Rising Skye (Bd. 2). Lina Frisch
bringen.
Ich strecke die Hand nach ihm aus. »Hör auf, dir selbst Vorwürfe zu machen!« Es kostet mich Kraft zu sprechen. »Im Zentrum hattest du die Wahl. Und du hast dich entschieden, das Richtige zu tun. Im Gegensatz zu ihr.«
Ich schließe die Augen, nur ganz kurz. Als ich sie wieder öffne, kniet Hunter neben meinem Bett. Er seufzt, als würde ihm das, was er mir jetzt sagen will, nicht leicht über die Lippen kommen. »Beth hat dich damals verloren und tut seitdem alles, um dich wiederzubekommen. Sie liebt dich, Skye. Wenn es eine Entschuldigung für ihre Entscheidungen gibt, dann, dass sie jede einzelne aus Liebe getroffen hat.« Ich beobachte, wie sich die Muskeln seines Kiefers verkrampfen. »Ich hatte Angst, dass du schlecht von mir denkst, wenn du erfährst, was ich getan habe. Deswegen habe ich dir nichts vom Ring erzählt. Aber vielleicht wollte ich dir auch einfach nicht zeigen, wie sehr deine Mutter dich liebt.« Seine grünen Augen schimmern, als er mich endlich ansieht. »Wenn du deine Meinung änderst, wenn du zu ihr willst, dann bringe ich dich nach New York.«
»Nein«, sage ich leise, aber bestimmt. Hunter öffnet den Mund, doch ich lege meine Hand an seine Wange und sehe ihm fest in die Augen. »Mum hat einen Jungen, der gerade seine Mutter verloren hatte, benutzt. Sie hat Menschenleben für meine Flucht riskiert. Liebe ist keine Entschuldigung für eine solche Grausamkeit.« Meine Augenlider werden schwer. »Am wichtigsten ist jetzt«, bringe ich heraus, »dass wir ReNatura so schnell wie möglich veröffentlichen. Bevor Mum uns in die Quere kommt oder die Kristallisierer uns aufhalten können.« Schatten legen sich über Hunters Blick. »Wir haben das Diktiergerät«, mache ich ihm Mut. »Damit sind wir beinahe unbesiegbar.« Ich lächle ihn an. Vielleicht hat das alles auch etwas Gutes, denke ich noch, bevor mich die Erschöpfung zurück in einen traumlosen Schlaf zieht. Endlich steht nichts mehr zwischen uns.
Die Bohlen der Veranda knirschen, als ich meinen Fuß auf ihr altes Holz setze. Mit gemischten Gefühlen drücke ich die kupferfarbene Klingel. Es war nicht fair, damals einfach so von der Bildfläche zu verschwinden.
Neben mir holt Yana tief Luft. »Vielleicht solltest du noch wissen –«
Doch bevor sie ihren Satz beenden kann, öffnet sich die Tür quietschend und ein schlanker Mann tritt heraus. Sein Haar ist grau und auf den Knien seiner abgetragenen Jeans kleben Erdflecken. Manuel! Erinnerungen an die Sommer meiner Kindheit durchströmen mich. Yanas Großvater hat uns Hütten im Garten bauen und so lange fernsehen lassen, wie wir wollten, wenn unsere Eltern abends gemeinsam nach Greenhill gefahren sind, um auszugehen. Jedes Mal, wenn wir am Ende des Sommers zurück nach New York aufbrachen, hat Manuel uns dann versprechen lassen, dass wir im nächsten Jahr zurückkehren. Und das haben wir getan – bis ein Sommmer alles verändert hat.
»Hunter!« Manuels Lippen verziehen sich zu einem breiten Lächeln, das einen goldenen Eckzahn aufblitzen lässt. »Willkommen zu Hause, Junge.«
Seine dunklen Augen glänzen, als er zur Seite tritt und uns ins Haus winkt. Er deutet auf die Korbsessel, die im Wohnzimmer verteilt stehen. Gewebte Teppiche in allen möglichen Farben bedecken den Holzboden, an den Wänden hängen Strichzeichnungen der reichen Natur des Reservats. Alles sieht noch genauso aus wie vor fünf Jahren, als ich das Cottage zum letzten Mal betreten habe.
Eine prankenartige Hand legt sich auf meine Schulter. »Erst kommt meine Aiyana zurück aus der großen Stadt und dann du. Was für ein schöner Beginn des Sommers.«
Die Wärme in Manuels Blick beschämt mich, schließlich bin ich nicht seinetwegen zurückgekommen.
»Eistee? Wasser?«
»Wasser, bitte«, sage ich und setze mich zögernd in einen der Sessel, die ich als Kind zum Klettern benutzt habe. Der Boden ist Lava. Das war mein Lieblingsspiel. Die Erinnerung daran, wie Mum mich schimpfend von Möbeln herunterzerrt, legt sich wie ein Granitblock auf meine Brust.
Manuel kommt zurück aus der Küche, ein Tablett mit drei Gläsern in der Hand. Ich gebe mein Bestes, um sein Lächeln zu erwidern.
»Danke, Grandpa«, sagt Yana in dem warmen Ton, mit dem ich sie nur hier in Las Almas sprechen höre.
»Es ist so lange her.« Manuel lässt sich mit einem Ächzen in einen der Sessel sinken. »Ich hoffe, deiner Mutter geht es mittlerweile besser? Was sie schrieb, hat mich damals wirklich überrascht. Reka war geradezu schockiert! Niemand von uns hätte geglaubt, dass dein Vater euch so etwas antun könnte … Matteo und Sol waren doch immer ein glückliches Paar. Selbst als ihr im Sommer des großen Skandals ohne deinen Vater herkamt, habe ich mir nichts dabei gedacht.«
Ich senke den Blick. Wenigstens habe ich in dem Brief nicht gelogen, den ich mit Mums gefälschter Unterschrift nach Las Almas geschickt habe, um zu erklären, warum wir nicht mehr herkommen würden. Dad hat uns tatsächlich verlassen. Und Mum war wirklich am Boden zerstört. Ausgelassen habe ich einzig und allein das winzige Detail, dass Mum fast genau ein Jahr, nachdem mein Vater abgehauen ist, ermordet wurde. Dieses Täuschungsmanöver ist mir nicht leichtgefallen. Aber es war wichtig, Reka, Manuel und den anderen hier einen Grund dafür zu liefern, warum Mum in diesen Ferien nicht auftauchen würde und auch nicht in den nächsten. Es war wichtig, dass sie trotzdem glaubten, es ginge uns gut – denn sonst hätten sie versucht, mich zu sich zu holen. Sie hätten mir die Familie ersetzen wollen, die ich verloren hatte. Aber diese Option gab es für Beth nicht, denn ich hatte eine Schuld zu begleichen.
»Er hat sich also endlich hergetraut!«
Ich blicke auf und sehe direkt in Amandas wache Augen, denen nie etwas entgeht. Ich lächle schwach, stehe auf und werde in eine feste Umarmung gezogen.
»Ich habe schon gedacht, Manuel und Reka wollten mir einen Bären aufbinden. Aber du bist tatsächlich hier!« Sie drückt mich zurück in den Sessel und setzt sich neben ihren Mann. »Erzähl, wie geht es Sol?«
»Sie … hat eine schwere Zeit durchgemacht«, sage ich. »Nachdem mein Vater uns verlassen hat, hat Mum den Kontakt zu vielen gemeinsamen Freunden abgebrochen. Aber sie vermisst Las Almas.«
Ich bin noch immer gut in dem alten Spiel, bloß spiele ich nun die Variante für Erwachsene: Die Wahrheit ist Lava.
Manuel nickt. In den Furchen seines von der Sonne gegerbten Gesichts steht so viel Mitgefühl, dass ich den Blick wieder abwenden muss.
»Wie geht es Sol?«, fragt Amanda. »Ich suche im Abspann von jedem CCN-Bericht ihren Namen. Deren Nachrichtenredaktion hat sie doch übernommen, als die Times damals geschlossen wurde, oder nicht?«
»Nein. Sie … sie arbeitet als freie Journalistin. Unter einem Pseudonym.«
Amanda nickt verständnisvoll, dabei habe ich in einem Satz gleich mehrmals gelogen. Als ob es in den Gläsernen Nationen noch freie Journalisten gäbe …
»Eine Schande, dass man sie nach der Neudefinierung der Medien nicht wieder eingestellt hat«, schimpft Manuel. »Der große Skandal war doch nicht Sols Schuld!«
»Nun, immerhin war sie die Chefredakteurin der Zeitung, deren Reporter das Land ins Chaos gestürzt hat«, erwidert Amanda. »Nichts gegen deine Mutter, Hunter. Sie ist unfassbar talentiert. Aber welchen Sinn hätte eine Neudefinierung mit altem Personal gehabt?«
Neudefinierung. Yanas Großeltern reden, als wüssten sie nicht, was damals wirklich passiert ist, als alle Nachrichtenstellen geschlossen und durch CrystalClear News ersetzt wurden. Der große Skandal im Jahr zuvor, bei dem ein Journalist der Times versucht hatte, die damalige Regierung zu erpressen, war der perfekte Vorwand.
»Gleichschaltung trifft es wohl eher«, rutscht es mir heraus.
Manuel räuspert sich. Eine Weile herrscht Schweigen. Dann erhebt er sich, geht zur Terrassentür und kommt wenig später mit einem Topf zurück, in dem eine Sonnenblume wächst. »Bring Sol die hier mit, wenn du zurückfährst. Sie arbeitet doch noch immer so gern im Garten?«