Wie die Schwalben fliegen sie aus. Ursula Lüfter
von der Mutter, im Haus war, hat er Matratzen für uns gemacht.“
„Das war ein Jubel“, erinnert sich Regina Walcher aus Eppan an den Anschluss an das Stromnetz. „Das elektrische Licht wurde am 21. Februar 1921 gemacht. Da brauchte es keine Petroleumlampe mehr mit dem Zylinder, den wir Kinder oft kaputt gemacht haben. Das war ein armseliges Licht.“ Auch wenn die Elektrifizierung der Haushalte bald nach dem Ende des Ersten Weltkrieges einsetzte, konnten es sich kaum jemand leisten, mit Strom betriebene Geräte anzuschaffen. Ein Radiogerät besaßen nur die wenigsten Familien.34 In den Häusern, wo es eines gab, versammelte sich die gesamte Nachbarschaft, um gemeinsam Sendungen anzuhören. Eine noch größere Rarität war das Grammophon, und über Telefon und Telegraphen verfügten nur die großen Gasthöfe.
Kleider stellten die Frauen noch vielfach in Handarbeit her, und sie waren keineswegs im Überfluss vorhanden. Während der Woche trugen Männer und Frauen Arbeitskleidung, die oft abgetragen und geflickt war. Dazu gehörte immer eine Schürze. Es war die Regel, dass kleinere Kinder die Kleidung der größeren auftrugen. Rebekka Rungg, nach dem frühen Tod der Mutter von einer Schwester des Vaters in Obhut genommen, bemängelt: „Die Tante hat auch nicht verstanden, dass sie uns etwas zum Anziehen besorgen sollte. Wir haben von der Mutter viele Kleider gehabt, dann hat sie die hergenommen und daraus Gewänder für uns machen lassen. Aber sonst hat es nichts gegeben.“ Kinder aus armen Familien wie Josefa Brunner aus Prad gingen noch barfuß zur Schule. Regina Walcher zum damals üblichen Schuhwerk: „Mit den Schuhen war es ganz schlimm. Statt der Schuhe hatten wir Holzknospen, die Sohle war aus Holz, der obere Teil aus ganz hartem Leder.“
Die traditionelle Tracht der jeweiligen Gegend hatte in diesen Jahren hohen Identitätswert für die deutsche Volksgruppe. Man zog sie zu festlichen Anlässen an. Mädchen und Frauen trugen die Haare zu Zöpfen geflochten und hochgesteckt. Modische Kleidung wurde vor allem von der älteren Generation und von der Kirche heftig abgelehnt, kurze Röcke, lackierte Fingernägel und Bubikopf galten als unanständig. In einer Anzeige der Dolomiten vom 18. März 1927 wurde ein verlässliches Hausmädchen für einen Südtiroler Haushalt ausdrücklich mit dem Hinweis „Bubikopf ausgeschlossen“ gesucht. Die Ablehnung ging so weit, dass Fürstbischof Johannes von Brixen in einem 1926 im Diözesanblatt veröffentlichten Hirtenbrief die Priester in den Pfarreien aufforderte, „bei Spendung der heiligen Kommunion jene Mädchen und Frauen zu übergehen, (…), deren Kleid nicht bis zur Halsgrube, deren Ärmel nicht über den Ellenbogen und deren Rock nicht über das Knie hinunter reichen“.35 Die neue Mode wurde auch als Mode der „Fremden“ und nicht zuletzt als italienisch identifiziert, weil es vor allem zugezogene Italienerinnen waren, die Modebewusstsein an den Tag legten. Ein Grund mehr, sich davon zu distanzieren.36 Auf diesen Umstand wies auch der oben zitierte Hirtenbrief hin: „Die heutige Frauenmode ist nicht auf unserem Boden gewachsen, die ‚Fremden‘ haben sie vielfach ins Land gebracht.“ Unter ‚Fremde‘ verstand man neben den zugezogenen Italienern auch die Feriengäste.
Die schwere körperliche Arbeit erforderte regelmäßige Mahlzeiten: Frühstück, Halbmittag, Mittag, Marende und Nachtmahl. Es war schwere Kost, die sich vor allem aus dem zusammensetzte, was selbst produziert wurde und in der jeweiligen Gegend gedieh: Milch und Milchprodukte, Eier, Mehl, Kartoffeln, Polenta, Speck und anderes Geselchtes sowie Gemüse und Obst aus eigenem Anbau. Geschlachtet wurde ein-, zweimal im Jahr, sodass nicht regelmäßig Fleisch auf den Tisch kam. Meist geschah das nur zu besonderen Anlässen und an Sonn- und Feiertagen. Zucker, Bohnenkaffee, Reis und andere Lebens- und Genussmittel, die man nicht selbst hatte, wurden dazugekauft, entsprechend sparsam ging man damit um. Anna Frank aus Schluderns genoss es, als sie in der Schweiz arbeitete, an Zucker und Süßspeisen zu kommen, denn „bei uns hat es nie so etwas gegeben“. Ob die vorhandenen Lebensmittel ausreichten, alle hungrigen Mäuler am Tisch zu stopfen, hing von der Größe der Hofstelle und der Anzahl der Familienmitglieder ab. Oft lebten auch Großeltern, kränkliche oder nicht arbeitsfähige Geschwister des Bauern oder der Bäuerin im Haus, die mitversorgt werden mussten.
Edith Genta beschreibt, was in ihrer Familie auf den Tisch kam: „In der Früh hat man Kaffee getrunken und Brot gegessen; wenn Polenta vom Vortag übrig geblieben ist, hat die Mutter diesen in Scheiben geschnitten und mit Butter geröstet, das war ganz gut, ein frischer Polenta war nie so gut. Man hat ihn auch in den Kaffee getan. Oder ‚Schmorrn‘ aus Omelettenteig, das hat man auch in der Früh oder auch zu Mittag gegessen. Wir Kinder haben immer Zucker draufgetan, die Großen haben zu Mittag etwas Saures, Salat oder Bohnen dazu gegessen. Mit dem Brot hat man immer gespart, weil man nicht viel Geld gehabt hat. Zur Jause hat man einen Apfel oder eine Birne mitbekommen. Wenn die Mutter gebacken hat, hat man ein Stückchen in Papier eingewickelt und zum Halbmittag in der Schule mitgenommen.“
Religiöse Rituale gehörten zum Alltag der bäuerlichen Bevölkerung. Mit Hilfe der Religion glaubte man den Herausforderungen des Lebens besser gewachsen zu sein. Die Arbeit wurde zum Einnehmen der Mahlzeiten unterbrochen, aber auch zu gemeinsamen täglichen Gebeten. An den Sonntagen unterblieb die Feldarbeit, der Besuch der Frühmesse oder des Hochamtes war für alle verpflichtend. An den Messen, Vespern, Prozessionen und Bittgängen teilzunehmen, war nicht nur Pflicht, es bot auch die Gelegenheit sich zu zeigen, sich mit anderen zu treffen und den neuesten Tratsch aus dem Dorf zu erfahren. Höhepunkte während des Jahres waren die Feiertage wie Weihnachten und Ostern. Es waren die Tage, an denen es ausreichend zu essen gab, wo man zusammen feierte und manchmal auch Geschenke bekam.
Familie Terza in St. Vigil. Emma steht als Jüngste in der Mitte.
Bäuerin mit Tracht im Oberpustertal
Hedwig Wallnöfer vor dem Auto ihres Verlobten, eines Hoteliers aus Spondinig bei Prad. Autos waren in der Zwischenkriegszeit in Südtirol eine Seltenheit.
„An Kindersegen waren wir reich“
In der bäuerlichen Familie jener Zeit waren acht bis zwölf Kinder keine Seltenheit.37 In den Herkunftsfamilien der ehemaligen Dienstmädchen der ersten Wanderungswelle waren es im Schnitt sieben bis acht Kinder, was den Zusammenhang zwischen Migration und Kinderreichtum deutlich macht.38
Man sah in den Kindern einmal potentielle Arbeitskräfte, die am Hof gebraucht wurden, und potentielle Verdiener, die mit ihrem Lohn die Einkünfte der Familie aufbesserten. Grund für die hohe Kinderzahl war aber auch die mangelnde Aufklärung und vor allem die religiöse Einstellung. Die Kirche verpflichtete die Eheleute zum „Kinderkriegen“, und die Pfarrer übten in ihren Predigten oft erheblichen Druck auf die Frauen aus, indem man ihnen klar machte, dass das Gebären eine von Gott vorgegebene weibliche Pflicht sei. Dabei spielte es keine Rolle, ob die Frauen den ständigen Schwangerschaften gewachsen waren und die vielen Kinder versorgen konnten.39
Regina Walcher stammt aus einer Familie mit zwölf Kindern: „An Kindersegen waren wir reich. Fast jedes Jahr, als das Letzte aus der Wiege kam, war schon das Nächste da, sodass die Mutter oft nicht wusste, wohin damit. Mein Vater nahm da keine Rücksicht. Er hätte sich doch denken müssen, dass das nicht so weitergehen kann. Meine Mutter war eine sehr christliche Frau, sodass sie mit viel Gottvertrauen alles nahm, wie es kam.“ Die Mutter Kreszenzia Mairs hatte in zwölf Jahren dreizehn Kinder. In der Familie von Maria Girardi waren es sogar achtzehn Kinder: „Wir waren acht Buben und zehn Mädchen. Die Mutter hat auch noch zwei Fehlgeburten gehabt. Ich war die Neunte, genau in der Mitte. Einige Kinder sind auch schon früh gestorben. Bei uns hat es immer geheißen: ‚Wenn wir ein gutes Wimmet[Weinlese A. d. V.] machen, dann kaufen wir noch ein Poppele.‘ Das war der Diskurs. Im nächsten Jahr hat es alles verhagelt, und dann sind Zwillinge gekommen. So war es.“
Die Frauen brachten in der Regel ihre Kinder zu Hause zur Welt, eine