Wie die Schwalben fliegen sie aus. Ursula Lüfter

Wie die Schwalben fliegen sie aus - Ursula Lüfter


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arbeiten und zu leben. In der Anfangsphase waren die Migranten eher Männer, aber seit einigen Jahren gibt es immer mehr Frauen, die ihre Herkunftsländer verlassen, um hier vorübergehend bessere Arbeitsmöglichkeiten zu finden oder sich eine neue Existenz aufzubauen. „Fremde sind umso fremder, je ärmer sie sind“, schreibt Hans Magnus Enzensberger11 und weist damit auf die unterschiedliche Wahrnehmung und Behandlung von armen und reichen Einwanderern und Einwanderinnen hin.

      Migration weist auch geschlechtsspezifische Merkmale auf. Die Erwerbsmöglichkeiten für die Frauen sind im Wesentlichen – wenn wir die Prostitution nicht dazuzählen wollen – auf das Gastgewerbe und die Billiglohnjobs in den privaten Haushalten beschränkt. In Letzteren übernehmen sie vielfach anspruchsvolle und anstrengende Alten- und Krankenbetreuung. Nahezu ausschließlich von Ausländer(inne)n verrichtet werden die marktwirtschaftlich organisierten Hausarbeiten wie etwa bei Putzfirmen. Diese Arbeitsperspektiven mögen uns vielleicht wenig attraktiv erscheinen. Trotzdem kommen sehr viele junge Frauen in die reichen europäischen Länder, auch nach Südtirol, weil sie hier Möglichkeiten zu finden hoffen, die sie in ihren Heimatländern offensichtlich nicht haben. Ein etwas aufmerksamerer Blick in unsere eigene Vergangenheit kann für das Verständnis von Migration und ihrer menschlichen Dimension sehr erhellend sein. Er führt uns zu der Erkenntnis, dass soziale Mobilität bzw. Arbeitsmigration von Frauen nicht nur gegenwärtiger Ausdruck einer krisenhaften Realität in anderen Ländern ist, sondern dass es dieses Phänomen auch in Südtirol gegeben hat. Es ist für jedes Land – insbesondere für Südtirol, wo der Heimatbegriff so sehr mit Sesshaftigkeit verknüpft wird und eine besondere gesellschaftliche Rolle spielt – heilsam, sich an die eigene Migrationsgeschichte zu erinnern und sich bewusst zu machen, dass Heimathaben durchaus nicht selbstverständlich, sondern abhängig ist von sozialen und politischen Rahmenbedingungen und deshalb auch ein fragiles Konzept darstellt.

      Hans Magnus Enzensberger interpretiert „das Fehlen jeder Empathie mit den Neuankömmlingen, die mit denselben Widerständen zu kämpfen, dieselbe schwierige Situation vor sich haben, der sich ihre Vorgänger unterziehen mussten“, als „eigentümlich rasche Vergesslichkeit, mit der das eigene Herkommen verdeckt und verleugnet wird“.12

      „Aufgewachsen sind wir mit Brennsuppe und Polenta“

       Geografische Herkunft

      Südtirol stellt als Herkunftsgebiet der Dienstmädchen eine politisch klar abgegrenzte Region mit alpinem, in dieser Zeitperiode vorwiegend strukturschwachem Charakter dar. Hatte die Industrialisierung in anderen Gebieten schon Mitte des 19. Jahrhunderts eingesetzt, wurde Südtirol auf Grund der besonderen politischen Lage in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch kaum davon berührt.1 Die wenigen Industriebetriebe, die sich vor allem in Bozen ansiedelten, waren den zugezogenen Italienern vorbehalten. Auch aus der Verwaltung und dem öffentlichen Dienstleistungssektor blieben die Südtiroler weitgehend ausgeschlossen. Bis zu 70 Prozent der Bevölkerung, in abgelegenen Tälern auch mehr, arbeiteten bis in die 60er Jahre noch in der Landwirtschaft. 2

      Gleichzeitig wuchs die Bevölkerung stetig. Verbesserte ärztliche Versorgung und bessere hygienische Verhältnisse ab dem 19. Jahrhundert führten auch im südlichen Tirol dazu, dass in den Familien sechs, acht oder mehr Kinder aufwuchsen und ernährt werden mussten. Die Landwirtschaft allein bot aber nur wenigen Menschen dauerhaft Einkommen und Arbeit. Außerhalb des Elternhauses reduzierten sich die Arbeitsmöglichkeiten für Männer und Frauen traditionell auf Knecht und Magd. Für Mädchen und Frauen war es dazu grundsätzlich schwieriger, Lohn und Brot zu finden, da auf einem Bauernhof mehr Bedarf an männlichen Arbeitskräften war.3

      Allein in einer der wenigen Städte Südtirols oder in deren unmittelbarer Nähe konnten Mädchen auch in anderen Berufszweigen unterkommen. Die Angebote waren dort vielfältiger und beschränkten sich nicht nur auf bäuerliche Arbeiten. Meran und Bozen boten etwa Stellen im Handel oder als Hausmädchen in einer bürgerlichen Familie4. Wohl auch deshalb ging seit 1910 die Zahl der erwerbstätigen Frauen in der Landwirtschaft stärker zurück. Vermutlich empfanden gerade Frauen „die Arbeitsbedingungen in nicht bäuerlichen Diensten als wesentlich vorteilhafter“.5 Das Angebot reichte in Südtirol allerdings nicht aus, um alle „überschüssigen“ weiblichen Arbeitskräfte zu beschäftigen, sodass viele gezwungen waren, die Herkunftsfamilie zu verlassen und auch in entfernte Regionen abzuwandern.6

      Nun weist Südtirol vielfältige Siedlungsformen und -strukturen auf, die Siedlungen liegen zwischen 200 und 2000 m Meereshöhe. Die unterschiedliche Bewirtschaftung und Produktivität regelte den Bedarf an freien Arbeitskräften und führte zur größeren oder geringeren Notwendigkeit der Arbeitsmigration in den verschiedenen Tälern und Gebieten. In einigen Landesteilen Südtirols, wo das Verhältnis zwischen Bevölkerung und Lebensgrundlagen die Existenz der Bewohner seit jeher in Frage stellte, gab es immer schon Wanderbewegungen. In erster Linie hatte dies allerdings Männer betroffen, die sich etwa als Bauhandwerker außerhalb des Landes verdingten.7 Es gibt jedoch auch Hinweise, dass Frauen bereits im 17. Jahrhundert ins Ausland gingen und dort bei Bauern dienten.8

      Im Obervinschgau lässt sich die saisonale Abwanderung in ferne Regionen bis in die frühere Neuzeit zurückverfolgen. Das bekannteste Phänomen ist das der Schwabenkinder.9 Nicht nur Kinder verließen vom Frühjahr bis zum Herbst das Tal, auch Erwachsene suchten auswärts Arbeit. Um 1890 hielten sich 250 von 116010 Personen aus der Gemeinde Prad außerhalb ihres Heimatortes auf.11 Sehr viele von ihnen arbeiteten in den verschiedenen Ländern der Habsburgermonarchie12, aber auch in der nahen Schweiz13 und in Italien14.

      Johannes Grießmair stellte in seiner Untersuchung über Dienstboten im Pustertal fest, dass das Ahrntal und das Gadertal bis zum Zweiten Weltkrieg sehr viele Dienstboten stellten, das heißt, dass in diesen abgelegenen Talschaften ein besonders großer Überschuss an Arbeitskräften herrschte.15

      Als am Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr Urlauber nach Südtirol reisten und der Fremdenverkehr sich als neue Einnahmequelle erwies, öffneten sich zunehmend auch bis dahin eher abgelegene Täler und Ortschaften. Allerdings entwickelte sich der Tourismus nicht überall in gleichem Maß. Durch den Ersten Weltkrieg kam es zunächst zu einem drastischen Einbruch in dieser Branche. Zu Beginn der 20er Jahre, also nach der Annexion Südtirols durch Italien, setzte schließlich ein Massentourismus ein, der neben internationalen und deutschen Gästen auch Scharen von Italienern in die Dolomiten, ins Pustertal, ins Grödental und in die Ortlerregion, nach Bozen und Meran brachte.16 Das bedeutete neue Arbeitsplätze vor allem für Mädchen und Frauen. Gleichzeitig bot sich Arbeit suchenden Mädchen die Gelegenheit, italienische Familien kennen zu lernen, die eventuell auf der Suche nach einem Hausmädchen waren. Viele nutzten die Chance und nahmen eine Hausmädchenstelle in einer italienischen Stadt an, etwa in Mailand, Florenz oder Rom.

       Geografische Herkunft der befragten Frauen

      Diese und die folgenden Grafiken und Tabellen berücksichtigen nur Frauen der ersten Wanderungswelle, also jene Südtirolerinnen, die in der Zwischenkriegszeit in einer italienischen Stadt gearbeitet haben.

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      Genaue Angaben, wie viele Mädchen in der Zwischenkriegszeit in italienischen Städten als Hausangestellte dienten und aus welchen Landesteilen sie stammten, lassen sich nicht machen. Die Mädchen waren in der Regel am Arbeitsort nicht gemeldet, deshalb erfolgte keine entsprechende amtliche Registrierung weder am Arbeitsort noch in der Heimatgemeinde.

      Die große Anzahl der Vinschgerinnen unter den Befragten erklärt sich nicht nur mit der ausgeprägteren Strukturschwäche des Gebietes, sondern auch damit, dass hier die Autorinnen auf Grund einiger persönlicher Beziehungen umfassendere Kontakte zu den Frauen aufnehmen konnten als in den anderen Landesteilen Südtirols. Daher lassen sich aus den hier zusammengetragenen Daten nur bedingt Rückschlüsse auf die tatsächliche Raum- und Mengenverteilung der Migrantinnen ziehen.


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