Heißes Blut. Un-su Kim

Heißes Blut - Un-su Kim


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sechzig Familien hier. Die Außenmauer, die aus roten Ziegeln von der amerikanischen Militärbasis bestand, war nicht gestrichen. Weil es keine Männer gab, waren die Gebäude in einem schlechten Zustand und die Schieferdächer stellenweise undicht. Die Unterkünfte bestanden jeweils aus einer Küche und einem kleinen Zimmer mit einem winzigen Fenster. Größe und Raumaufteilung waren immer dieselbe, ganz gleich, ob die Familie drei oder zehn Mitglieder hatte. Die Wände zwischen den Unterkünften waren so dünn, dass Huisu hören konnte, wenn der junge Nachbar auf der anderen Seite masturbierte.

      Abgesehen von dieser Küche und diesem einen Zimmer, wurde alles gemeinschaftlich genutzt: Toiletten, Duschen, Waschraum, Brunnen und Ruheraum, in dem der einzige Fernseher stand. Auch die Dinge des täglichen Bedarfs wurden geteilt: Heizkessel, Kohlebriketts, Waschbretter, Wannen, Seife. Man war in allem so sehr ans Teilen gewöhnt: Sogar wenn sich eine alte Hure mal einen Mann gekrallt hatte, holte sie ihn nach Mojawon, damit er dort für alle so etwas wie ein Vater sein konnte. Es geschah selten, war aber das eine oder andere Mal tatsächlich vorgekommen. Im Unterschied zu den Zuhälter-Freunden, die sich den ganzen Tag saufend in den Hinterzimmern der Bordelle verschanzten, waren die Männer, die den Frauen bis an die Hänge von Mojawon folgten, in der Regel fleißig und nett. Der hinkende Mun und auch Cheon mit seiner Hakennase waren solche Männer. Mun war Zimmermann, Cheon trat als Zauberer in Karaoke-Bars und Nachtlokalen auf. Besonders der hinkende Mun war extrem fleißig. An Regentagen und immer dann, wenn er nicht auf irgendeiner Baustelle gebraucht wurde, humpelte er über das Gelände von Mojawon und reparierte hier eine Pumpe, dort ein wackeliges Geländer oder einen kaputten Tisch. Sooft die Frauen von Mojawon ihn auch ansprachen, nie war er unfreundlich. Für ein Glas makgeolli dichtete er das Dach ab, für zwei gedämpfte Süßkartoffeln reparierte er in der Küche den Abfluss. Bejimile, die mit ihm zusammenlebte, führte sich in dieser ganzen Zeit wie eine Königin auf. Morgens ging sie als Erste – natürlich an der Schlange vorbei – auf die Toilette, und das gleiche Recht nahm sie sich an Brunnen und Dusche heraus. Niemand wagte es, sich darüber zu beschweren.

      Um den Kindern die Langeweile zu nehmen, gab Cheon, der Zauberer, hin und wieder eine Vorstellung, die er genauso sorgfältig vorbereitete wie für jedes Nachtlokal: Er stieg in sein Piratenkostüm, schminkte sich und setzte sich einen spitzen, langen Hut auf. Aus diesem Zauberhut kamen dann echte Tauben geflattert, und eine echte Geldmünze, die verschwunden war, tauchte unter dem Gesäß eines Kindes wieder auf. Höhepunkt der Show war der berühmte Trick, bei dem er ein Bonbon in seinem Auge verschwinden ließ und unter der schwarzen Klappe des anderen Auges wieder hervorzauberte, wobei aus dem einen Bonbon mehrere Dutzend wurden. Die Kinder waren begeistert. Sie sammelten die Bonbons ein und stopften sie in ihre Taschen und Münder. Cheons Magie mochte Illusion sein, die Bonbons waren real. Während sie in den Mündern zerschmolzen, linderte ihre Süße das Gefühl von Leere, das sich nach der wunderbaren Zaubervorstellung unweigerlich einstellte.

      Doch für alte Huren kann Glück nicht von Dauer sein. Eines Tages stolperte Mun hoch oben auf einem Gerüst. Sie brachten ihn mit gebrochener Wirbelsäule nach Mojawon zurück. Er hatte so viel für die Menschen dort getan; das Gefühl der Machtlosigkeit war schrecklich, sich nun, da er im Sterben lag, nicht bei ihm revanchieren zu können. Eine Woche lang stöhnte Mun. An einem Montagmorgen starb er dann. Was Cheon betraf, so verschwand er einfach eines Tages aus Mojawon, ohne ein Wort zu sagen. Man fand ihn tot auf einem Markt mit mehreren Messerstichen im Bauch. Er hatte wohl Drogen verkauft oder versucht, Schmuggelware zu unterschlagen, und sich dabei erwischen lassen.

      Insuk war dreizehn, als sie mit ihren sieben jüngeren Geschwistern nach Mojawon kam. Huisu hatte sich sofort in sie verliebt. Kurz nach ihrer Ankunft stand Insuk entsetzt vor den verwahrlosten Toiletten. Sofort marschierte sie los, füllte einen Eimer mit Wasser und machte sich entschlossen ans Putzen. Dann erst half sie allen Geschwisterkindern, ihr Geschäft zu verrichten. Noch nie hatte Huisu – außer im Fernsehen – ein so hübsches Mädchen gesehen, und er fasste es nicht, dass jemand wie sie sich in den schmutzigsten Toiletten südlich des Nakdong-Flusses zu einer derart niederen Tätigkeit herabließ.

      Die Arbeit von Insuks Mutter bestand darin, Aalen die Haut abzuziehen. Aus heutiger Sicht mag es seltsam erscheinen, doch damals wurde das Fleisch weggeworfen und nur die Haut an Fabriken verkauft, die daraus Portemonnaies und Gürtel herstellten. Es war eine schlecht bezahlte Arbeit, die viele Frauen trotzdem übernahmen, weil sie das Aalfleisch anschließend selbst grillen oder an die vielen Buden am Strand verkaufen konnten. Weibliche Arbeitskräfte waren zu dieser Zeit unendlich billig, und die Mütter von Mojawon mussten Tag und Nacht schuften. Weil auch Insuks Mutter deshalb nie zu Hause war, musste sie sich mit ihren dreizehn Jahren um die Geschwister kümmern. Blieb nach dem Kochen und Wäschewaschen noch etwas Zeit, half sie der Mutter beim Zerlegen der Aale. Selbst mit abgezogener Haut lebten diese armen Tiere noch. Das zuckende, sich windende Fleisch, rot und blutverschmiert, war ein furchtbarer Anblick. Insuk packte sie mit nackten Händen und warf sie in den Eimer. Sie war erst dreizehn.

      Auch Huisu war dreizehn. In der Hoffnung, einen Blick auf ihren Hintern zu erhaschen, hatte er mit dem Schraubenzieher Löcher in die Sperrholzwand des Frauenklos gebohrt. Manchmal kauerten er und seine Freunde auf der anderen Seite dieser stinkenden Wand und warteten auf Insuk. Es kam auch vor, dass er Geld aus dem Portemonnaie seiner Mutter klaute, um sich Zigaretten zu kaufen. Und manchmal streifte er auf dem internationalen Markt durch die Gassen und suchte nach japanischen Porno-Mangas; die kaufte er von dem Geld, das er sich beim Murmelspielen gegen Kinder aus anderen Vierteln verdiente. Als ihn eines Tages die Polizei nach Mojawon zurückbrachte, weil er im großen Supermarkt von Chungmudong eine Schachtel Pralinen gestohlen hatte, brach seine Mutter in Tränen aus und sagte, dass er wirklich der Sohn seines Vaters sei.

      Während Huisu noch ein Kind war, kümmerte sich Insuk wie eine Erwachsene um ihre sieben Geschwister. Dieser Gegensatz war der Grund, warum sie ihm nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Wenn sie im Hof von Mojawon mit ihrem Eimer voll Fischhaut an Huisu und seinen mit Murmeln spielenden Freunden vorbeikam, hatte sie nur einen verächtlichen Blick für sie übrig. Aber Verachtung war nicht der Hauptgrund für ihre Distanz zu den anderen Kindern. Insuk war schlicht und einfach zu beschäftigt, um mit ihnen zu spielen.

      CHEF OG IST LINKSHÄNDER

      Hinter einem der Fischzucht-Container unweit des kleinen Hafens von Baekji lag ein blutüberströmter Mann. Es war Chef Og, Inhaber der Wäscherei. Sein Gesicht war so übel zugerichtet, dass er kaum zu erkennen war. Mit gefalteten Händen murmelte er leise vor sich hin. Wer die Ohren spitzte, konnte verstehen, was er sagte:

      »Lieber Gott im Himmel, bitte vergib mir, ich bin ein armer Sündiger. Wenn ich heute sterbe und ins Paradies komme, verspreche ich dir, dass ich von Amphetaminen für immer die Finger lasse, und auch das Glücksspiel werde ich sein lassen, für immer. Das verspreche ich dir, lieber Gott. Im Paradies werde ich als neuer Mensch wiedergeboren.«

      Über Stunden zog sich diese Litanei nun schon hin. Dodari stand entnervt auf und gab Chef Og ein paar Tritte in den Magen. »Den ganzen Tag salbaderst du nun schon herum, du Wichser, ich hab die Schnauze voll.«

      Brüllend vor Schmerz wälzte sich Chef Og auf dem Boden, unterbrach seine Gebete aber nur kurz, sogar die Hände hielt er weiter gefaltet. »Lieber Gott, endlich habe ich armer Sünder dich in dieser Stunde meiner letzten Prüfung gefunden. Am heutigen Tag, da ich sterben muss, will ich ins Paradies einkehren und flehe dich an, mich nicht abzuweisen. Wenn du dem Sünder, der ich bin, deine Barmherzigkeit zuteilwerden lässt, entsage ich dem Glücksspiel, ich werde auch keine Amphetamine mehr nehmen, und ich verspreche dir, dass ich im Paradies als neuer Mensch vor dich hintreten werde, um in deinem Reich dein Untertan zu sein.«

      Dodari brach in schallendes Gelächter aus. »Machen Sie sich keine Sorgen, Chef Og, im Paradies gibt’s keine Pachinko-Automaten. Dachten Sie, im Paradies wär’s wie in Las Vegas? Also, wenn Leute wie Sie anfangen, ins Paradies zu kommen, wird’s in der Hölle echt einsam, dann können die den Laden dichtmachen.«

      In diesem Moment kamen Vater Son und Huisu dazu. Huisu machte eine Grimasse, als er Chef Ogs entstelltes Gesicht sah. Vater Son trat zu ihm, und sofort umklammerte Chef Og verzweifelt sein Bein wie ein rettendes Seil, das plötzlich vor einem von der Felswand


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