Wie die Schwalben fliegen sie aus. Ursula Lüfter
andere vor uns da, die sich auch besser auskannten. Aber bis zum Abend hatten wir dann doch den Eimer voll. Beim Heimgehen tat uns dann der Rücken weh, und vom vielen Schütteln war der ganze Kübel voll Saft. Am nächsten Tag hat die Mutter die Himbeeren verkauft. Es war für sie nicht leicht, sie hat fast betteln müssen, die Himbeeren loszuwerden.“
Kinderarbeit am Hof war eine Selbstverständlichkeit
Anna Tschurtschenthaler, als 10-Jährige im Dienst in Sexten, hier mit der Bäuerin, 1941
„Viel gelernt haben wir nicht“ – Schulerfahrungen
Für Spiele blieb den Kindern bei der Fülle an Arbeiten, die man ihnen zuwies, wenig Zeit; da war die Schule oft eine Erholung für die Kinder. Der lange Schulweg verschaffte den Kindern Freiräume, in denen die Aufsicht der Erwachsenen wegfiel.
In der bäuerlichen Welt, in der vor allem die Arbeit auf dem Hof zählte, nahm die Schule jedoch keinen besonderen Stellenwert ein. So schickte man die Kinder im Herbst erst zur Schule, wenn die Ernte abgeschlossen war, und als im Frühjahr erneut die Arbeiten auf dem Feld losgingen, behielt man sie zu Hause. Daran änderte sich auch wenig, als der italienische Staat Geldstrafen für unentschuldigtes Fernbleiben vorschrieb; der Betrag war geringfügig und wurde selten eingefordert. Die Kinder besuchten auch nicht immer die vorgesehenen acht Pflichtschuljahre. Hedwig Platter aus Tanas verließ die Schule nach sieben Jahren: „Ich war immer in Dienst bei den verschiedenen Bauern. Mit zwölf Jahren bin ich auf den Schlanderser Sonnenberg gekommen und hab dort gearbeitet. Ich bin dort noch einen Winter in die Schule gegangen, und dann hat der Bauer ein Gesuch gemacht, dass ich das letzte Jahr nicht mehr zu gehen brauche. Ich hätte bis 14 in die Schule gehen müssen. Aber da hat es geheißen, jetzt kann sie schon daheim bleiben.“ Auch Sofia Höchenberger sollte die Schule früher verlassen: „Die Mutter wollte ein Gesuch machen, damit ich früher aus der Schule gehen konnte.“ Johanna Wallnöfer, deren Schwestern bereits mit acht, neun Jahren in den Dienst zu Bauern mussten, weiß von einer ihrer Schwestern, dass sie das Schreiben nie richtig erlernt hat: „Die Frieda hat eine schlechte Schulbildung gehabt, deshalb hat sie auch nie geschrieben.“ Anna Frank verließ die Schule, sobald sie vierzehn war, das Schuljahr war noch nicht zu Ende.
Bei Regina Walcher hinterließ die Schulzeit bittere Erinnerungen: „Ich hatte ja nur die Volksschule besucht, und daheim wurde uns bei den Aufgaben auch nie geholfen, denn die Mutter hatte keine Zeit, und der Vater hatte schon gar kein Interesse. Man war mit uns Kindern in der Schule sehr streng, denn wir konnten der Lehrerin keine Butterknollen oder Eier bringen. Da ging es oft recht ungerecht her, und wir konnten ja nichts dafür, dass wir arm waren.“
Die Geringschätzung der Schule verstärkte sich noch durch deren Italianisierung ab Mitte der 20er Jahre49. Anna Frank, Jahrgang 1916: „Ich habe das erste Schuljahr noch Italienisch50 und Deutsch gehabt, dann nur mehr Italienisch. Ich war auch in der Katakombenschule. Da war eine Lehrerin, bei ihr zu Hause sind wir zusammengekommen. Deren Mutter hatte Angst vor der Polizei, und sie hat immer geschimpft. Als Kind hat man das nicht so verstanden, die Mutter hat sich zwar immer aufgeregt, aber wir haben das nicht so ernst genommen und keine Angst gehabt. Die Buben haben die italienischen Lehrerinnen ausgespottet. Man hat auch nicht besonders viel gelernt. Es war ein Italienerhass da, und das haben die Kinder gespürt, und so war kein Interesse da zu lernen. In der Katakombenschule hat man auch nicht richtig gelernt. Da wurde vor allem vom Deutschtum gesprochen.“ Auch bei Adele Pamer aus Gossensaß machten die Eltern aus ihrer Abneigung kein Hehl: „Ich bin ja noch deutsche Schule gegangen. Da hat es dann schon eine Stunde Italienisch gegeben, aber da hat man nicht viel gelernt. Und daheim hat es auch geheißen, das walsche Glump muss man nicht lernen. Die Italiener hat man nicht gemocht.“ Die Kinder selbst konnten sich nur schwerlich der Indoktrinierung mit faschistischen Ideologien durch die italienischen Lehrer entziehen.
Der Alltag in der Schule hatte jedoch auch seine positiven Seiten. Die Kinder schätzten die Aufmerksamkeit und die menschliche Wärme von Seiten einiger italienischer Lehrer/innen. Vor allem für Kinder aus ärmeren Familien waren die Geschenke, die sie zu bestimmten Anlässen erhielten, von besonderer Bedeutung. Hedwig Platter: „Ich bin immer in die italienische Schule gegangen. Eine Lehrerin war besonders gut. Die war aus Trient und hat die Kinder so gut verstanden. Die ist dann aber nicht mehr gekommen. Ich bin immer gerne in die Schule gegangen, habe auch recht gut gelernt. Aber ich habe schon auch eingesehen, dass die Mutter meinen Verdienst braucht. Einmal habe ich auch einen Preis bekommen in der Schule, weil ich gut gelernt habe, und die Lehrerin hat zu mir gesagt, dass ich das Italienische nie vergessen werde.“ Maria Ortler aus Prad erzählt nicht ohne Stolz, dass sie sehr gut in der Schule war und dass eine Lehrerin sie besonders förderte. Bei einem Wettbewerb schrieb sie den besten Aufsatz und durfte als Preis an einer Fahrt nach Rom teilnehmen.51
Die Lehrer/innen waren über den Unterricht hinaus mit der Aufgabe betraut, Buben und Mädchen in die nach Alter und Geschlecht unterteilten faschistischen Jugendorganisationen der „Opera Nazionale Balilla“ auch gegen den Widerstand der Eltern einzubinden. Die Mitgliedschaft brachte einige Vorteile: Gratisschulbücher, Schulausspeisung, Geschenke, Kleidung, verschiedenste Freizeitangebote und die Möglichkeit der Teilnahme an Feriencamps am Meer und am Berg. Viele Mädchen fanden Gefallen an der Uniform, bestehend aus einer weißen Bluse und einem schwarzen Rock. Über die materiellen Begünstigungen hinaus war die faschistische Jugendpolitik auch durch ihren innovativen Charakter attraktiv. „In diesen Organisationen boten sich offenbar außergewöhnliche, und für Mädchen zum ersten Mal, ‚Emanzipationsmöglichkeiten‘ außerhalb von Familie und Kirche an.“52
Die vor 1920 geborenen Frauen genossen zum Teil keinen oder nur in den letzten Schuljahren ausschließlich italienischen Unterricht. Sie erwähnen auch keine Mitgliedschaft bei einer faschistischen Organisation. Zwar gab es die Gruppe der „Giovani italiane“ für die 14- bis 18-Jährigen, doch scheint die Balilla nach dem Schulaustritt keine besondere Bedeutung und auch keinen Platz mehr im Arbeitsalltag gehabt zu haben. In Laas, so erzählt Berta Tappeiner, Jahrgang 1911, wurden für interessierte Jugendliche und Erwachsene in Abendkursen Italienischunterricht angeboten: „Da war ein Lehrer aus Trient. Da konnten die, die ausgeschult waren oder Interesse hatten, Italienisch lernen. Der Lehrer konnte auch Deutsch, deshalb ist es leichter gegangen. Wir haben auch Interesse gehabt.“
Katholische Mädchenerziehung
In Südtirol machte sich in der Zwischenkriegszeit eine erste Entkirchlichung des Alltags bemerkbar. Vor allem in den Städten nahm die Teilnahme an Gottesdiensten ab, die Jugendlichen nahmen die von den faschistischen Organisationen angebotenen Freizeitangebote wahr, sportliche Betätigungen wurden immer beliebter. Touristen und zugezogene Italiener bestärkten die Jugend in ihrer Suche nach einer freieren Lebensgestaltung. Die Kirche beharrte auf einem sehr restriktiven Sittenkodex und verurteilte jede Lockerung des Lebenswandels scharf. Um wieder mehr Durchschlagskraft zu gewinnen, belebte und organisierte sie kirchliche Verbände und Vereine neu und passte sie den Bedürfnissen der Zeit an, die Laienbewegungen und kirchlichen Verbände schlossen sich in der Katholischen Aktion53 zusammen. In Hirtenbriefen forderten die jeweiligen Brixner Bischöfe die Bevölkerung der Diözese zur religiösen Lebensweise und zur Einhaltung katholischer Glaubens- und Verhaltensregeln auf. Das 1927 gegründete Katholische Sonntagsblatt entwickelte sich neben anderen katholischen Zeitschriften zum wichtigsten Sprachrohr der Kirche. Indirekt setzte die Kirche damit auch Maßnahmen zur Erhaltung des Deutschtums.
Die wichtigste Zielgruppe moralischer Zurechtweisungen und Vorgaben der Kirche waren die Mädchen und Frauen. Hauptkritikpunkt war neben der modischen Kleidung der Umgang mit dem männlichen Geschlecht. „Verfehlungen“, wie voreheliche sexuelle Kontakte oder uneheliche