Heißes Blut. Un-su Kim

Heißes Blut - Un-su Kim


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hatte mit dem Mann im Spiegel gesprochen, aber der starrte ihn nur trotzig an. Von Müdigkeit übermannt, ließ er sich aufs Bett fallen. Im Fernsehen, das die ganze Nacht über gelaufen war, pflanzte der Präsident gerade einen Baum. Huisus Kehle war wie ausgetrocknet, auch das lag am Schlafmangel. Er drückte seine Zigarette aus und blickte gedankenverloren auf den Bildschirm, wo das Präsidentenpaar gemeinsam diesen Baum pflanzte. Zwei weiße, gut genährte Hunde sprangen den beiden fröhlich um die Beine. In Mojawon, wo Huisu seine Kindheit verbracht hatte, wurden am fünften April, dem Tag des Baums, die Geburtstage aller Kinder gefeiert, ganz gleich, ob sie im Mai oder im Dezember geboren waren. Wenn die Beamten der Stadtverwaltung in den kahl geschlagenen Bergen ihre Bäume gepflanzt hatten, schenkten sie ihnen aus Mildtätigkeit ein kollektives Geburtstagsfest. Für etwa fünfzehn Kinder gab es dann einen Kuchen und sieben Kerzen. Warum ausgerechnet sieben, hatte er nie herausgefunden. Am Tag der Feier gab es im Wohlfahrtsheim Kinder unterschiedlichsten Alters, sie konnten fünf, aber auch schon elf Jahre alt sein. Vielleicht hatten die Beamten einen Altersdurchschnitt errechnet. Oder sie nahmen, ohne sich die Frage überhaupt zu stellen, einfach alle Kerzen, die der Bäcker dazugelegt hatte. Jedenfalls wurden die Kerzen angezündet, die Kinder sangen im Chor Happy Birthday to you, und dann zählten diejenigen, die keinen Vater hatten, bis drei und pusteten gemeinsam auf den kleinen Kuchen. Jetzt, an diesem nationalen Baumpflanztag, war die Erinnerung an all diese vergangenen Geburtstage plötzlich wieder da. Erinnerungen an seinen echten Geburtstag hatte Huisu nicht. Darum hatte sich nie jemand gekümmert. Nie hatte er einen Kuchen mit der seinem Alter entsprechenden Anzahl von Kerzen bekommen, und nie hatte ihm morgens jemand eine Algensuppe gebracht.

      Den Blick auf das Präsidentenpaar, die weißen Hunde und die jungen Tannen gerichtet, die so klein und zart waren wie Weihnachtsbäume, schlief Huisu ein.

      Um vier Uhr nachmittags wachte er auf. Das Telefon schrillte. Genervt ging er hin. Aus dem Hörer drang die Stimme von Mau, der so klang, als wäre etwas zutiefst Besorgniserregendes geschehen.

      »Was für eine Katastrophe, Großer Bruder Huisu! Großer Bruder Danka ist gekommen, er wütet im Foyer, er ist fuchsteufelswild! Er will wissen, wo Großer Bruder Huisu ist, er brüllt, dass er Sie umbringt, wenn er Sie findet, und fuchtelt mit einem Sashimimesser herum! Er ist blutüberströmt, die Gäste sind vor Angst weggelaufen, hier herrscht ein einziges Chaos!«

      Maus Worte summten wie Bienen in Huisus Ohren. Wut stieg in ihm hoch, aber er versuchte, sich zu beherrschen. Was er auch sagen würde, Mau würde es nicht verstehen.

      »Hat er jemanden verletzt?«

      »Nein.«

      »Warum blutet er dann so?«

      »Ich glaube, beim Rumfuchteln hat er sich selbst geschnitten. Also, er ist jetzt auch nicht wirklich blutüberströmt, aber ein bisschen geblutet hat er schon.«

      Huisus Ärger wuchs weiter, doch er hatte sich noch im Griff. Sein Arzt hatte ihm geraten, dass er wegen des Bluthochdrucks und der Magenprobleme Stress und Wutausbrüche vermeiden solle. Jenseits der vierzig hänge die Lebensqualität eines Menschen davon ab, wie sorgsam er mit seinem Körper umgehe. Er hatte ihn eindringlich vor Wutausbrüchen gewarnt, denn gerade Wut schade der Gesundheit am meisten. »Behalten Sie das immer im Hinterkopf. Stress ist noch schädlicher als soju und Tabak. Bei jedem Wutanfall verengen sich Ihre Arterien, und Ihr Leben verkürzt sich um einen Tag. Verstehen Sie?« An die Ratschläge des alten Arztes denkend, atmete Huisu tief durch.

      »Mau, hör auf, wegen etwas so Unwichtigem so ein Geschrei zu machen. Ich bin müde.«

      »Entschuldigung, Großer Bruder.«

      »Ich wasche mich jetzt. Sag Danka, er soll in einer halben Stunde hochkommen. Und bring mir einen Kaffee, aber schön stark.«

      Er wollte auflegen, doch Mau plapperte weiter.

      »Soll ich Ihnen nicht lieber eine Suppe bringen? Nach dem Saufgelage gestern muss Ihr Magen doch ganz ramponiert sein. Glauben Sie nicht, dass eine Suppe besser wäre als Kaffee? Byeongsus Mutter hat heute Morgen eine vorbeigebracht, die ist köstlich!«, ereiferte er sich.

      »Nur einen Kaffee, das reicht.«

      »Aber Sie müssen doch wahnsinnigen Hunger haben, wenn Sie keine Suppe wollen, bringe ich Ihnen ein Omelette, vielleicht mit ein bisschen Toast?«

      Und mit einem Mal konnte Huisu nicht mehr anders, die ganze Wut, die sich in ihm angestaut hatte, brach mit voller Wucht heraus: »Fuck! Du Schwachkopf! Ich habe dir gesagt, ein Kaffee reicht! Warum lässt du mich das mehrmals wiederholen, verfluchte Scheiße!«, brüllte er in den Hörer.

      »Entschuldigung, Großer Bruder. Ich bringe Ihnen den Kaffee sofort«, antwortete Mau, und seine Stimme klang, als sei alle Luft aus ihm gewichen.

      Mau arbeitete im Foyer am Empfang. Er ging schon auf die siebenundzwanzig zu. Der Name »Mau« war ein Spitzname, den sich die Leute ausgedacht hatten, weil er so viel belangloses Zeug redete, dass einem ganz mau davon werden konnte. Abgesehen von dem endlosen Geschwafel, das ihm wahrscheinlich in den Genen lag, war Mau kein schlechter Kerl. Er war zuverlässig, freundlich, ehrlich und fleißig. Noch nie hatte er im Hotel versucht, Geld zu unterschlagen oder mit den Zuhältern von Wollong zu mauscheln, die immer versuchten, ihre Nutten in die Bar oder den Karaoke-Keller zu schleusen.

      Als Huisu aus der Dusche kam, war Danka schon da, auf seinem Hemd ein paar Spritzer Blut. Ohne Huisu auch nur eine kurze Atempause zu gewähren, ging er gleich auf ihn los.

      »Ganz ehrlich, Großer Bruder, du und ich, wir haben ein Problem. Einen Riesen, hast du gesagt, hundert Millionen, was sollen jetzt diese siebenundachtzig Millionen? Neunzig ist neunzig, hundert ist hundert, ein bisschen Logik muss sein. Was ist das für eine miese Rechnung, bei der am Ende siebenundachtzig rauskommt, hm? Was hast du mit den dreizehn Millionen gemacht, hm? Scheiße, erklär mir das!«

      »Mensch, Danka, ging das nicht ein bisschen geräuschloser? Warum machst du jedes Mal, wenn du dich hier blicken lässt, so einen Aufstand?«

      »Du würdest mich doch sonst gar nicht empfangen, gib’s zu. Bei jedem Problem verschwindest du einfach, weil’s dir anscheinend am Arsch vorbeigeht.«

      »Was das Geld angeht, habe ich mich nicht selbst bedient, es war schon zu wenig, als ich’s bekommen habe. Husik hat nämlich auch noch die Bullen und die von der Stadtverwaltung geschmiert und Vater Kim eine Vermittlungsprovision gezahlt. Ich schwöre, wir haben für alles selbst nur einen Riesen bekommen«, sagte Huisu, während er sich mit dem Handtuch die Haare trocken rieb.

      »Großer Bruder, weißt du, wie viel ein Busticket heutzutage kostet? Oder ein Teller jjajangmyeon?«

      »Was soll der Scheiß?«

      »Du kapierst es nicht, Mann. Von diesen siebenundachtzig Millionen muss ich dreißig Jungs zusammentrommeln und für diesen Job in die hintersten Berge der Provinz Chungcheong karren. Findest du das in Ordnung?«

      »Was soll daran nicht in Ordnung sein? Wenn der Job erledigt ist, steckst du von den siebenundachtzig Millionen doch sowieso mindestens dreißig ein.«

      »Dreißig Millionen? Das Geld wird nicht mal die Kosten decken, da muss ich eigenes Geld zuschießen. Und zwar nicht zu knapp.«

      »Deckt nicht die Kosten? Zuschießen? Der Job dauert einen Tag! Mit ein bisschen gutem Willen kriegt man das ja wohl hin. Du bist doch eigentlich gut in solchen Dingen, unglaublich, dass du dich so anstellst!«

      Danka nahm einen Zettel und einen Taschenrechner aus der Hosentasche und legte beides auf den Tisch. »Hab’s genau durchgerechnet. Hier, sag mir, ob du eine Möglichkeit siehst, auch nur irgendwo zehn won zu streichen.«

      Huisi überflog das Blatt, auf dem alle Ausgaben gut überschaubar aufgelistet waren. »Fünf Millionen allein für die Vans? Für fünf Millionen bekommst du doch glatt einen neuen. Und warum fünf? Für dreißig Jungs? Hast du mir nicht gesagt, dass in einen zwölf Leute reinpassen? Drei Vans reichen, und da bleiben sogar noch sechs Plätze übrig.«

      »Von wegen, zwölf Leute in einen Van … Wenn du da zwölf von diesen Orang-Utans reinstopfst,


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