Raqqa an Rhein. Jabbar Abdullah
Es war bereits sieben Uhr morgens, und durch die Sucherei verspätete ich mich immer weiter. Dreimal kletterte ich auf den Baum: Beim ersten Mal sah ich zwischen den Zweigen nach, beim zweiten inspizierte ich von oben, ob der Wind die Jacke vielleicht in die Nachbarbäume getragen hatte, und beim dritten wollte ich mich nur noch einmal vergewissern und jeden Zweifel ausschließen. Mein Freund Mahmud, der wie üblich an der Haustür auf mich gewartet hatte, ging schon einmal vor.
Als ich nach dem letzten Nachschauen eilig vom Baum hinuntersprang, blieb ich mit dem Fuß zwischen den Astansätzen am Stamm hängen und berührte dort etwas, das sich weder wie Blätter noch wie Erde anfühlte. Ich zog meinen Fuß wieder heraus, und da steckte meine Jacke zusammengeknüllt in einer Astgabel. Ich war mit der Schuhsohle genau auf das Bild von Hafiz Al-Assad gerutscht, das auf die linke Brustseite gedruckt war. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Mein Schuh hatte einen hässlichen Abdruck hinterlassen. Schnell nahm ich die Jacke mit ins Bad und wusch die beschmutzte Stelle gründlich mit Wasser und Seife aus. Mir zitterten die Hände. Was, wenn das Bild des Präsidenten so schmutzig blieb und alle Leute auf dem Schulweg es bemerkten, wenn der Direktor, der Lehrer und die übrigen Schüler es sahen?
Im ersten Durchgang bekam ich die Jacke nicht sauber, im zweiten aber konnte ich den Fleck zu drei Vierteln entfernen, und im letzten triumphierte ich endgültig über den Schmutz, und das Gesicht des Präsidenten strahlte wieder. Ich gelobte mir, niemandem davon zu erzählen, denn in Syrien haben die Bilder des Präsidenten picobello zu sein. Dafür zu sorgen ist auch für die Schulkinder wichtiger als der Unterricht.
Sein Konterfei ist, damals wie heute, an den Schulen allgegenwärtig: auf den Uniformen, Lehrbüchern, Heften und sogar auf den Stiften. Selbst über dem Schulhof sind lange Schnüre von Ast zu Ast gespannt, an denen sein Porträt befestigt ist. In jeder Klasse hängen über der Tafel drei Porträts, ein großes des Präsidenten in der Mitte und rechts und links zwei etwas kleinere von seinen Söhnen.
Dass es sich bei unserem Feigenbaum um ein männliches Exemplar handelte, das in seiner Sturheit jedes Jahr wieder sämtliche Früchte vor der Reife abwarf, ärgerte meinen Vater offenbar sehr. Dieses seiner Ansicht nach unnatürliche Fortpflanzungsverhalten war ihm derart zuwider, dass er dem Baum einmal sogar mit einer scharfen Axt einen großen Spalt in die Lende schlug und ihm ein Bündel abgeschnittener Zweige aufpfropfte, das er von einer Feige beim Haus meiner Onkel mütterlicherseits geholt hatte, die für ihre guten Früchte bekannt war. Ein ganzes Jahr warteten wir, ob der Baum jetzt wohl mit vielen Feigen schwanger gehen und sie nicht mehr abwerfen würde wie in den Jahren zuvor. Doch die Behandlung blieb wirkungslos.
Mein Vater beschloss, den Baum zu fällen. Am nächsten Tag jedoch nahm er davon wieder Abstand und versuchte es stattdessen mit einer neuen Methode, von der er bei einem neunzigjährigen Bauern namens Chalil gehört hatte. Der erklärte ihm nämlich, der Baum halte seine Früchte nicht bis zur Ernte fest, weil er an Eisenmangel leide ... Daraufhin fuhr mein Vater in die Werkstatt meines Bruders, der in der Nachbarstadt Mansura als Schmied arbeitete, und besorgte sich dort zwanzig Kilo Eisenabfälle und fünf Kilo dünne Eisenspäne.
Ich meinerseits karrte drei Fuhren Schafmist von dem großen Haufen heran, den meine Mutter drei Jahre lang aufgetürmt hatte, um ihn irgendwann einmal an einen Händler aus Hama zu verkaufen. Der zahlte nämlich einen besseren Preis für den Mist als der örtliche Händler. Der Mann hatte sich jedoch nie blicken lassen, dafür war der Krieg ausgebrochen, mein Vater hatte sämtliche Kühe und Schafe verkauft, und die Mistknödel blieben unter den Militärfahrzeugen Assads und des IS sowie später unter den amerikanischen Humvees kleben und wurden von ihnen in alle Richtungen verteilt. So wurde der Haufen in sieben elenden Kriegsjahren immer kleiner, und meine Mutter bereute es sehr, den Mist nicht an den örtlichen Händler verkauft zu haben. Dem Auftrag meines Vaters folgend griff ich zu Hacke und Spaten und legte die Wurzeln des Baums frei. Sie waren dick und hart und reichten tief in den Boden hinein.
Anschließend breitete ich, ebenfalls nach Anweisung meines Vaters, zuerst eine Schicht Eisen aus, dann eine Schicht Mist, dann wieder Erde, dann wieder Mist, dann Eisen, dann Erde, dann Eisen, dann Mist, dann wieder Erde. Danach rollten mir dreiundsechzig Schweißperlen vom Gesicht, zu denen jeder Hieb und Spatenstich seinen Beitrag geleistet hatte. Die Grube füllte sich, bis der Boden wieder so eben war wie zuvor. Mit der überschüssigen Erde legte ich eine große Baumscheibe um den Stamm an und wässerte sie.
In der Hoffnung, dass der Baum nun tragen würde und wir aus seinen Früchten Marmelade kochen, einen Teil an die Nachbarn und Verwandten verteilen, dem Bauern Chalil als Dank für seinen Rat etwas abgeben und den Rest verkaufen könnten, warteten wir ein weiteres Jahr. Der Baum blühte und setzte Früchte an. Und wie in den vergangenen Jahren fielen sie vor unseren Augen ab.
Da beschloss mein Vater, ihn abzusägen und von neuem emporwachsen zu lassen, vielleicht würde er dann sein Verhalten ändern und zur Frau werden, die wie die übrigen Bäume trug. Mit einer Zweimannsäge, die er sich von unserem Nachbarn Hussain geliehen hatte, sägten er und mein großer Bruder, der über kräftige Muskeln und einen festen Willen verfügt, drei Stunden lang an dem Baum herum, bis er bezwungen war und umsank.
Als meine Mutter mit einem großen Tablett auf dem Kopf, von dem es nach gekochten Auberginen und geschnittenen Gurken duftete, aus der Küche kam, sah mein schweißüberströmter Vater sie mit dem triumphierenden Blick eines Mannes an, der gerade einem Baum, den ich seit meiner Kindheit kannte, das Leben genommen hatte. Die Gelegenheiten, zu denen ich in seine Äste geklettert war, waren zahlreicher gewesen als die Seiten in meinen Schulbüchern, zahlreicher als die Bilder von Hafiz Al-Assad oder später von Baschar, die darin abgedruckt waren.
Zwei Jahre später jedoch war der Baum wieder so groß, als wäre er niemals abgesägt worden, trug die mir vertrauten Früchte und warf sie bald darauf wieder ab. Da wurde mein Vater so wütend, dass er beschloss, den Baum erneut abzusägen und zusätzlich noch einen Kanister Diesel darüber zu gießen und ihn niederzubrennen, damit er nie wieder hochwachsen könnte. Gesagt, getan.
Die Rauchsäule stieg bis in den Himmel und war noch am anderen Ende des Dorfes zu sehen wie eine Seele, die in den Himmel auffuhr. Zwei Jahre später allerdings war der Baum aus dem Stumpf wieder ausgetrieben, als wäre er nie abgesägt und verbrannt worden und als hätte er nie Diesel getrunken. Und wie früher wurde er wieder zum „Mann“, der seinen Früchten kein Leben gönnte.
Im Jahr 2004 erweiterten wir die Mauer des Gartens um dreißig Meter in Richtung Osten. Dort lag kahles, ödes Land, das niemandem wirklich gehörte. Wir setzten viele junge Olivenbäume, sodass wir schließlich einhundertneunundneunzig Olivenbäume, einen großen Feigenbaum und fünf Granatapfelbäume besaßen. Der Abstand zwischen den Bäumen war mit drei Metern so groß, dass wir alle zwei Jahre mit dem kleinen Trecker eines Verwandten zwischen ihnen hindurchfahren konnten, um den Boden zu pflügen.
Meine Mutter hielt meinem Vater ständig vor: „Du hättest vier Meter Abstand lassen sollen, dann könnten wir jetzt mit einem großen, starken Traktor pflügen, der auch das Unkraut ausreißen und den Boden tiefer umwerfen würde.“ Mein Vater hatte darauf immer dieselbe Antwort: Vier Meter Abstand zwischen den Bäumen hieße weniger Bäume und infolgedessen weniger Oliven.
Im Jahr 2012 half ich meiner Familie bei unserer letzten Olivenernte vor dem Ausbruch des Krieges und unserem Aufbruch ins Exil. Jedes Jahr hatten wir vier Tage für die Ernte reserviert. Nacheinander fanden sich Nachbarn und Freunde ein, einige kletterten auf Leitern oder an den Stämmen hoch und schüttelten die Oliven auf den Boden, andere sammelten sie in große Säcke, und eine dritte Gruppe setzte sich kurz zu uns, trank im Schatten der Bäume mit uns Tee, erzählte ein paar Geschichten und ging dann wieder ihrer Wege.
Meine Mutter wollte nicht, dass wir mit langen Stöcken von unten gegen die Zweige schlugen, um an die Oliven zu kommen. Sie fürchtete, die Bäume könnten aufhören zu tragen oder im kommenden Jahr weniger Früchte ansetzen. Als wir mit der Ernte fertig waren, standen die großen Säcke mit den Oliven ungeordnet unter den Bäumen verteilt. Mein Vater bat mich, sie zu zählen. Es waren fünfzig volle Säcke und ein halb gefüllter. Mein Vater rief seinen Bruder an, der einen Transporter besaß, und verabredete mit ihm, in zwei Tagen zu der Olivenpresse in Aleppo zu fahren.
Ich sollte ihn begleiten,