So bitter die Erkenntnis. Caroline Martin

So bitter die Erkenntnis - Caroline Martin


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      Den Wechsel von Tag und Nacht, Hunger, Durst, eine Scheibe Brot auf dem Teller, die Dusche, die sie allem Anschein nach benutzt haben musste – alles das nahm Ines erst wahr, als sie nach zwei Tagen aus ihrer Trance erwachte und die Trauer über ihren Verlust wieder von ihr Besitz ergriff.

      Getrieben von dem Bedürfnis, Felix auch über seinen Tod hinaus nahe zu sein, legte sie die Schritte über den Flur zu seiner Wohnung ganz automatisch zurück. Als sie den Schlüssel schon im Schloss herumdrehen wollte, stellte sie fest, dass die Wohnung versiegelt war. Verdattert zog sie den Schlüssel wieder heraus, trat einen Schritt zurück und betrachtete das Amtssiegel. Nein, hier gab es kein Fortkommen, aber aufgeben wollte sie ihr Ansinnen deshalb noch lange nicht. Zögernd ging sie zurück in ihre Wohnung und setzte sich an den Esstisch, der wie ein Relikt aus früheren Zeiten immer noch festlich gedeckt war. Die erstarrten roten Wachspfützen, die ihr wie Blutlachen erschienen, hatten die weiße Tischdecke aus Ines’ Familienbesitz rückhaltlos ruiniert, aber das war gleichgültig. Tief in Gedanken versunken begann Ines damit, dem Wachs mit den Fingern zu Leibe zu rücken, bis ihr ein spitzes Stückchen unter das Nagelbett geriet, und sie mit einem kleinen Aufschrei aufgab. Während sie versuchte, das Wachs vollständig von ihrem Finger zu entfernen, hielt sie plötzlich inne.

      Die Verbindungstür – natürlich, warum war sie nicht eher darauf gekommen?

      Richtig, die erste Etage des herrschaftlichen Hauses war im Zuge der zurückliegenden Sanierung in zwei Wohnungen aufgeteilt worden, die spiegelverkehrt und gleich groß waren. Die Verbindungstür, die früher die Zimmer der Beletage miteinander verband, war damals nicht entfernt worden – vielleicht, um sich die Möglichkeit zu erhalten, die Räume bei Bedarf wieder zusammenzuführen – auf jeden Fall hatte Ines damals ihren Biedermeierschrank davorgestellt, und jetzt war es ihr wieder eingefallen.

      Entschlossen stemmte sie sich mit dem Rücken gegen eine Seite, beugte sich nach vorn, um mehr Kraft zu haben und drückte mit aller Macht dagegen. Der Schrank kippelte ein wenig, bewegte sich aber nicht. Nein, so ging das nicht, sie musste ihn wohl oder übel ausräumen. Alles, was sich über Jahre an mehr oder weniger unnützen Dingen in einem Haushalt ansammelte, fiel ihr jetzt in die Hände: alte, üppig dekorierte Kerzenleuchter, die sie früher einmal schön gefunden hatte, Geschirr, das sie längst nicht mehr benutzte, Trockenblumensträuße, die sich langsam in Staub auflösten, und die sie damals nicht wegwerfen wollte, groß gemusterte in Orange, Braun und Grün gehaltene Vorhänge, die ihr jetzt angesichts des Musters Schauer über den Rücken jagten. Ines fand jede Menge Krimskrams, von dem sie längst nichts mehr wusste, und der es nicht wert war, wieder in den Schrank zurückzufinden. Lange Minuten verstrichen, in denen ihr Tun sie von den Gedanken an Felix ablenkte und ihr kurzfristig ein Gefühl der Normalität zurückgab, bis ihr wieder einfiel, warum sie den Schrank ausräumte, und die Tränen erneut zu fließen begannen.

      Um einiges leichter geworden, ließ dieser sich nun Zentimeter um Zentimeter verrücken und gab endlich die Verbindungstür, die seinerzeit mit Tapetenbahnen überklebt worden war, frei. Mit einem Ruck riss Ines einen Großteil der Tapete ab, der Rest war ebenso schnell entfernt. Zögernd drückte sie die mit Kleister verklebte Klinke herunter und öffnete langsam die Tür, die daraufhin ein befreites Ächzen von sich gab.

      Scheinbar wie durch kleine Fenster hindurch, die ihr die Fächer des Regals auf der anderen Seite vermittelten, nahm sie verschiedene Details aus Felix’ Wohnzimmer wahr. Den schönen, gemütlichen, mit braunem Leder bezogenen Ohrensessel, die alte Kirschholzkommode und den edel gerahmten Picassodruck darüber.

      Ines versuchte vorsichtig, das Regal ein Stück zur Seite zu rücken, um so viel Platz zu gewinnen, dass sie hindurchpasste. Es ging leichter, als sie befürchtete, und einen Augenblick später stand sie in den verwaisten Räumen Felix Wagners. Obwohl er noch vor zwei Tagen hier gelebt hatte, wirkte die Wohnung verlassen und seelenlos, wie ein Relikt aus früheren Zeiten, an dessen Präsenz man sich wie an einen verlorenen Schatz erinnerte. Ines traf die Erkenntnis wie ein Keulenschlag. Wie gern hätte sie das Gefühl gehabt, dass alles nur ein Irrtum war und dass sie sich nur zur Tür wenden müsse, um gleich das Geräusch des sich im Schloss drehenden Schlüssels zu vernehmen – vergebens. Felix würde nie wieder durch diese Tür gehen. Nie wieder würde er mit einem vielsagenden Lächeln auf den Lippen zwei Weingläser aus dem Schrank nehmen, um Ines – gespannt auf ihr Urteil – eine neue Weinsorte zu kosten zu geben. Nie wieder würde er sie während ihrer lebhaften Gespräche aufmerksam ansehen. Nie wieder würde er den Zeigefinger senkrecht auf seine Lippen legen und einen Punkt in der Ferne fixieren, wie er es immer tat, wenn er konzentriert nachdachte. Was Felix betraf, so gab es nur noch dieses »Nie wieder«, das Ines fast umbrachte.

      Wie in Trance ging sie durch die Räume, nahm hier seinen Füllfederhalter, der seiner schwungvollen Schrift ihre besondere Note verliehen hatte, in die Hand, dort seinen Talisman, einen runden, weißen Schmeichelstein, um schließlich bei seinem Rollenbuch zu verweilen, in dem sie gedankenverloren blätterte. Das Geräusch der umgewendeten Seiten hatte etwas Tröstliches, so als ob nicht sie, sondern Felix selbst hier saß, um einen neuen Part zu lernen.

      Nach Stunden, die sie in sich versunken, die Gedanken ganz bei Felix, in seiner Wohnung verbracht hatte, griff sie wahllos nach einem Buch, das auf dem Schreibtisch lag, einem Stapel ungeordneter Zeitungen und nach dem in dezenten Farben gemusterten Seidenschal, den sie so sehr an ihm geliebt hatte, und drückte alles, wie einen soeben gefundenen Schatz an ihre Brust. Wieder in ihrer Wohnung, breitete sie die Erinnerungsstücke auf ihrem Bett aus, weil sie das Gefühl hatte, Felix dadurch noch näher zu sein.

      An diesem Abend schlief sie, den Schal um ihren Hals geschlungen, das Buch in der Hand und die Zeitungen wie eine Decke über sich gebreitet ein, um schon bald wieder aus einem unruhigen Traum zu erwachen, weil sie fror. Als Ines sich der Situation bewusst wurde, liefen ihr wieder die Tränen, die erst versiegten, als sie, aller Trauer zum Trotz, wieder eingeschlafen war.

      5

      Katharina Seibold versuchte unterdessen, Licht in das Dunkel dieses rätselhaften Falles zu bringen. Ein Gefühl zunehmender Unzufriedenheit machte ihr zu schaffen, weil die Ermittlungen sich in die Länge zogen und es keine wirklich neuen Erkenntnisse gab. Wen sie auch zur Person Felix Meisters befragte, sie hörte nur Gutes. Es gab offensichtlich niemanden, der ihm Böses wollte, oder gar nach dem Leben getrachtet hätte.

      Das Ensemble lobte ihn über den grünen Klee hinaus, jedenfalls was sein kollegiales Verhalten anging. Freunde schien er außer seinen Kollegen und Frau Wagner nicht gehabt zu haben. Katharina hoffte inständig darauf, dass die Obduktion Licht in dieses Dunkel bringen würde, und rief kurz entschlossen den Rechtsmediziner Doktor Rüdiger Junker an, der die Leiche bereits untersucht haben musste.

      »Kein Thema, ich bin fertig, kommen Sie einfach vorbei, Frau Seibold«, antwortete er auf ihre Frage. Katharina legte den Hörer auf und machte sich sofort auf, um in die Rechtsmedizin zu gehen.

      Wie immer, wenn sie diese Richtung einschlug, beschlich sie ein Gefühl der Unwirklichkeit. So, als ob der Weg, der das Leben vom Tod trennte, nur so lang war, wie die Strecke, die sie zurücklegen musste. Als die schweren Doppeltüren sich automatisch vor ihr öffneten und hinter ihr wieder schlossen, stieg ein Übelkeitsgefühl in ihr empor. Sie hielt für einen Moment inne, versuchte, so flach wie möglich zu atmen, und ärgerte sich gleichzeitig darüber, dass es ihr immer wieder so erging. Jedes Mal, wenn sie den Geruch des Todes in formalingeschwängerter Luft wahrnahm, wurde ihr schlecht.

      »Na, wird’s denn heute gehen?« Der Rechtsmediziner, der um Katharinas Schwäche wusste, hielt ihr ein parfümgetränktes Taschentuch hin.

      Die Kommissarin griff eifrig danach und hielt es sich dicht vor die Nase. »Danke«, presste sie mühsam hervor, »ich denke, es geht gleich wieder.«

      »Wenn nicht, geben Sie mir rechtzeitig ein Zeichen. Eine Nierenschale, in der noch nichts drin ist, lässt sich bestimmt schnell finden.« Er grinste.

      Katharina drehte es allein bei dieser Vorstellung den Magen um, und sie wollte etwas Spitzes erwidern, fühlte sich aber außerstande, ihre Energie in eine Antwort zu investieren. Ob das


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