Raqqa an Rhein. Jabbar Abdullah
meine Mutter am Tag davor meine Uniform gewaschen hatte, die deshalb noch halb nass auf der Leine hing. Ohne sie in der Schule zu erscheinen, wäre undenkbar gewesen. Ich lief also damit in die Küche, um sie so rasch es nur ging auf dem Küchenherd zu trocknen. Als ich endlich damit fertig war, hörte ich bereits von weitem den Morgenappell, obwohl mein Elternhaus einen Kilometer von der Schule entfernt liegt. Hastig zog ich mich an und rannte los.
Meine Schule wurde von einer großen Mauer umgeben. Aber durch ein Loch in der Mauer konnte ich den ganzen Schulhof überblicken. Denn ich wollte natürlich sichergehen, dass der Schulleiter nicht gerade eine Inspektionsrunde dort drehte, sondern hoffentlich noch in seinem Zimmer saß und Tee trank, wie er es für gewöhnlich während des Unterrichts tat. Ich nahm also all meinen Mut zusammen und ging weiter bis zum meterhohen schwarzen Haupttor. Es war natürlich bereits zu, aber glücklicherweise nicht abgeschlossen. Durch die Eisenstäbe sah ich nochmals ängstlich auf den Hof. Weiterhin kein Direktor in Sicht. Ich schlich also über den Hof, bis ich die Tür zu seinem Büro sehen konnte. Verschlossen. Also schnell weiter zu meinem Klassenzimmer. Ich klopfte, trat vorsichtig ein und erstarrte: dort stand der Schulleiter und sprach zur Schulklasse.
Ali war klein, untersetzt und kahl. Er kam nur gelegentlich zu uns, vor allem dann, wenn es Schwierigkeiten gab oder wieder einmal neue Regeln oder Vorschriften erlassen worden waren. Worum es allerdings an diesem Tag ging, weiß ich nicht mehr. Aber es gab ein Problem und Ali war sauer. Seine Stimme klang heiser. Wie üblich hatte er seinen Stock in der Hand, einen Besenstiel. Im Klassenraum war kein Ton zu hören, alle Schüler saßen ‚gesund‘. Diese Haltung beherrscht auch heute noch jedes syrische Schulkind. Es bedeutet, kerzengerade zu sitzen, die Arme vor dem Bauch verschränkt.
In jedem Klassenraum standen etwa fünfzehn Schulbänke, wie sie auch früher in Deutschland üblich waren. Daran saßen jeweils zwei bis drei Schüler. In einer Ecke des Klassenzimmers, vor der ersten Bankreihe, hatte sich der Lehrer aufgestellt, und vor ihm standen drei Jungs mit roten Gesichtern. Ich vermute, sie waren geschlagen worden. Einer von ihnen hatte zusätzlich einen kahl rasierten Streifen am Kopf, eine übliche Strafe für Schüler, die etwas Unerlaubtes getan hatten oder deren Haare länger als offiziell erlaubt waren.
Kaum hatte mich der Schulleiter erblickt, deutete er stumm auf die drei an der Wand stehenden Schüler. Er war an diesem Tag nur gekommen, um unsere Frisuren zu kontrollieren. Gott sei Dank hatte mich meine Mutter erst zwei Tage zuvor zum Frisör geschickt, sonst wäre es mir wie meinen Mitschülern ergangen. Ich folgte der Handbewegung des Schulleiters. Wir brauchten ihn nur aus der Ferne zu sehen, um Angst zu bekommen.
Ali fuhr in seiner Rede fort und zitierte dabei jeden Schüler einzeln zu sich nach vorne. Dabei bewegte er seinen Stock auf und ab und wir alle wussten dann schon, was uns blühte. Jeder von uns, so kündigte er an, werde nun sechs Schläge auf die Handfläche erhalten. Der erste Junge trat vor und streckte dem Schulleiter eine Hand entgegen. Als der Stock niedersauste, zog das Kind sie natürlich im Reflex zurück. Ali packte sie und drohte: „Jeder, der seine Hand wegzieht, kriegt drei Schläge extra verpasst“.
Schließlich war ich an der Reihe. „Warum bist du zu spät gekommen?“ Ich erzählte ihm die Geschichte von meiner nassen Schuluniform. „Das ist keine Entschuldigung“, sagte er nur knapp und bevor er noch seinen Satz zu Ende gesprochen hatte, hatte ich links und rechts eine sitzen. Ich setzte mich mit hochrotem Gesicht wieder auf meinen Platz. Mit festem Griff umfasste ich die kalten Eisenstangen des Schulpultes, um mit den Händen den Schmerz meiner glühenden Wangen wenigstens etwas zu lindern. So machten wir es jedes Mal, wenn wir bestraft wurden.
Wie ich bereits erwähnte, arbeiten die meisten Dorfbewohner in der Landwirtschaft. Allerdings ziehen es die jungen Leute in den letzten Jahren vor, einen Universitätsabschluss zu machen, statt in die Fußstapfen ihrer Eltern zu treten. Jedes Dorf hat mehrere sogenannte Schawische, Vorarbeiter, die im Auftrag der Grundbesitzer jeweils zusammen mit bis zu dreißig Frauen auf die Felder gehen und das Einbringen der Ernte beaufsichtigen sollen. Ein Tagesablauf sieht dann in etwa so aus, dass die Frauen von morgens früh gegen fünf Uhr bis mittags auf den Feldern arbeiten. Im Sommer wird es dann zu heiß, um weiter zu arbeiten. Deshalb ruht die Arbeit für drei Stunden. In dieser Zeit fahren die Frauen nach Hause, um sich auszuruhen und zu stärken. Am Nachmittag fährt das Ernteteam erneut raus, bis die Arbeit gegen sieben Uhr endgültig endet.
Einer meiner Onkel ist seit vielen Jahren ein solcher Schawisch. Noch immer habe ich das allmorgendliche Hupen seines weißen Honda-Transporters im Ohr. Er kam noch in der Dämmerung, um die Frauen im Dorf einzusammeln. Sie stiegen auf die offene Ladefläche, hockten sich hin oder blieben stehen. Täglich sah ich, wie sie mit meinem Onkel zur Arbeit fuhren und wieder zurückkehrten.
Oft hat mein Onkel mir von den Schwierigkeiten seiner Arbeit berichtet. Viele Frauen brachten ihre Probleme von zu Hause mit, und er musste dafür sorgen, dass sie während der gemeinsamen Arbeitszeit trotzdem miteinander auskamen. Trotzdem war mein Onkel immer fröhlich und deshalb auch bei allen beliebt. Viele Frauen wollten in seinem Team arbeiten, obwohl der Lohn nicht sehr hoch war und sie um jeden Bissen Brot kämpfen mussten. Sie waren dennoch zufrieden und sagten sich, es sei besser, im eigenen Land zu arbeiten, statt als Gastarbeiterinnen in den Libanon zu gehen.
Einige dieser Frauen waren Studentinnen, die in der Sommersaison zusammen mit ihren Müttern und Schwestern arbeiteten, um so ihr Studium zu finanzieren. Die Mütter jedoch haben zusätzlich viele andere Aufgaben. Dazu gehört auch, jeden Morgen in aller Frühe frisches Brot aus den Bäckereien zu holen. Diese öffnen bereits um vier Uhr und schließen um acht. Während dieser Stunden dienen sie zugleich als Treffpunkt und Nachrichtenbörse.
Wie gut duftete das Brot, das unsere Mutter uns von dort mitbrachte! Meistens bin ich nur deshalb früh aufgestanden, um es noch ofenwarm essen zu können. Begleitet nur von einem Glas schwarzen Tee, heiß und süß, war es der pure Genuss. Ich vermisse dieses morgendliche Ritual, diese Atmosphäre der Ruhe und Frische. Ich vermisse die Stimmen und das helle Lachen der Frauen auf ihren morgendlichen Wegen. Und den Joghurt, den unsere Mutter regelmäßig frisch ansetzte. Am meisten jedoch fehlen mir aber unsere Gespräche, wenn wir zusammen auf der Terrasse saßen und sie mir, in eine warme Decke gehüllt, beim Frühstück Gesellschaft leistete. Auch später noch, als ich bereits studierte und während der Semesterferien aus Aleppo nach Hause kam, habe ich diese Momente unter der Weinlaube sehr genossen. Manchmal stießen ein Nachbar oder eine Nachbarin dazu. Dann plauderten wir zu dritt über die Lebensmittelpreise, gemeinsame Bekannte und die Lage im Land, kurz über Allah und die Welt.
Unser Garten, der nicht geflüchtet ist
Das Letzte, was ich bei meiner Flucht aus Syrien aus dem Busfenster heraus sah und woran ich auch hier in Deutschland noch alle zehn Tage denken muss, sind die Bäume neben unserem Haus.
Es waren einhundertneunundneunzig Olivenbäume, dazu fünf Granatapfelbäume und ein Feigenbaum, der auch heute noch der größte im ganzen Viertel ist. Ich nannte ihn den „Mann“, weil er, anders als die übrigen, „weiblichen“, Bäume, seine Früchte abwarf, bevor sie reif wurden. Wie jene blühte zwar auch er, und seine Feigen begannen auch zu reifen und ihre endgültige Farbe anzunehmen. Aber nach genau zwei Monaten fiel eine nach der anderen ab. Jeden Morgen fanden wir Hunderte auf dem Boden. Um den dicken, knorrigen Stamm herum lagen sie einen Zoll hoch.
Im Sommer breitete meine Mutter, um der Hitze im Haus zu entkommen, im Schatten dieses Baums eine alte, ausgefranste Matte aus. Kaum hatte sie sich darauf niedergelassen, kamen auch die Nachbarinnen eine nach der anderen an und setzten sich zu ihr. Manche hatten sich ein paar Küchen- oder Näharbeiten mitgebracht, die sie in dieser Gemeinschaft erledigen wollten. Fidda hackte Tomaten, meine Mutter klopfte mit einem langen, dünnen Stock die Wolle, Zahra stopfte ein Loch in der Kleidung ihres Mannes, und die Kinder spielten entweder zwischen den Olivenbäumen oder kletterten auf den Feigenbaum. Eines Samstags band meine Mutter eine Wäscheleine mit dem einen Ende an einen Ast des Feigenbaums, das andere befestigte sie an einem Pflock, den mein Bruder tief in den Boden gerammt hatte. Freitags und samstags hing diese Leine voller Kleidungsstücke, und diejenigen, die dort keinen Platz mehr fanden, breitete meine Mutter über die Zweige des Feigenbaums oder der fünf Granatapfelbäume daneben.