Raqqa an Rhein. Jabbar Abdullah
Ferienjob für mich gefunden hatte. Meine beiden Schwestern waren Erntehelferinnen. Wir lebten alle vier zusammen in einer kleinen Holzbaracke. Sie stand, gemeinsam mit vielen anderen, auf einem großen, unbefestigten Grundstück, gleich neben der Hauptstraße von Tarablus. Die Lage war zwar sehr zentral, doch die Wohnverhältnisse waren miserabel, so wie für alle Syrer, die dort unsere Nachbarn waren. Auf etwa 40 x 40 Metern drängten sich hier rund zwanzig Hütten. Ihre Dächer bestanden nur aus einer Plastikplane, und wenn es nachts regnete, war das das Prasseln der Regentropfen so laut, dass man nicht schlafen konnte.
Jede Hütte war in einzelne Bereiche unterteilt, nur durch Stoffbahnen voneinander getrennt: eine behelfsmäßige Küche, eine Ecke, die als Bad diente sowie der eigentliche Wohnbereich, wo wir auch schliefen. Ich erinnere mich noch an die kleine Lampe, die in der Mitte des Raumes am Stützbalken hing und wild hin- und herschaukelte, wenn wieder einmal der Wind durch die Bretter pfiff. Es waren nicht mehr als 17 Quadratmeter, für die wir dem Vermieter dieser Hütten jeden Monat 200.000 Libanesische Lira zahlten, also etwa 125 Euro.
Meine Aufgabe in der Baufirma bestand darin, die Wände vor dem Auftragen der Farbe ordentlich abzuschleifen. Nach meinem ersten Tag waren Haare, Gesicht und Kleidung vollkommen von weißem Staub überzogen. Die Arbeit begann um sieben Uhr morgens und dauerte bis sieben Uhr abends. Für zwölf Stunden harter Arbeit gab es gerade einmal neun Dollar.
Ich höre immer noch das Hupen des Transporters, der meine zwei Schwestern jeden Morgen um vier Uhr abholte und sie gemeinsam mit anderen Arbeiterinnen und Arbeitern von der Stadt auf die Felder fuhr. Zum Glück konnten ich und mein Bruder noch zwei Stunden weiterschlafen, doch jeden Morgen hörte ich, halb noch im Schlaf, die schweren Schritte meiner Schwestern wie der anderen Frauen und Männer draußen auf dem Kies. Ihre täglichen Strapazen waren eines der ‚Geschenke‘, welche das Assad-Regimes seinen Menschen machte, die anders kaum genug zum Überleben verdient hätten.
Brot und Geburt
Die Häuser auf dem Land in der Gegend um Raqqa sind in der Regel sehr großzügig geschnitten. Alle Zimmer gehen von einem Innenhof ab, der im Sommer als Terrasse genutzt wird. Jedes Haus ist von mindestens einem halben Hektar Land umgeben, auf dem sich Olivenhaine, Weinstöcke oder auch Gemüsefelder befinden. Auch unsere Familie erntete im Sommer hier Tomaten, Auberginen, Zucchini, Paprika und Okraschoten, im Winter Rettich.
Normalerweise verfügt jedes Haus über vier oder fünf Räume, alle ebenerdig und mindestens fünfundzwanzig Quadratmeter groß. Der arabischen Tradition entsprechend besteht die Einrichtung oftmals nur aus einem großen buntgewebten Teppich und einer Vielzahl von Sitzkissen, die rundum an den Wänden ausgelegt werden. Am Abend kommen oft Verwandte, Freunde und Nachbarn zu Besuch, manchmal mehrere Gruppen auf einmal. Sie erscheinen spontan, einfach dann, wenn es ihnen in den Sinn kommt. Dann stehen sie vor der Tür, rufen laut „Besitzer des Hauses!“ und finden sogleich Einlass. Die Gastfreundschaft gebietet es, dass allen Besuchern gleich Tee und Kaffee angeboten wird. Im Sommer sitzt man dann gemeinsam draußen auf der Terrasse, vor allem nachts, wenn oft noch über dreißig Grad herrschen. Im Winter kommt man im großen Gästeraum zusammen und versammelt sich um die improvisierte Ölheizung. Entgegen dem weit verbreiteten westlichen Klischee sitzen Frauen und Männer hierbei immer zusammen, unterhalten sich und genießen das Beisammensein.
Meine Mutter weiß nicht, wann genau ich geboren wurde. Natürlich ist das Datum in den Familiendokumenten verzeichnet, aber sie kann weder schreiben noch lesen. Wenn sie sich also mit anderen über meine Geburt unterhält, nennt sie keine Jahreszahl, sondern verbindet das immer mit anderen Ereignissen aus jenem Jahr. Zu einer Freundin sagt sie dann so etwas wie: „Jabbar kam im gleichen Jahr auf die Welt, als dein Vater starb.“
Ich habe ihr bei meiner Geburt keine Schmerzen bereitet, so erzählt sie mir immer, noch sonst das Familienleben durcheinandergebracht. Sich selbst kann man natürlich nicht dabei beobachten, wie man auf die Welt kommt, aber das Leben hat mir das einzigartige Geschenk gemacht, die Geburt meiner kleinen Schwester miterleben zu dürfen. Das war 1998 und ich war gerade neun.
An jenem Tag bin ich am Nachmittag aus der Schule nach Hause zurückgekommen. Meine Mutter lag im großen Wohnzimmer, und ich hörte, wie sie vor Schmerzen stöhnte. Sie lag auf einer alten, dünnen Matratze, die deshalb so zerschlissen war, weil sie schon seit Jahren benutzt wurde oder vielleicht auch, weil mein Vater sich für gewöhnlich am Nachmittag mit seinem schweren Körper darauf legte. Meine Mutter schrie und schaute nach oben an die Decke. Aber ich verstand nicht, was es dort zu sehen gab, außer der rauen Betondecke des Zimmers, aus der hier und da immer noch einzelne Eisenstangen ragten. Denn beim Bau des Hauses hatte das Geld nicht gereicht, um auch die Decke ordentlich zu verputzen.
Eine Stunde später kam meine Tante. Vielleicht hatte ein Nachbarskind sie gerufen. Sie sah, dass die Wehen bereits eingesetzt hatten und lief direkt in die Küche, um heißes Wasser in einer großen Schüssel zu holen.
Dann nahm sie zwei weiße Tücher aus einer Nische, die ursprünglich als Fenster geplant, aber dann doch zugemauert worden war und nun von meiner Mutter als Regal genutzt wurde. Ich kannte diese beiden Tücher genau: sie waren einmal Teil der Dschallabija meines Vaters gewesen; so nennt man im Nahen Osten das traditionelle hemdartige Gewand. Ich weiß nicht mehr, warum mein Vater sie nicht mehr tragen wollte. Möglicherweise war sie ihm zu klein geworden. Jedenfalls hatte er darin immer eine gute Figur gemacht. Die Schreie meiner Mutter wurden immer lauter. Tränen liefen mir die Wangen herunter wie Regentropfen an einer Fensterscheibe. Doch meine Tante beruhigte mich. „Deiner Mutter wird es gleich besser gehen und sehr bald bekommst du ein neues Schwesterchen oder Brüderchen“. Dann hörte ich einen Ruf von draußen. Es war unsere Nachbarin Dalal, die beste Freundin meiner Mutter.
Meine Mutter lag auf der Matratze, die beiden Frauen saßen neben ihr, die eine am Kopfende, die andere am Fußende. Was da passiert, habe ich als Kind nicht verstanden. Meine Mutter schrie vor Schmerz, während diese Frauen emsig durch den Raum eilten, ihre Aufgaben und Plätze wechselnd.
In der Zwischenzeit hatte ich mich auf einen der vielen bunten Teppiche im Raum gekauert und beobachtete aufmerksam, was geschah. Die Zeit verging und die Schreie meiner Mutter hielten an. Meine Tante und die Nachbarin waren besorgt, man sah das ihren Gesichtern an. Plötzlich hörte ich die Schreie eines Kindes. Die Nachbarin sagte: „Es ist ein Mädchen und es geht ihr gut“. Meine Mutter war ruhig geworden. Ich konnte mich aber dem kleinen, schönen Wesen noch nicht nähern. Ich kann nicht sagen, warum, aber ich hatte Angst vor ihm. Aus einer mitgebrachten Tasche nahm meine Tante eine weiße Decke und wickelte meine Schwester darin ein. Sie lächelte.
Hatte ich damals bei meiner Geburt auch so ausgesehen? Hatten sich die Frauen ebenfalls über mich gebeugt, um den kleinen und weichen Körper in Augenschein zu nehmen? Und war die Decke, die meine Mutter nun zudeckte, die gleiche gewesen? Brachten alle Frauen ihre Kinder auf diese Weise zu Hause zur Welt? Warum hatte die Nachbarin meines Onkels zweimal ein Baby aus dem Krankenhaus mitgebracht?
Die Nachricht der Geburt meiner Schwester verbreitete sich in Windeseile und immer neue Nachbarinnen trafen ein, um das Neugeborene zu sehen und meine Mutter zu beglückwünschen. Alle zehn Minuten musste ich aufstehen und die Tür aufmachen. Das Zimmer war schließlich voller Frauen, und meine Mutter lag noch immer auf ihrer alten, zerschlissenen Matratze neben der Wand unter dem zugemauerten Fenster.
Weil damals der Preis für Metall so hoch war, hatte mein Vater schließlich seine Pläne aufgegeben, überall ordentliche Fensterrahmen einzubauen. Wozu braucht man auch so viele Fenster, hatte er sich wohl gedacht. Wichtiger war, dass es vor dem geschlossenen Fenster eine Fensterbank gab, auf der meine Mutter die Kleidung meiner Schwester und die Geschenke der Nachbarinnen ablegen konnte. Aber wo waren all die Geschenke geblieben, die all diese Frauen zu meiner Geburt mitgebracht haben? Hatte sie am Ende nichts davon behalten, sondern alles zum gleichen Anlass weiterverschenkt? „Wir haben nicht so viel Geld, um jeder Frau ein Geschenk zu machen, wenn sie ein Kind gebärt“, hatte mir meine Mutter einmal gesagt.
Ungefähr zwei Stunden nach der Geburt meiner Schwester hörte ich von draußen eine tiefe Stimme. Es war Vater.
Ich lief zur Tür und öffnete sie vorsichtig. Trotzdem