Wie die Schwalben fliegen sie aus. Ursula Lüfter
Mal waren es vor allem Mädchen der Jahrgänge von 1930 bis 1940, die Südtirol auf Grund des prekären Arbeitsmarktes in Richtung Süden verließen. Mit ihren Eltern hatten diese Mädchen in ihrer Kindheit das Entweder-oder der Option durchlebt. Waren die Eltern Dableiber, so hatten auch die Kinder Ablehnung und Hass der Dorfgemeinschaft zu spüren bekommen. Bei Maria Jessacher sitzt der Schock heute noch tief: „Wir hatten bei der Option ja fürs Dableiben optiert, und deshalb sind wir dann in die italienische Schule gegangen. Schon als Kinder wurden wir da ganz schrecklich verfolgt. Mit Steinen haben sie auf uns geworfen. Auch von der deutschen Lehrerin sind wir verfolgt worden, nicht nur von den Kindern. Und – wie soll ich sagen – das bleibt fürs ganze Leben. Da kriegt man kein richtiges Selbstbewusstsein mehr. Da versucht man sich immer anzupassen, hat immer Angst, dass wieder etwas passiert. Der Humor, die Lebensfreude, die man mal hatte, die kommen nicht wieder. Dafür ist man einfach zu viel unterdrückt, zu sehr gehasst worden. Auch nach dem Krieg sind diese Fronten geblieben, lang nach dem Krieg.“
Der Zweite Weltkrieg ließ auch Südtirol nicht unberührt. Zwar kam es von 1939 bis 1945 nicht zu einer Lebensmittelknappheit wie während des Ersten Weltkrieges, trotzdem bestimmte der Krieg den Alltag und hinterließ auch Spuren bei den heranwachsenden Mädchen.
Hermine Lutt (1. von links) mit (Stief-) Schwestern und Stiefmutter, Schluderns
Anna Unterthiner mit Mutter, Latzfons
Soziale Herkunft
Zwischen 1921 und 1939 nahm die Bevölkerung Südtirols um knapp 100.000 Personen zu.19 Neben dem Geburtenüberschuss fielen an die 56.000 zugewanderte Italiener darunter. Betroffen von der Zuwanderung der Italiener waren in erster Linie die Städte und die Wirtschafts- und Verkehrsknotenpunkte, die ländlichen Gemeinden, aus denen der größere Teil der befragten ehemaligen Dienstmädchen stammt20, weit weniger. Zwar griff der Faschismus in die dörfliche Lebenswelt ein, deren Sozialstruktur änderte sich jedoch im Laufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur unwesentlich. Wie schon erwähnt, arbeiteten in Südtirol bis in die 60er Jahre noch 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung in einer überwiegend klein strukturierten Landwirtschaft. Knapp 57 Prozent der rund 27.000 bäuerlichen Betriebe bestanden aus weniger als fünf Hektar. Diese Betriebe, meist von kinderreichen Besitzerfamilien bewirtschaftet, dienten in erster Linie der Selbstversorgung. Manche Bauern übten neben der Landwirtschaft noch einen Handwerksberuf aus: Müller, Bäcker, Metzger, Rädermacher, Schmiede, Gerber und andere Handwerkszweige stellten bis in die 60er Jahre in Handarbeit Produkte für die Dorfbewohner her. Das erbrachte oft das Haupteinkommen für die Familie oder zumindest ein gutes Nebeneinkommen. In jedem Dorf gab es Gasthäuser und kleine Gemischtwarenhandlungen, auch deren Inhaber bewirtschafteten in der Regel gleichzeitig einen Hof.21 Neben den Großbauern zählten diese Familien meist zu den „Besseren“ im Dorf. So besaß die Familie von Annamaria Mussner aus St. Christina eine schöne große Mühle, außerdem „hatten wir neben der Mühle auch ein Geschäft. Der Vater war ein sehr angesehener Mann, sehr ehrlich und sehr gewissenhaft“. Anna Telfser aus Schlanders erzählt: „Wir haben eigentlich während des Ersten Weltkrieges und auch danach keinen Hunger gehabt, auch weil der Vater Metzger war, dann hatten wir auch immer ein bisschen Fleisch.“ Der Vater von Maria Wunderer aus Prad, der nach dem Krieg als Fuhrunternehmer arbeitete und gleichzeitig auch eine Mühle, ein Sägewerk und eine Landwirtschaft betrieb, konnte der Familie ein sicheres und ausreichendes Einkommen bieten. Auch in den Briefen der Familie an Rosa Kobler wird nie Mangel an Lebensmitteln erwähnt, ihr Vater war Bauer, Müller und Sägewerksbesitzer.
Neben den Bauern mit mehr oder weniger großen Höfen und Bauern mit Nebenerwerb gab es die ländlichen Unterschichten. Die so genannten „Kleinhäusler“ und „Ingehäusen“22, die über keinen oder nur sehr wenig eigenen Grund und Boden verfügten, hielten Kleinvieh, bearbeiteten Grundstücke, die ihnen von den Bauern gegen Pachtzins überlassen wurden, und verdingten sich nebenbei als Tagwerker. Sie übten auch Handwerksberufe aus, die nicht besonders einträglich waren, wie Schuster und Schneider.
Edith Genta aus Margreid beschreibt den bescheidenen Besitz ihrer Familie folgendermaßen: „Um das Haus herum waren Reben. Es waren kleine Äcker, wo man Gemüse angebaut hat oder Erdäpfel. Wir hatten Hennen und Hasen und Schweine und auch Ziegen. Für die Kühe hatten wir zu wenig Futter. Wir hatten nicht viel, sodass die Arbeit von den Frauen erledigt werden konnte, und die Männer gingen ins Tagwerk. Weil in Margreid waren Barone, der Baron Salvadori (Italiener), Baron Widmann und es waren viele Villen. Mein Vater ist auch ins Tagwerk gegangen. Deshalb haben die Frauen viel arbeiten müssen, zu Mittag haben sie oft draußen auf dem Feld gegessen, auch den Halbmittag und die Marende haben sie mitgenommen. Die Kinder haben sie oft daheim eingesperrt.“
Bei der Zusammensetzung der bäuerlichen Bevölkerung gab es wesentliche Unterschiede in der westlichen und östlichen Landeshälfte. In den östlichen Talschaften herrschten auf Grund des Anerbenrechtes23 die Groß- und Mittelbetriebe vor, welche die zusätzliche Beschäftigung von Dienstboten erforderten. Sie rekrutierten sich aus den weichenden Bauernkindern und den Dienstbotenkindern24 und waren auf Grund des häufigen Arbeitsplatzwechsels nicht feste Mitglieder einer Gemeinde.
In der westlichen Landeshälfte hatte eine extreme Realteilung25 zu Besitzzersplitterung geführt, die es den Familien fast unmöglich machte, sich vom eigenen Grund und Boden zu ernähren. Das Einkommen besserte man sich durch Tagwerk, Saisonarbeit, Wanderhandel, in den nahe an der Schweizer Grenze gelegenen Dörfern auch durch Schmuggeln auf26. Überzählige Arbeitskräfte suchten sich anderswo, auch außerhalb des Tales, Arbeit. Es gab wenig erwachsene Dienstboten, da die Arbeit auf Grund der geringen Hofgröße in der Regel von den Familienmitgliedern erledigt werden konnte. Waren keine eigenen oder nur kleine Kinder da, holte man sich in den Sommermonaten Kinder von anderen Bauern oder hielt ganzjährig „Kostkinder“.
Dass viele Familien in diesen Gebieten ständig ums Überleben kämpfen mussten, schildern eindringlich Frauen aus dem oberen Vinschgau. „Da wo der Bettelmann still Wache gestanden ist“ und da, wo er „af dr Lottr umkeahrt isch, da sind wir daheim gewesen“. So beschreibt Helena Blaas aus St. Valentin ihre Herkunft. Maria Ortler aus Prad drückt es folgendermaßen aus: „Es hat zu der Zeit Arme gegeben und weniger Arme. Wir waren nicht die Ärmsten, aber wir waren trotzdem arm, arm wie alle.“ Die Familien lebten hier auf engstem Raum. Infolge der Realteilung wurden nicht nur die Felder zerstückelt, sondern auch die Häuser aufgeteilt. In Prad lebten um 1885 in dreizehn zumeist einstöckigen Häusern 42 Parteien, 1902 waren es vierzig Parteien in 26 Wohnungen.27 Auf dem abgelegenen Hof Wartamstein oberhalb von Agums, wo Josefa Brunner aufwuchs, teilten sich zwei Parteien nicht nur den Hof, sondern auch die Küche, die Grenze verlief mitten durch den Herd.
Der ohnehin nur geringe Anteil der deutsch- und ladinischsprachigen Beamten nahm während der Zeit des italienischen Faschismus weiter ab, an ihre Stelle traten italienische Beamte.28 Der Vater von Hanni Kostner aus Bruneck, er war vor dem Krieg österreichischer Bahnangestellter gewesen, wurde nach Piacenza versetzt. Auch viele Lehrer mussten eine Versetzung in die altitalienischen Provinzen hinnehmen, um ihre Arbeit nicht zu verlieren. In der Regel waren Lehrer und Beamte nicht besonders begütert.
Beruf des Vaters und Anzahl der Kinder in der Familie
Name | Beruf des Vaters | Kinder |
Mathilde Andergassen | Bauer, im Krieg gefallen | 7 |