Haushaltsnahe Dienstleistungen für Familien. Mareike Bröcheler
67) und dann als „Arrangement der einzelnen Arrangements“ (Voß 1995: 32) zusammenzuführen sind. Schließlich kann so auch zwischen unterschiedlichen Formen der Lebensführung unterschieden werden.
3) Alltägliche Lebensführung als Handlungssystem der Person: Die Integration aller Tätigkeiten ist die Hauptaufgabe der alltäglichen Lebensführung als Handlungssystem. Sie ist damit das fundamentale und wichtigste System für Individuen als Teil einer Gesellschaft, vermittelt zwischen diesen beiden Sphären. Das Handlungssystem ist unmittelbar an die Person gebunden, also nicht losgelöst zu betrachten oder auf andere Personen übertragbar.
4) Alltägliche Lebensführung als aktive Konstruktion und Leistung: Die Bindung an die Person verweist bereits darauf, dass alltägliche Lebensführung situations- und kontextadäquat „aktiv konstruiert, alltäglich praktiziert und erhalten sowie […] bei Bedarf auch modifiziert werden muss“ (Jurczyk, Voß, Weihrich 2016: 69; Herv. i. Orig.). Es handelt sich dabei um ein strukturiertes Verfahren zur Alltagsgestaltung, welches reflexiv und unbewusst angewandt wird. Dies geschieht zwar in Abhängigkeit der Lebenslage von Personen, wird jedoch in aktiver Auseinandersetzung und daher individuell verschieden ausgearbeitet und lässt einen stabilen Bezugsrahmen entstehen.
5) Die Eigenlogik des Systems alltägliche Lebensführung: Trotz des Charakters einer aktiven Herstellungsleistung ist alltägliche Lebensführung überwiegend Resultat situativer Entscheidungen, die nur begrenzt reflektiert werden. So ergibt sich eine „funktionale wie strukturelle Eigenständigkeit“ (Jurczyk, Voß, Weihrich 2016: 69), eine innere Eigenlogik des Systems.
6) Die nicht-deterministische Vergesellschaftung alltäglicher Lebensführung: Auch als subjektbezogene Herstellungsleistung sind gesellschaftliche Rahmenbedingungen für die alltägliche Lebensführungvon Personen relevant, beeinflussen sie in ihrer Art und Weise. Neben objektiven Lebenslagen wirken auch soziokulturelle Einflüsse (Deutungsmuster, Standards oder Ideologien) sowie Lebens- und Familienformen hier prägend. So verschränken sie sich etwa in Beziehungen oder in privaten Haushalten miteinander, in denen Lebensführung kooperativ entsteht und erhalten wird.
7) Alltägliche Lebensführung als System sui generis: Schließlich ist die alltägliche Lebensführung als System sui generis zu verstehen, welches als Vermittler zwischen Individuum und Gesellschaft dient. Das Verhältnis zwischen diesen Sphären ist durch „Form und Logik“ (Jurczyk, Voß, Weihrich 2016: 72) dieses Systems geprägt, das in jeder einzelnen Tätigkeit von Personen dieses System der Alltagsgestaltung zum Tragen kommt.
Bei allen Unterschieden in der alltäglichen Lebensführung zwischen Individuen lassen sich auch übergreifende Tendenzen analysieren.27 Diese ergeben sich vor dem Hintergrund der zeitdiagnostischen Analyse, die vier wesentliche Modernisierungstendenzen für die alltägliche Lebensführung hervorbringt. Erstens geht es um eine Rationalisierung der Lebensführung28 für die sich u. a. Routinen als besonders bedeutsam erweisen, da sie Kontinuität sichern können und „zur Entlastung von permanentem Entscheidungsdruck“ (Jurczyk, Voß, Weihrich 2016: 63) beitragen. Für den kompetenten Umgang mit unsicheren und flexibilisierten Lebensbedingungen ist Vertrauen zudem eine wichtige Ressource der Lebensführung, die es erlaubt, auch ohne allumfassendes Durchplanen den Alltag kompetent zu gestalten. Zweitens zeigt sich eine Individualisierung der Lebensführung, für die autonome Verhaltensweisen der „Selbststeuerung und Selbstvergesellschaftung“ (Jurczyk, Voß, Weihrich 2016: 63 f.) bedeutsam sind. Hierfür braucht es persönliche und soziale Kompetenzen des Einzelnen, gleichzeitig besteht die intersektionelle Wirksamkeit von Kategorien sozialer Ungleichheit fort. Drittens entwickelt sich eine Egalisierung der Geschlechterverhältnisse, die eine Verringerung traditioneller Geschlechterhierarchien bewirkt. Gleichzeitig jedoch offenbaren sich neue Ungleichheiten, etwa durch die konsistente Verantwortungszuschreibung unbezahlter Arbeit an die weibliche Hälfte der Gesellschaft. Die Wirksamkeit dieser Dichotomie bedeutet in der Folge Herausforderungen für egalitäre Lebensführungsmuster – für Frauen ebenso wie Männer. Viertens zeichnet sich eine Verarbeitlichung des Alltags ab, die von Individuen heute verlangt, Grenzen zu ziehen, um entgrenzten Strukturen entgegenzuwirken. So ist die Arbeit des Alltags zunehmend von „vermehrtem Synchronisations-, Koordinations- und Planungsaufwand aller Beteiligten“ (Jurczyk, Voß, Weihrich 2016: 65) geprägt.
Für den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit interessant ist zudem der aus dem Konzept der alltäglichen Lebensführung hervorgegangene konzeptionelle Ansatz der familialen Lebensführung29 die „als Prozess der alltäglichen Verschränkung individueller Lebensführungen innerhalb der Familie“ (Jürgens 2001: 37) zu verstehen ist. Neben der alltäglichen Lebensführung der Individuen (die Erwachsenen, hier also Eltern30) wird hierzu auf einer zweiten Ebene die intersubjektiv aktiv konstruierte Verschränkung dieser Lebensführungen zu einer gemeinsamen, familialen Lebensführung analysiert. Diese Verschränkung zeigt sich inhaltlich (Vorstellungen über die Art der Lebensführung), räumlich (Streben nach einem gemeinsamen Wohnort), zeitlich (Abstimmung der Zeitstrukturen von Familienmitgliedern und Institutionen), sozial (Aufbau gemeinsamer Netzwerke) sowie emotional (Liebe als wesentliches Bindeglied innerfamiliärer Beziehungen, aber auch emotionale Bedeutsamkeit der familialen Lebensführung als solche). In all diesen Dimensionen wird schließlich der Arbeitscharakter der familialen Lebensführung deutlich, da es jeweils aktiver Herstellungsleistungen durch die Familienmitglieder bedarf, um diese Verschränkungen herzustellen (vgl. Jürgens 2001). Die bereits im Konzept der alltäglichen Lebensführung deutlich gewordene Bedeutsamkeil der Strukturkategorie Geschlecht wird hier ebenfalls in allen Dimensionen sichtbar. So sind es in verschiedenen Untersuchungen jeweils die Frauen bzw. Mütter, die – so wird es für unterschiedliche Lebenslagen und familiale Lebensformen deutlich – in größerem Maße als die Männer bzw. Väter zur Herstellung eines Familienalltags beitragen, indem sie tagtäglich die unterschiedlichen Puzzleteile zusammenfügen und versuchen, sie unter dem Dach des Familienlebens zusammenzuhalten. Nicht selten ist dies eine Herausforderung, die sich nur durch das Zurückschrauben eigener Bedürfnisse (privat wie beruflich), das Aushalten von Unstimmigkeiten und Konflikten und damit unter großer Belastung bewältigen lässt (vgl. Rerrich 1993; Rerrich 1994; Jürgens 2001). Ebenso relevant für eine gelungene familiale Lebensführung ist die Unterstützung durch andere Frauen, seien es unbezahlte Helferinnen aus dem Verwandten- und Bekanntenkreis oder bezahlte Helferinnen als Au-Pairs, Tagesmütter oder Haushaltshilfen. Sie zeugen von einer neuen Arbeitsteilung, nicht innerhalb von Part-nerschaften, sondern unter Frauen, entlang der sozialen Ungleichheitsdimensionen von sozialer Herkunft, Bildung, Ethnizität und Nationalität – wie von Hochschild (2000) als „global care chains“ bezeichnet und beschrieben – regelmäßig auch über Landesgrenzen hinweg (vgl. Rerrich 1993, 2002; Hochschild 2000; siehe Kapitel 5).
In den Ietzten Jahren hat sich zudem der Begriff des doing family auch in der deutschsprachigen Familienforschung verbreitet. Dieser schließt an die konstruktivistisch angelegten Ausführungen der alltäglichen Lebensführung an, arbeitet sie systematischer (anhand einzelner Dimensionen) auf und begründet sie zeitdiagnostisch (vgl. Jurczyk 2018b). Das Konzept doing family31 stellt eine alltagsnahe, praxeologische Forschungsperspektive32 dar, die insbesondere an das sozialkonstruktivistisch begründete Konzept des doing gender nach West und Zimmerman (1987) oder auch an kulturwissenschaftliche Ansätze anknüpft. Es fokussiert die Alltagspraktiken von Familien und fragt, was Familien und deren Mitglieder konkret tun und wie sie es schaffen, einen gemeinsamen Alltag und eine Identität als Familie herzustellen. Diese erscheint vor allem vor dem als ,,doppelte Entgren-zung“ (Jurczyk, Schier, Szymenderski et al. 2009) beschriebenen Phänomen sich verändernder Alltagswelten in Erwerb und Familie33 als forschungsrelevant (vgl.Jurczyk 2014, 2018a, 2018b).
Zentral für dieses Verständnis von Familie ist zum einen die „sinnhafte Kon-struktion eines gemeinschaftlichen