Universität durchsucht werde. Die Worte »Chloe Cremonte« und »Entführung« sind zu hören. Die Jugendlichen lachen, halten die ganze Aktion für einen Scherz der älteren Semester. Niemand befolgt die Anweisungen. Dann fallen Schüsse. Hier stoppt die Aufnahme normalerweise. Ich runzle die Stirn, als das Video nun jedoch weiterläuft und wir sehen, wie die Jugendlichen verzweifelt zu den Ausgängen rennen. Dad und ich haben uns die Übertragung der Gedenkfeier jedes Jahr angesehen. Aber noch nie zuvor wurden diese Aufnahmen eingespielt! Ich zucke zusammen, als ein Mädchen von Kugeln durchlöchert zu Boden fällt. Dürfen solche Bilder überhaupt öffentlich gezeigt werden? Ich wende den Blick ab und sehe erst wieder zum Fernseher, als die Schreie und Schüsse verstummt sind – nur, um geradewegs auf das Resultat des Massakers zu schauen. 49 weiße Leichensäcke, genau dort aufgereiht, wo Chloe Cremonte jetzt steht, fünf Jahre danach, und das Standbild auf der Wand hinter dem Rednerpult mit unlesbarem Gesichtsausdruck betrachtet. Nach ein paar Sekunden respektvoller Stille winkt sie einen Mann in Uniform nach vorn. Das Licht der Deckenlampen spiegelt sich auf seiner Glatze, als er den Angehörigen der Opfer sein Beileid ausspricht und die Überlebenden der Schießerei um Verzeihung bittet.

      »Ministerin Jessica Cremonte gab uns persönlich die Anweisung, ihre Tochter Chloe mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln aus den Händen eines Entführers zu befreien. Erst später erfuhren wir, dass es sich bei dieser Entführung um eine grausame Täuschung handelte, mit der ein Journalist der New York Times versuchte, politische Daten zu erpressen. Natürlich entschuldigt nichts den Tod Ihrer Kinder und Kommilitonen –« Die Stimme des Agenten versagt, doch der Kristall scheint damit gerechnet zu haben.

      »Es gibt nur einen Schuldigen«, übernimmt Chloe Cremonte mit kraftvoller Stimme. »Aber das sind nicht Agent Roy und sein Team, die einen Befehl umsetzen mussten. Es ist auch nicht meine Mutter, die geblendet von Angst um ihr Kind diesen Befehl gab. Schuld ist ein System, das versagt hat, seine Bürger zu schützen!« Applaus brandet auf. Ich höre kaum zu, als Chloe Cremonte fortfährt: »Der große Skandal brachte mir die Idee zur Kristallisierung unseres Landes. Am 14. Juni vor fünf Jahren haben wir alle deutlicher denn je gesehen, was passiert, wenn die Führung einer Nation in den Händen emotionaler Menschen liegt. Wir haben aus dem Geschehenen gelernt und uns unter dem Wahlspruch Klarheit durch Traits eine Zukunft geschaffen. Wir sind eins geworden, eine Symbiose aus Rationalen und Emotionalen, Führern und Geführten, Denkern und Machern. Und obwohl Emma und die 48 anderen jungen Opfer des Skandals uns für immer genommen wurden, können und müssen wir uns damit trösten, dass sie nicht umsonst gestorben sind.«

      Die Dokumentation des Grauens endet damit, dass der Kristall weiße Rosen an die Hinterbliebenen der Opfer verteilt. Ein schaler Geschmack breitet sich in meinem Mund aus, als mir klar wird, welchem Zweck die bisher zurückgehaltenen Aufnahmen dienen. Das sterbende Mädchen und die Leichensäcke sollen uns zeigen, wie wichtig die Traits sind. Die brutalen Bilder sollen jeden Zweifel an der Kristallisierung ausrotten.

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      Dieses Mal ist es stockdunkel, als ich aufwache. Der Stuhl neben meinem Kopfende ist leer. Ocean muss nach Hause gegangen sein, als Reka von der Arbeit zurückgekehrt ist. Wann bin ich eingeschlafen? Ich knipse die Nachttischlampe an. Dort liegt noch der MP3-Player, Ocean hat ihn wohl vergessen. Mit den Kopfhörern und sanfter Akustikmusik im Ohr tappe ich in die dunkle Küche. Im Regal über der Spüle finde ich Gläser, fülle eins davon mit Wasser und trinke es in großen Schlucken leer. Auf der Anrichte steht ein abgedeckter Teller mit meinem Namen auf einem Klebestreifen. Die Überreste eines Abendessens, das ich verschlafen haben muss. Wenigstens bin ich so gefährlichen Fragen entkommen, denke ich und setze mich an den Tisch. Oceans Erzählungen zufolge haben Hunter und seine Eltern zusammen mit Yanas Familie jeden Sommer hier verbracht, bevor die Farays im Jahr nach dem großen Skandal ganz zurück nach Las Almas zogen. Hunter ist für Manuel und Amanda wie ein zweiter Enkel. Würden sie ihn wirklich der Administration melden? Ich drehe kalte Spaghetti auf eine Gabel, als mich eine streichende Bewegung an meinem Bein zusammenfahren lässt.

      »Du bist es«, flüstere ich erleichtert. Chief wedelt mit dem Schwanz und setzt sich erwartungsvoll vor meine Füße. Ich habe keine Ahnung, was Ocean mit scheu gemeint hat. »Dein Frauchen würde das jetzt sicher nicht gut finden«, murmele ich, nehme die Kopfhörer heraus und gehe zum Kühlschrank. Chief verschlingt


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