Vermisst. Sam Hawken
war gut«, stimmt Lidia zu.
»Ja, wirklich.«
»Ich bin satt«, sagte Lidia.
»Wie kannst du satt sein? Dein Teller ist noch halb voll.«
»Ich bin wirklich satt, Jack.«
Jack seufzte. »Okay. Tu den Rest zurück in die Pfanne, ja? Man muss ja nichts verschwenden.«
Lidia tat es und stellte den Teller ins Spülbecken. Sie verschwand aus der Küche, kurz darauf hörte Jack sie wieder telefonieren.
Marina sah ihn an. »Tut mir leid, dass ich es angesprochen habe.«
»Was? Nein, du kannst über alles reden. Ist doch schön, dass Ginnys Familie an die Küste fahren kann. Du weißt, wie schwierig es ist, im Sommer wegzukommen. Alle wollen die Bauarbeiten erledigt haben, solange es warm ist.«
»Ich weiß.« Marina legte ihre Hand auf Jacks. »Wie gesagt, ist nicht schlimm.«
Jack hatte noch etwas zu essen auf seinem Teller, aber keinen Appetit mehr. Er stand auf und kratzte den Rest in die Pfanne. »Ich fahre mit euch weg, sobald es geht«, sagte er. »Ich will nicht immer Nein sagen müssen.«
»Jack –«
»Ja, ich weiß: Ist nicht schlimm. Es ist eben so, dass ich Geld verdienen muss, solange die Sonne scheint. Im Winter gibt’s dann nur noch kleine Reparaturen, und wir müssen von dem leben, was ich jetzt verdiene.«
»Soll ich dir beim Abräumen helfen?«
»Ja, gern.«
Er schaute zu, während Marina die Essensreste in Plastikschalen portionierte und sie in den Kühlschrank stellte. Es war einer der Momente, in denen er ihre Mutter in ihr sehen konnte, sie packte an, ohne viel Aufhebens zu machen. Jack ließ heißes Wasser ein und gab Spülmittel dazu. Er wusch ab, Marina trocknete.
»Ich hab gedacht, ich könnte mir vielleicht einen Job suchen«, sagte sie.
»Was für einen?«
»Keine Ahnung. Irgendwas in Teilzeit.«
»Es ist im Moment nicht leicht, was zu finden.«
»Ich könnte mich umsehen. Dann bräuchtest du mir kein Taschengeld mehr zu geben.«
Die Teller und Gläser und die Pfanne waren sauber. Jack ließ das Wasser ab. »Du musst nicht arbeiten. Wir verhungern schon nicht.«
»Ich weiß. Aber Ginny hat einen Job in dem Schmuckladen in der Mall, vielleicht kann ich da nach der Schule auch ein paar Stunden arbeiten. Das wäre doch was.«
Jack nickte. »Einverstanden. Aber die Schule geht vor.«
»Klar.«
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Er roch ihren sauberen Duft, ganz anders als der antiseptische Geruch, mit dem Vilma immer von der Schicht gekommen war. Er konnte sich Marina gut als Krankenschwester vorstellen.
»Ich meine es ernst«, sagte er. »Die Noten.«
»Darum brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Danke, Jack.« Sie wandte sich zum Gehen.
»Was hast du jetzt vor?«, fragte er.
»Ich gehe in mein Zimmer. Falls du mich brauchst, ich lasse die Tür offen.«
»Wenigstens verschleuderst du nicht dein ganzes Handyguthaben.«
»Telefonieren ist billig.«
Er sah ihr nach, dann holte er sich ein weiteres Bier aus dem Kühlschrank. Ein drittes würde es nicht geben. Zwei waren das absolute Limit. Er setzte sich an den Tisch und sah die Sonne hinter den Dächern gegenüber verschwinden. Es würde lange dämmern, und er würde im Bett sein, wenn es noch hell war.
Lidia rief etwas im Nebenzimmer. Jack trank sein Bier. Am anderen Ende des langen Flurs, der das Haus teilte, stand Marinas Tür offen, und Jack konnte sehen, dass sie am Schreibtisch vor dem Computer saß und tippte. Alle waren beschäftigt.
5
Am Morgen machte Jack alles wie immer und verließ das Haus trotzdem früher als sonst. Zur Belohnung legte er auf dem Weg zum Home Depot einen Zwischenstopp ein und holte sich ein Wurstsandwich und einen großen Kaffee. Kurz überlegte er, einen zweiten Kaffee für Eugenio zu besorgen, ließ es dann aber sein.
Der Kaffee war noch zu heiß, Jack aß das fettige Sandwich auf dem Parkplatz und fuhr wieder los. Das Home Depot lag ganz in der Nähe, das Schild war schon in Sichtweite. Obwohl es noch sehr früh war, warteten dort bereits viele Männer.
Jack wusste heute, wen er haben wollte, und fand Eugenio schnell. Er hielt und ließ das Fenster herunter. »Spring vorne rein.«
Er wartete noch, bis Eugenio den Gurt angelegt hatte, und fuhr los, ohne die langsam auf ihn zutreibende Menge zu beachten.
Diesmal hatte Eugenio keinen Kaffeebecher dabei. Jack nahm seinen aus dem Halter und hielt ihn Eugenio hin. »Hier. Kaffee.«
»Ich brauche keinen.«
»Nun nimm schon.«
Eugenio zögerte und nahm Jack den Becher dann aus der Hand. »Gracias.«
»De nada. Es ist Milch und Zucker drin, hoffentlich ist das okay.«
»Kein Problem.«
Jack beobachtete Eugenio aus dem Augenwinkel. Ob er heute Morgen gefrühstückt hatte? Oder trank er den Kaffee auf leeren Magen? Ein Kaffee kostete einen halben Stundenlohn. Ein Luxus, den man sich nur selten gönnte. Jack konnte heute ohne leben.
Sie fuhren zum Haus des Anwalts und verbrachten den Morgen damit, die Bodenfliesen herauszureißen. Staub hing in der Luft, Eugenios Hände waren kreideweiß. »Wasch dich ab«, sagte Jack. »Wir gehen Mittag essen.«
Sie aßen bei McDonald’s, die Sonne schien auf ihre Sitznische, die goldenen Bögen warfen einen Schatten auf den Tisch und den Fußboden. Jack fiel auf, dass Eugenio seinem Blick auswich, immer schaute er nach links oder rechts, nie geradeaus. Eine Weile schwiegen sie. Das Restaurant füllte sich langsam.
»Du machst gute Arbeit«, sagte Jack schließlich.
»Danke«, antwortete Eugenio, ohne den Blick zu heben.
»Ich meine, ich brauch dir nichts zu zeigen. Du weißt, was du tust.«
Eugenio schwieg. Er schraubte umständlich den Deckel von seiner Wasserflasche und nahm mehrere große Schlucke. Wieder sah er Jack nicht an.
Jack überlegte. »Weißt du, ich hab gestern bloß so gefragt, wo du herkommst. Ohne Hintergedanken.«
»Ich habe eine Green Card«, erwiderte Eugenio schlicht.
»Ich habe nicht danach gefragt.«
Eugenio nickte und sah Jack einen kurzen Moment lang ins Gesicht. Jack hätte zu gern gesagt: Verdammt, jetzt schau mir einfach in die Augen, ließ es aber. »Ich habe eine Green Card«, wiederholte Eugenio.
»Ich glaube dir.«
Wieder herrschte Schweigen zwischen ihnen, bis Jack fragte: »Hast du hier Verwandte?«
Zuerst dachte er, Eugenio würde nicht antworten. Er sah, wie er mit sich rang. Er wusste nicht einmal, warum er überhaupt gefragt hatte.
»Nein. Ich bin allein«, sagte Eugenio schließlich.
»Hast du drüben Verwandte?«
Diesmal kam die Antwort schneller. »Ich habe eine Frau. Zwei Töchter.«
»Echt? Ich habe auch zwei Töchter. Na ja, sie sind von meiner Frau. Ich bin der Stiefvater.« Jack zog seine Brieftasche heraus und klappte sie auf. »Das sind sie. Die Jüngere heißt Lidia, die Ältere Marina. Das Bild ist ein paar Jahre alt.«