Raqqa an Rhein. Jabbar Abdullah

Raqqa an Rhein - Jabbar Abdullah


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Vater stand noch im Hof, unterhielt sich mit einem Passanten. In seinen Händen hielt er drei blaue Tüten. Mein ganzes Interesse galt plötzlich dem Inhalt dieser Tüten, in denen ich etwas Leckeres vermutete. Man konnte nämlich schon an der Form erkennen, dass in einer davon Bananen sein mussten. Ich versuchte vergeblich, sie aus seinen großen Fingern zu lösen. „Jabbar, lass jetzt die Tüten“, sagte mein Vater, als er seine Unterhaltung endlich beendet hatte. „Wie geht es deiner Mutter?“.

      Ich berichtete ihm die Neuigkeiten und erzählte auch von den Frauen, die gekommen waren: Dalal, Kabna, Fatha, Zahra und all die anderen. Er lächelte und gab mir eine Banane aus der Tüte. Ich sollte sie jedoch draußen essen, um mich nicht mit den Nachbarskindern zu streiten, die sich natürlich alle im Haus bei ihren Müttern tummelten. Doch ich lief stattdessen in die Küche und legte die Banane in einen Topf, um sie später zu essen.

      Mein Vater betrat das Wohnzimmer, ich folgte ihm. Die Frauen begannen mit den üblichen Glückwünschen, und wir dankten jeder einzelnen. Mein Vater setzte sich genau dorthin, wo ich vorher gesessen hatte und bat mich, ihm ein Glas Tee zu bringen. Ich reichte es ihm und lief dann schnell zurück in die Küche, um nach meiner Banane zu schauen. Als ich zurückkam, hatte mein Vater sein Glas bereits geleert. Er trinkt sehr gerne Tee. Allerdings bat er mich nicht, sein Glas wieder aufzufüllen, wie er sonst getan hätte, wohl weil er gerade so in sein Gespräch mit Zahra vertieft war. Sie unterhielten sich vermutlich über Dinge wie Weizenanbau, schlechte Ernten oder auch darüber, wie schwer es sei, die Kredite zu tilgen.

      Auch die Nachbarin hatte ihren Tee fast ausgetrunken, so schien es mir. Da Zahra das Glas in ihrer großen, dunklen Hand hielt, konnte ich das nicht genau erkennen. Doch als sie sich an der rechten Schulter kratzte, musste sie es auf den Boden stellen. Es war tatsächlich schon leer. Ich holte also rasch die Teekanne, die in der Mitte des Raumes auf einem alten, schon etwas rostigen Tablett stand. Mein Vater sagte: „Gieß bitte vorsichtig ein, damit du nichts verschüttest und womöglich Zahras Hände verbrühst!“ Ich goss den Tee in hohem Bogen ein und da der Tee bereits gesüßt war, schäumte er. Viele Leute mögen ihren Tee so, gilt doch ein schöner Schaum auch als Zeichen der besonderen Wertschätzung der Gäste. Auf die gleiche Weise füllte ich danach auch Vaters Glas wieder auf.

      Alle Gäste saßen auf dem Boden, denn in diesem Raum gab es weder Tisch noch Stühle, sondern nur einen großen Teppich sowie viele breite und schmale Kissen. Meine Mutter legte im Winter noch ein paar Matratzen auf den Teppich, um sich vor der Kälte zu schützen, die vom Boden her heraufkroch. Sie hatte sie von einem fahrenden Händler aus Aleppo erworben. Einen ganzen Monat hatte sie als Erntehelferin gearbeitet, um das Geld dafür zusammenzusparen.

      Die Nachbarinnen machten sich schließlich eine nach der anderen wieder auf den Weg nach Hause. Und jede einzelne von ihnen wurde von meinem Vater persönlich verabschiedet. Manchmal begleitete er sie sogar bis zum Gartentor, um das Gespräch noch zu beenden. Als dann endlich alle fort waren, setzte er sich zu meiner Mutter, ganz nahe an ihren Kopf. „Wie geht es dir? Geht es dir besser? Ich habe Bananen mitgebracht. Iss davon, sie geben dir neue Kraft“. Als ich das hörte, erinnerte ich mich wieder an meine Banane. Ich rannte in die Küche und aß sie schnell auf, in der Hoffnung, ich bekäme noch eine neue.

      Als ich zurück ins Zimmer kam, waren alle Besucher fort. Nur meine Mutter und mein Vater saßen noch auf ihren Plätzen. Mein Vater näherte sich meiner kleinen Schwester und berührte ihre feinen Gesichtszüge mit seinen großen Fingern. Sie schlief ganz ruhig weiter. Vater schälte eine der Bananen und reichte sie meiner Mutter. Ich legte mich neben sie. Sie biss ein kleines Stück von der Frucht ab. „Hast du auch eine Banane bekommen?“, fragte sie mich. „Ja, ich habe ihm schon eine gegeben“, antwortete mein Vater und machte sich sodann auf den Weg, um das Wudu durchzuführen, die rituelle Waschung. Denn er hatte an dem Tag bisher weder das Zuhr- noch das Asr-Gebet gesprochen, also das zweite und dritte der fünf obligatorischen Gebete im Islam.

      Als er weg war, brach meine Mutter ein großes Stück von ihrer Banane ab und gab es mir. „Bring mir bitte ein Glas Wasser aus dem Thermobehälter“, bat sie mich dann. „Aber das Wasser ist nicht mehr kalt“, erwiderte ich. „Dann lauf rüber zu Dalal und hol neues Eis.“

      Damals besaßen wir nämlich noch keinen Kühlschrank. Meine Mutter benutzte stattdessen kleine Metallbehälter, in denen sie bei der Nachbarin, die schon einen Kühlschrank hatte, Wasser gefrieren ließ. Im Nu war ich von dort zurück, füllte rasch einige Eiswürfel in unseren blauen Thermobehälter und schon nach fünf Minuten konnte ich meiner Mutter ein Glas kühles Wasser reichen. Sie trank es in einem Zug. „Wir werden das Mädchen Iman nennen“, sagte sie dann. „Was denkst du, ist das ein guter Name?“ Ich nickte eifrig.

      In diesem Moment kam mein Vater zurück und ich rief rasch: „Wir werden das Baby Iman nennen!“.

      „Wer hat denn diesen Namen ausgesucht?“

      „Mama“.

      „Ein schöner Name!“

      Er bat mich, ihm seinen Gebetsteppich zu bringen. Ich zeigte mit meinem Finger darauf, denn er lag bereits neben ihm, unter dem großen Bild von Hafiz Al-Assad, dem Vater des heutigen Diktators. Ich weiß nicht, wie dieses Bild zu uns gekommen war, denn mein Vater war gar kein Mitglied der Baath-Partei. Ich habe es jedenfalls nie gemocht. Es war wie ein Fremdkörper in unserem Haus. Vielleicht hatte der Vorsitzende des örtlichen Parteibüros solche Porträts an die Haushalte verteilt? Höchstwahrscheinlich war es damals wie heute sicherer, so ein Bild an der Wand hängen zu haben. Das Bild stellte Hafiz in den 1980er Jahren dar, vermutlich etwa zur Zeit des Massakers von Hama im Jahr 1982.

      Als Reaktion auf einen Aufstand der Muslimbrüder hatten damals die Regierungstruppen die etwa 350.000 Einwohner zählende mittelsyrische Stadt unter Beschuss genommen. Der Angriff begann am 2. Februar 1982. In den folgenden drei Wochen starben – die Schätzungen variieren – 20.000 bis 30.000 Menschen. Zehntausende weitere wurden verhaftet oder gelten bis heute als vermisst. Große Teile der Stadt, insbesondere der historischen Altstadt, lagen in Schutt und Asche. Bis heute sind die Ereignisse von damals – in Syrien werden sie nur als Ahdath Hama, „die Ereignisse von Hama“ umschrieben – ein Tabuthema.

      In meiner Kindheit war das Porträt von Hafiz Al-Assad allgegenwärtig: in den Schulen, auf Straßenplakaten, sogar auf den Schulbüchern und -heften der Kinder. Nach dem Tod des Vaters im Jahr 2000 ist es nun das Bild seines Sohnes Baschar, das überall zu sehen ist. Ich erinnere mich noch an ein dickes, blaues Heft, das von allen nur „Das Heft, das 100 Seiten hat“ genannt wurde. Vorne auf dem Umschlag war, kreisrund umrahmt, oben rechts ein Foto von Hafiz Al-Assad zu sehen. Genau das gleiche Bild erschien auch auf allen Zeugnissen. Damals wusste ich nicht, was dieser Name bedeutete, aber was ich wusste war, dass sein Name in der Schule bei jeder Feierlichkeit und jedem Morgenappell erklang.

      Alle Schüler mussten sich zwei oder drei Mal am Tag in Reihen auf dem großen Schulhof aufstellen, nach Klassen geordnet, davor standen dann die Klassenlehrer und der Schulleiter. Außerdem gab es wie in jeder Schule Syriens einen jener Lehrer in Uniform, dessen einzige Aufgabe darin bestand, die Schüler einmal in der Woche in militärischen Dingen zu unterweisen. Dazu gehörte insbesondere der Waffengebrauch. In dem dazugehörigen Schulbuch stand zum Beispiel sehr viel über Kalaschnikows. Das russisch-sowjetische Maschinengewehr war auch in Syrien sehr bekannt und die Hauptwaffe der Armee. In unserem Buch gab es detaillierte Zeichnungen dazu, mit genauen Erläuterungen zu allen Einzelteilen, auch von anderen Gewehren und Pistolen. Wir mussten das ganze Zeug auswendig lernen.

      Beim täglichen Morgenappel wiederholten wir alle Befehle im Chor und mussten dazu auch die dazu passenden Bewegungen machen. Manche Schüler waren dabei jedoch nicht so laut, wie es sich Militärlehrer und Schulleiter wünschten. Also mussten sie die Befehle so lange rufen, bis auch noch der letzte Mensch am anderen Ende des Dorfes ihre Stimmen vernommen hatte.

      In Syrien mussten alle Schüler bis etwa 2005 Militäruniformtragen, bis zum Abitur. Erst auf Druck der UN wurde das abgeschafft. Später auf der Universität gab es dann zwar keinen Uniformzwang mehr, doch musste jeder Student zweimal während seines Studiums für drei Wochen in ein richtiges Militärlager. Wer an diesen Trainings nicht teilnahm, bekam seinen Abschluss nicht. Frauen waren allerdings von dieser


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