Vermisst. Sam Hawken
seinen Händen hin und her und dachte nach. »Letzte Woche hatte ich einen guten Mann. Sein Name war Eugenio. Kam aus Anáhuac, war drüben, um Arbeit zu finden.«
»Was ist aus ihm geworden?«
»La migra«, sagte Jack. »Haben uns angehalten, ihn direkt aus meinem Truck gezogen und sich alle Mühe gegeben, mir Angst einzujagen. Aber sie wissen, wie es ist: Wenn ich Hilfe brauche, muss ich sie holen, wo ich sie kriegen kann.«
»Sie werden ihn abschieben«, sagte Bernardo.
»Wahrscheinlich.«
»Weißt du, die Busse mit los deportados fahren mitten in die Stadt. Sie setzen sie auf der Plaza ab und lassen sie da stehen, mit nichts als dem, was sie gerade dabei hatten, als sie geschnappt wurden. Manche haben gar nichts: kein Geld, nichts. Wo gehen sie hin? Das frage ich mich oft, wenn ich sie sehe.«
»Zurück an die Grenze«, sagte Jack.
»Zurück an die Grenze«, stimmte Bernardo zu. »Innerhalb von vierundzwanzig Stunden sind sie wieder drüben. Oder noch schneller. Sie lassen sich nicht aufhalten, weil sie nichts zu verlieren haben. Aber sie müssen aufpassen: Los Zetas sind wachsam. Wenn die Zetas sie fangen, müssen sie zahlen, und wenn sie nicht zahlen können, muss die Familie zahlen. Und wenn die Familie nicht zahlen kann … sieht es nicht gut für sie aus. Schlimm genug, dass man ihnen schon auf dem Weg nach Norden das Geld abknöpft, aber noch mal ausgenommen zu werden …«
»Eines Tages wird es aufhören«, sagte Jack.
»Hoffentlich. So kann es nicht weitergehen.«
Jack hörte ein Scharren und schaute über seine Schulter. Marina war gekommen. »Alles ist aufgeräumt. Geht’s euch gut hier draußen?«
»Prima«, sagte Jack.
»Ich wollte mit Patricia einkaufen gehen. Ist das in Ordnung?«
Jack wandte sich an Bernardo. »Was sagst du?«
Bernardo zuckte die Achseln. »Das Geschäftsviertel wird bewacht. Überall Armee und Polizei. Ihnen wird nichts passieren.«
»Okay«, sagte Jack. »Aber bleibt da, wo Patricia sich auskennt. Treibt euch nicht irgendwo herum.«
»Machen wir nicht.« Marina gab Jack einen Kuss auf die Wange und verschwand.
Jack seufzte. »Und es ist da wirklich sicher?«
»So sicher wie überall heutzutage.«
Bernardo trank das zweite Bier aus und griff zur dritten Flasche. Die goldene Flüssigkeit fing das Licht ein, und Jack verspürte Durst. »Ich hol mir was anderes zu trinken«, sagte er.
»Klar. Ich halte dir den Platz frei, keine Sorge.«
Im Wohnzimmer traf er auf Marina und Patricia, die gerade gehen wollten. »Bis später«, sagte Marina.
»Wie lange seid ihr weg?«
»Ein paar Stunden.«
»Gut. Denk daran, was ich gesagt habe.«
»Mit mir ist sie sicher«, sagte Patricia.
»Ich verlass mich drauf. Viel Spaß.«
Reina saß in der Küche an dem großen Tisch vor einem aufgeschlagenen Buch und hatte immer noch die Schürze umgebunden. Sie sah auf. Sie und Jack sprachen Spanisch miteinander. Bernardo und Patricia sprachen fließend Englisch, auch die Kleinen konnten sich unterhalten, doch Reina hatte die Sprache nie gelernt. »Hallo, Jack. Ist alles in Ordnung?«
»Ich wollte bloß fragen, ob du ein bisschen limonada oder so hast. Da draußen ist es trocken.«
»Natürlich.«
Der Kühlschrank war klein und alt. Reina holte einen Plastikkrug heraus und schenkte Limonade in ein Konservenglas, das als Trinkbecher diente. Jack hatte keine Angst, für ihn war mexikanisches Wasser genauso gut wie das aus seinem eigenen Hahn. »Danke«, sagte er.
»Ist Bernardo schon betrunken?«, fragte Reina.
»Vielleicht ein bisschen«, sagte Jack.
»Ich sage ihm immer, er soll sich ein Beispiel an dir nehmen und weniger trinken. Aber er hört nicht auf mich.«
»Es ist bei ihm was anderes als bei mir«, sagte Jack.
»Jack, wer so gelitten hat wie du, hätte leicht diesen Weg nehmen können.«
»Vielleicht.«
»Du warst stark und bist da rausgekommen.« Reina trat zu ihm und legte ihm eine Hand auf den Arm. Sie war eine kleine Frau, viel kleiner als er, doch sie hatte eine Unbeugsamkeit an sich, die sie größer und stärker erscheinen ließ. »Du hättest die Mädchen niemals im Stich gelassen. Ich habe dir das nie gesagt, aber ich habe es gewusst. Jedes Mal, wenn ich dich und die Mädchen sehe, danke ich Gott, dass Er dich zu Vilma geschickt hat. Ihr seid immer in meinen Gebeten.«
Er spürte, dass ihm heiß wurde, doch er entzog sich nicht. »Ich bin froh, dass jemand für mich betet«, sagte er schließlich. »Ich brauche jede Hilfe, die ich kriegen kann.«
Vielleicht sah Reina es seinem Gesicht an oder spürte es durch die Berührung, denn sie nahm ihre Hand weg und trat einen Schritt zurück. »Es ist immer schön, wenn du hier bist, Jack«, sagte sie.
In ihren Worten und ihrer Berührung hallte Vilma wider, und Jack vermisste seine Frau in diesem Moment so stark wie lange nicht. Er verdrängte das Gefühl und sagte: »Ich komme auch gern.«
»Sag meinem Mann no más cervezas, wenn er ausgetrunken hat.«
»Mach ich.«
Bernardos Flaschen waren leer, als Jack zurückkam. Er beobachtete eine Motte, die verwirrt zwischen Licht und Schatten hin und her flatterte. Der Hof wirkte auf einmal sehr klein, und Jack fragte sich, wie Marinas und Lidias Leben aussehen würde, wenn sie hier aufgewachsen wären anstatt bei ihm. Wären sie anders? Schwer zu sagen. Sie waren amerikanische Mädchen, amerikanisch erzogen, hatten aber immer noch einen Fuß in Mexiko. Das hatte Jack Vilma versprochen, und Tage wie dieser belohnten ihn dafür.
»Reina glaubt, du betrinkst dich hier draußen«, sagte Jack und setzte sich.
»Unsinn. Um betrunken zu werden, bräuchte es einiges mehr. Sie kennt mich kein bisschen.«
Irgendwo in der Ferne heulte eine Polizeisirene auf und verstummte sofort wieder. Jack dachte automatisch an Marina. Er überlegte, sie auf dem Handy anzurufen, nur um sicherzugehen, dass alles okay war, aber sie würde ihn nur auslachen.
Als hätte er Jacks Gedanken gelesen, sagte Bernardo: »Es ist nichts. Wenn wirklich was passiert wäre, würde man viele Sirenen hören. Die Polizei schwärmt dann aus wie Heuschrecken.«
»Macht der Gewohnheit«, sagte Jack und bemühte sich zu lächeln.
»In dieser Stadt lernt man schnell, Geräusche zu unterscheiden. Da eben wurde vermutlich irgendein Verkehrssünder angehalten. Das macht la policía gerne: Strafzettel verteilen. Wenn sie nur halb so gut darin wären, narcos zu fangen wie Knöllchen zu verteilen, wäre der ganze Spuk morgen vorbei.«
»Es ist überall das Gleiche«, sagte Jack, auch wenn das nicht stimmte.
13
Am Abend waren die Fahrbahnen in Richtung Norden nicht weniger voll als am Morgen. Jack hatte den Übergang auf dieser Seite noch nie leer gesehen, immer standen die Fahrzeuge dicht an dicht: beladene LKWs, Mexikaner auf Reisen, dazwischen eingeklemmte Amerikaner. Ein großer Lieferwagen mit einem Früchtelogo auf der hinteren Tür versperrte Jack die Sicht. Er stellte das Radio an, leise Musik ertönte. Die Mädchen schwiegen. Die Klimaanlage spuckte gelegentlich kleine Tropfen Kondenswasser aus den Lüftungsklappen.
»Jack«, sagte Marina.
»Ja?«
»Ich