Vermisst. Sam Hawken
flehende Blicke zu.
»Was will er?«, fragte Gonzalo.
»Geht um seine Tochter. Glaub mir, nicht der Mühe wert.«
Der Mann sah aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Die Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben und war sogar aus der Entfernung spürbar. Gonzalo klappte die vor ihm liegende Akte zu, stand auf und zog sein Jackett über.
Pepito bemerkte es. »Ich sag doch, spar dir deine Zeit.«
»Ich will nur mal mit ihm reden.«
»Von mir aus. Aber bitte mich nicht um Hilfe.«
»Mache ich nicht.«
Gonzalo ging zwischen den Tischen hindurch, von denen manche leer, manche besetzt waren. Als er den Mann im Eingangsbereich erreicht hatte, streckte er die Hand aus. »Hallo. Ich bin Inspector Gonzalo Soler. Mein Kollege meinte, Sie hätten ein Problem.«
»Ja«, sagte der Mann. »Der da drüben. Mit dem habe ich schon gesprochen.«
»Ich würde gerne hören, was Sie zu sagen haben. Wie heißen Sie?«
»Tomás Contreras.«
»Wohnen Sie in der Stadt?«
»Nein, señor. Ich arbeite auf einer Farm in der Nähe von Sabinas Hidalgo.«
»Das ist etwa eine Stunde von hier, oder? Nicht weit.«
»Nein, nicht weit.«
»Kommen Sie doch mit an meinen Schreibtisch, dann können Sie mir erzählen, was passiert ist.«
Gonzalo ging voraus, holte dem Mann einen Stuhl und ignorierte Pepitos Blick. Er nahm einen Notizblock und einen Stift aus einer Schublade, schlug eine leere Seite auf und schrieb den Namen des Mannes auf.
»Es geht um meine Tochter«, sagte Tomás, als Gonzalo bereit war. »Sie heißt Iris.«
»Wie alt ist sie?«
»Zwanzig.«
»Haben Sie noch andere Kinder?«
»Ja«, sagte Tomás. »Zwei. Einen Jungen und ein Mädchen, beide jünger.«
Gonzalo wurde klar, dass das Alter des Mannes nur schwer abzuschätzen war. Lange Tage und Wochen und Monate unter der Sonne hatten sein Gesicht gegerbt, Staub schien sich in jede Falte gelegt zu haben. So ähnlich hatte Gonzalos Vater ausgesehen, kurz bevor er gestorben war. »Wo ist Ihre Tochter jetzt?«, fragte er.
»Hier. In Nuevo Laredo.«
»Sie lebt hier?«
»Ja. Seit drei Monaten.«
»Was macht sie hier?«
In dem Moment verzog Tomás so schmerzvoll das Gesicht, dass Gonzalo dachte, der Mann wäre irgendwie verletzt. Er kämpfte ganz offensichtlich mit seinen Gefühlen, in seinen Augen glänzten Tränen. »Verzeihen Sie, Inspector«, sagte er.
»Schon gut. Fangen Sie einfach an, wenn Sie so weit sind.«
Tomás nickte, atmete tief ein und zerrieb die Tränen in seinen Augen mit den Fingerknöcheln. Seine Brust hob und senkte sich. »Ich habe alles schon dem anderen Polizisten erzählt«, sagte er schließlich.
»Ich verstehe, aber ich höre es jetzt zum ersten Mal.«
Der Mann sah Gonzalo an, jede Falte in seinem Gesicht war verzogen. »Meine Tochter … Iris … arbeitet in Boy’s Town, Sir. In Boy’s Town.«
8
Jack kam früh nach Hause. Die Mädchen waren noch bei ihren Freundinnen oder in der Mall, oder wo immer sonst sie sich die freien Spätsommernachmittage vertrieben. Er stellte das Radio in seinem Schlafzimmer so laut, dass er es bei geöffneter Badezimmertür unter der Dusche hören konnte, und sang aus voller Kehle mit, schließlich hörte ihn niemand. Er entdeckte einen Schnitt an seiner Hand, der ihm vorher nicht aufgefallen war, und säuberte ihn. Handwerkerhände waren immer dreckig, eine Entzündung konnte er nicht gebrauchen.
Nach dem Duschen zog er sich an und ging nach hinten in den Garten, zupfte eine halbe Stunde lang Unkraut und warf die Pflanzen in eine alte, verrostete Schubkarre, die früher knallorange gewesen war. Dann schob er die Karre vor das Haus und machte dort weiter. Am Wochenende würde er den Rasenmäher herausholen und das Gras richtig schneiden.
Irgendwie kam ihm die Schubkarre schwerer vor, als er sie wieder nach hinten rollte, was nicht an den welkenden Pflanzen lag, sondern an seiner plötzlich düsteren Stimmung. Er leerte den Inhalt der Karre in die Mülltonne und stellte sie in die Garage zurück.
Im Haus war es sehr still. Jack stellte sich vor, wie es sein würde, wenn Marina und Lidia ausgezogen wären, was seine trüben Gedanken nur verstärkte.
Wenn die Schule wieder anfing, würde Marina in ein Community College gehen, irgendwo in der Nähe. Sie würde zu Hause wohnen und in ihrem Bett schlafen, und Jack würde für sie sorgen, wie er es immer getan hatte. Das Gleiche galt für Lidia. Er hatte es ihnen nie gesagt, aber sie wussten, so lange er lebte, waren sie bei ihm immer zu Hause. Das hatte er Vilma versprochen, und er würde sich daran halten.
»Bier«, sagte er laut. Er holte eine Flasche und ließ sie schwitzen, bevor er sie öffnete. Dann setzte er sich auf den alten La-Z-Boy-Sessel im Wohnzimmer und starrte die dunkle Mattscheibe des Fernsehers an. Er konnte das Parfüm riechen, das Lidia neuerdings trug. Das Sofa war wie ihre Kommandozentrale, sie legte die Füße hoch und lebte per Handy.
Er hörte Marinas Wagen in der Auffahrt und wartete. Die Schlüssel klimperten. Sie kam herein und sah ihn.
»Du trinkst alleine?«, fragte sie.
»Nur eins«, sagte er.
»Ich hab die Flaschen im Kühlschrank gezählt, ich weiß also, wenn du lügst«, erwiderte sie und hängte ihre Tasche an den Haken neben der Tür.
»Hast du nicht«, sagte er.
»Vielleicht nicht, vielleicht doch. Wer weiß.«
»Das ist das erste und einzige Bier«, wiederholte Jack.
»Ich glaube dir.«
Marina kam ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa. Jack sah, dass sie eine neue Bluse und frische Jeans und Pumps anstelle von Turnschuhen trug. »Hübsch siehst du aus«, sagte er.
»Ach, das? Ich bin bei dem Ohrringladen vorbeigegangen, von dem ich dir erzählt hatte, und habe mit der Managerin gesprochen. Ich wollte professionell wirken, weißt du?«
»Klar, verstehe ich.«
»Sie hat gesagt, ich kann nächsten Dienstag zu einem Vorstellungsgespräch kommen. Sie meinte, das ist bloß eine Formalität, aber so sind die Regeln.«
Jack nickte. Es war nur noch ein Schluck Bier in der Flasche, er hob sie an den Mund.
»Es werden nur ein paar Stunden sein, vielleicht zehn pro Woche. Aber das ist für den Anfang gut, stimmt’s?«
»Stimmt.«
»Ginny sagt, eins von den anderen Mädchen kündigt vielleicht bald, dann könnte ich auch ihre Stunden übernehmen. Dann kommt was zusammen.«
»Mhm«, stimmte Jack zu. »Weißt du, wo deine Schwester ist?«
»Mit Saundra unterwegs, glaube ich. Sie wollten ins Kino gehen.«
»Solange sie zum Abendessen zu Hause ist.«
»Keiner verpasst das Abendessen, Jack«, sagte Marina und stand auf. »Soll ich dir noch ein Bier holen?«
»Wenn du mir vertraust.«
»Wie gesagt: Ich hab sie abgezählt.«
»Okay, ich nehme noch ein Bier.«
»Kommt sofort.«