So bitter die Erkenntnis. Caroline Martin

So bitter die Erkenntnis - Caroline Martin


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nicht …« Ines Stimme geriet zu einem Flüstern. »Dabei sollte es ein ganz besonderer Abend werden.«

      »Frau Wagner, ich muss Ihnen mitteilen, dass Felix Meister nicht mehr lebt. Er ist gestern Abend am Ende der Vorstellung tot auf der Bühne zusammengebrochen.«

      Ines schien durch die Kommissarin hindurchzusehen. Verständnislos schüttelte sie den Kopf, als verstünde sie nicht, was die andere sagte. »Das kann nicht sein.« Ines lachte hysterisch auf. »Ich habe ihm gestern doch noch alles Glück gewünscht! Es war der Premierenabend, wissen Sie, dann ist er immer besonders aufgeregt. La Traviata war es diesmal. Die Oper liebt er besonders und gerade die Rolle des Giorgio Germont. Er war bestimmt toll.«

      »Ja, so sagt man.« Die Kommissarin nickte, stand auf und setzte sich neben Ines auf das andere Sofa. »Er muss wirklich so wunderbar gesungen haben, wie nie zuvor, das sagen jedenfalls seine Kollegen.« Katharina Seibold legte den Arm um Ines. »Aber nach der letzten Arie brach er zusammen. Der Theaterarzt war sofort zur Stelle und hat versucht, Herrn Meister zu reanimieren, aber umsonst, er konnte nur noch den Tod feststellen.«

      Langsam, ganz langsam sickerten die Worte in Ines’ Bewusstsein.

      Felix war tot! Nein, sie schüttelte vehement den Kopf. Das konnte alles nicht stimmen. Warum sollte Felix tot auf der Bühne zusammenbrechen? Vor ihrem inneren Auge spielte sich im nächsten Augenblick eine dramatische Szene ab: Felix, der im Kostüm mitten auf der Bühne zusammenbrach, das ungläubige Staunen der anderen, das für Sekunden sowohl die Kollegen als auch das Publikum lähmte, die anschließende hektische Betriebsamkeit, der herbeieilende Theaterarzt, der versuchte, Felix durch eine rhythmische Herzmassage wiederzubeleben.

      Nein, das alles konnte so wirklich nicht gewesen sein, es musste sich um einen furchtbaren Irrtum handeln. Ines sah die Kommissarin zweifelnd an und obwohl sich alles in ihr sträubte, las sie in deren Blick die Wahrheit, die sie selbst nicht akzeptieren konnte. Tränen, die sich unbemerkt aus ihren Augen stahlen, wurden zu einem immer stärkeren Strom, der alle Hoffnung mit sich davontrug. Zurück blieb allein die wahre und bittere Erkenntnis, der sie sich nun stellen musste. Nein, alles in ihr bäumte sich auf. Sie wollte diese Wahrheit nicht, die all ihre Hoffnungen und Träume mit einem Schlag zunichte machte. Sollte sie bleiben, wo der Pfeffer wächst. Ines presste die Handflächen gegen ihre Schläfen, als könne sie so ihrem Kopf das Denken verbieten.

      »NEIN!« Ihr Schrei klang wie der einer Ertrinkenden. Dann begann sie haltlos zu schluchzen.

      Katharina Seibold schloss ihre Arme ganz fest um den verzweifelt zitternden Körper neben sich und spürte, dass ihr selbst die Tränen in die Augen stiegen. Das Unglück anderer zu erleben und nicht helfen zu können, geriet jedes Mal zu einer Grenzerfahrung.

      Ein Scheißberuf, den du da hast, schalt sie sich, du bringst allen nur Unglück.

      Aber dieser Anflug von Selbstmitleid, einem momentan ziemlich vertrauten Begleiter, half hier nicht weiter. Sie musste versuchen, die Situation auf eine sachlichere Eben zu bringen, vielleicht fing sich Frau Wagner dann wieder.

      »Sie waren mit Herrn Meister liiert?«, fragte die Kommissarin leise, worauf Ines’ Tränenstrom, der inzwischen langsam verebbte, wieder stärker zu fließen begann.

      Das war offensichtlich die falsche Frage, schalt sich Katharina Seibold, aber irgendwie musste sie weiterkommen.

      »Eigentlich …, eigentlich waren wir liiert, ja, wenn auch nicht im üblichen Sinne.« Ines suchte schluchzend nach Worten.

      »Wie meinen Sie das denn?«, fragte die Kommissarin erstaunt.

      »Na ja, wissen Sie, Felix ist so zögerlich …, wir gehören zusammen, das spüre ich, aber er hat es mir noch nie gesagt.«

      »Sie wollten ihn sozusagen überzeugen?«

      »Nein«, Ines begann wieder zu schluchzen, »ich wollte ihm zeigen, dass alles längst so war. Deshalb habe ich alles so schön arrangiert: das Essen, die Rosen, die festliche Stimmung. Ich habe mir sogar ein neues Kleid gekauft, mit Ausschnitt, wissen Sie …, mit dem ich ihn beeindrucken wollte. Und dann kam er einfach nicht. Ich muss, ohne es zu merken, sehr lange in Gedanken versunken auf dem Sofa gesessen haben, und darüber ist mir der Braten verbrannt. Die ganze Küche war verqualmt.« Ines fing sich ein wenig, während sie weitersprach. »Dann bin ich rüber zu ihm – ich habe ja einen Schlüssel, weil ich Felix auch den Haushalt führe – aber er war nicht da. Also habe ich ihn angerufen, aber er ging nicht ran. Wütend war ich und unglücklich, weil er mir fest versprochen hatte, mit mir zu essen. Ich bin dann ins Bett gegangen und habe fürchterlich geträumt, bis Sie klingelten.« Ines musterte die Kommissarin mit abwartendem Blick.

      Auch das noch … gerade, als die Liebesgeschichte wirklich beginnen sollte, war der Tod eingeschritten. Katharina Seibold seufzte schwer.

      Im Kommissariat wurde sie hinter vorgehaltener Hand auch »das Seelchen« genannt, weil sie sich vieles mehr zu Herzen nahm als andere. In der Tat war sie eine Ausnahmeerscheinung in diesem Beruf, zu dem sie, nach einer Grenzerfahrung in ihrem eigenen Leben, gekommen war, denn eigentlich ging es in Katharinas Innenleben eher kreativ zu.

      Sie hatte Kunst studiert, mit dem Ziel, Restauratorin zu werden, ehe sie zur Polizei ging, und das Einzige, ihr im Grunde wenig entsprechende Verhalten, das sie sich hatte antrainieren können, war es, forsch aufzutreten. Bei Fällen wie diesem jedoch gewann ihre einfühlsame, vorsichtige Art bald wieder die Oberhand.

      »Frau Wagner, können Sie sich vorstellen, dass man Felix Meister nach dem Leben trachtete?«

      »Um Gottes willen, nein!« Ines schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Er war besonders beliebt bei den Kollegen und auch bei seinen Freunden. Nein, das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.«

      »Was ist mit seiner Familie? Leben seine Eltern noch? Hat er Geschwister? Wissen Sie etwas über sein Verhältnis zu ihnen?«

      Ines fixierte die Kommissarin, schien aber in ihren Gedanken weit weg zu sein. »Nein, ich kann mich nicht erinnern. Vielleicht ist es mir im Moment aber auch nur entfallen. Irgendetwas muss er ja mal darüber gesagt haben. Ich werde darüber nachdenken.«

      Nach wiederkehrenden Momenten der Verzweiflung, die immer wieder Tränen fließen ließen, schien Ines sich nach einer Weile ein wenig gefangen zu haben, sodass die Hauptkommissarin das Gefühl bekam, die Trauernde jetzt allein lassen zu können. Verwandte, bei denen Ines hätte bleiben können, gab es nicht und ihre einzige, enge Freundin Beatrice machte zurzeit eine Abenteuerreise durch Afrika. Katharina nahm Ines das Versprechen ab, sich sofort – gleichgültig wie spät oder früh es sei – bei ihr zu melden, wenn sie meinte, es nicht auszuhalten zu können, und verließ die Wohnung doch mit einem unguten Gefühl. Aber es ging nicht anders, sie musste darauf vertrauen, dass Ines Wagner die Situation meisterte.

      Nachdem die Kommissarin gegangen war, ließ Ines sich wieder auf das Sofa im Wohnzimmer sinken und blieb für eine lange Weile fast regungslos sitzen. In ihrem Kopf rasten die Gedanken immer im Kreis herum, wie bei einem Karussell, ohne ihr jemals Ruhe zu gönnen oder in einen endgültigen Gedanken zu münden. Ines schlug sich verzweifelt mit der Faust gegen die Stirn, als ob sie auf diese Weise alles auf Anfang setzen könnte. Aber Gedanken und Gefühle purzelten weiterhin wild durcheinander und rissen sie in den Abgrund eines übelerregenden Schwindelgefühls, das übermächtig von ihr Besitz ergriff, sodass ihr schließlich die Sinne schwanden.

      Als sie wieder zu sich kam, fand sie sich auf dem Boden liegend wieder und der saure Geruch, der ihr in die Nase stieg, zeugte davon, dass sie sich übergeben hatte. Vorsichtig versuchte sie sich aufzusetzen, die Übelkeit kehrte zurück. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Couch und atmete bewusst tief ein und aus, während ihre Augen nach einem Fixpunkt suchten, bis ihr Blick sich durch die Scheibe hindurch an einem Buchenzweig festmachte, der vor dem Fenster sanft im Wind schwang.

      Warum sind die Blätter so grün?, fragte sie sich erstaunt, es gibt doch überhaupt kein Leben mehr, alles ist tot.

      Der Schmerz, der sie jetzt überwältigte, war so groß, dass sie ihn qualvoll in jeder Faser ihres Körpers spürte. Wie ein geschundenes Tier kroch sie auf allen vieren hinüber ins


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