Vermisst. Sam Hawken

Vermisst - Sam Hawken


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es »Boy’s Town«, aber in Nuevo Laredo war es als La Zona bekannt. Drei Straßenblöcke, von einer Mauer umgeben, eine kleine Stadt. Sogar ein Polizeirevier gab es, schichtweise von zwei Beamten besetzt. Hauptsächlich diente es zur Unterbringung von Betrunkenen, bis sie abgeholt und in eine der größeren Einrichtungen in der Innenstadt gebracht wurden.

      Das Revier befand sich direkt am Eingang, ein Metallschild bezeugte seine Existenz, allerdings sparten sich die wachhabenden Polizisten das Streifegehen. La Zona war für Toleranz bekannt, Prostitution und Sexshows florierten, es gab Geschäfte und Zimmer zur Miete für Touristen und Einwohner. Bars und Restaurants säumten die Straßen, dazwischen lagen Bordelle und Stripclubs, sogar die berüchtigte Donkey Show war im Angebot. Für die Polizei war La Zona ein Ort des Lasters und der Verbrechen, aber es kamen auch Paare zum Tanzen oder Arbeiter auf ein billiges Feierabendbier hierher. Tagsüber war La Zona von Verkaterten und Geistergestalten bevölkert.

      Gonzalo parkte vor dem Tor und ging den Rest des Wegs zu Fuß. Er überlegte kurz, sich bei seinen wachhabenden Kollegen zu melden, aber sie konnten ihm bei seiner Aufgabe nicht helfen, er würde nur ihre Zeit verschwenden. Er trug seinen Dienstausweis und seine Waffe bei sich, was im Zweifel nicht viel nützen würde, aber reichen musste. Vermutlich würde er sie nicht brauchen.

      Er folgte der Circunvalación Casanova, die eine Art Ring um La Zona bildete. Tomás Contreras hatte ihm den Weg so gut beschrieben, dass er ihn leicht fand. La Zona war wie ein Kaninchenbau, aber wie alle Kaninchenbauten nicht endlos, es gab nur eine beschränkte Zahl von Versteckmöglichkeiten. Erst recht, wenn Sichtbarkeit zum Geschäft gehörte.

      Auf der linken Seite einer langen, ungepflasterten Straße reihten sich heruntergekommene, weiß getünchte Häuser aneinander. Zwischen ihnen führten hinter schmalen Türen Außentreppen nach oben. Keines der Häuser hatte mehr als zwei Stockwerke. Nur wenige Wohnungen waren nummeriert. Gonzalo suchte nach einem Gebäude, auf das die Zahl 9 gepinselt worden war.

      Iris Contreras Behausung lag im oberen Stock. Die Treppe war so schmal, dass Gonzalos Schultern die Wände berührten. Die Stufen endeten direkt vor der Tür, einen Treppenabsatz gab es nicht. Gonzalo stand unbeholfen auf der letzten Stufe und klopfte zweimal an die Tür.

      Da sich nichts regte, versuchte er es erneut. Möglicherweise war sie nicht zu Hause, oder von der letzten Nacht zu müde, um sein Klopfen überhaupt zu hören. Gonzalo wartete.

      Nach einer Weile hörte er das Patschen von Füßen auf dem Boden und spürte, dass auf der anderen Seite der Tür jemand stand. Eine Stimme erklang. »Wer ist da?«

      »Iris Contreras?«

      »Wer will das wissen?«

      »Mein Name ist Gonzalo Soler. Ich bin Polizist.«

      »Was will die Polizei von mir?«

      »Bitte machen Sie die Tür auf.«

      Es folgte eine lange Pause, dann rasselte eine Kette, und die Tür wurde geöffnet. Dahinter war es dunkel. Eine junge Frau erschien im Türrahmen.

      Iris war keine Schönheit, aber Dunkelheit und Schminke würden sie in eine verwandeln. Sie war so schmal wie ihr Vater und hatte weder große Brüste noch breite Hüften. Sie trug ein einfaches weißes Nachthemd und war barfuß. »Was wollen Sie?«, fragte sie.

      »Darf ich reinkommen?«

      »Ich habe gerade frei.«

      »Kann ich trotzdem reinkommen?«

      »Ich will Ihren Ausweis sehen.«

      Erst als Gonzalo ihn hochhielt, öffnete sie die Tür. Gonzalo trat in die Düsternis.

      Ein winziges Zimmer ohne Küche oder Bad, immerhin gab es ein kleines Waschbecken. Vor das einzige schmale Fenster war ein vergilbter Papierbogen geklebt worden. Der größte Gegenstand im Zimmer war das Bett, und selbst das war klein. Es stank nach Zigaretten und Schweiß. In einem Eimer neben dem Bett lag eine dicke Schicht Kippen.

      Iris schloss die Tür. »Ich habe nichts Falsches getan.«

      »Ich bin nicht hier, um Sie festzunehmen, keine Sorge«, sagte Gonzalo.

      »Warum denn dann?«

      »Warum setzen Sie sich nicht?«

      Das Mädchen sah ihn säuerlich an und ließ sich auf dem Bett nieder. Ihr Haar war zerzaust. Es war Mittag, aber sie sah aus, als hätte sie nur wenig Schlaf gehabt. Was vermutlich stimmte.

      »Ihr Vater war gestern bei mir«, sagte Gonzalo.

      »Mierda

      »Er macht sich große Sorgen um Sie. Ihre Mutter und Ihre Geschwister ebenfalls. Er hat mich gebeten, mit Ihnen zu sprechen.«

      »Wieso?«

      »Ich glaube, das wissen Sie«, sagte Gonzalo.

      »Ich gehe nicht nach Hause.«

      Gonzalo sah sie an. Sie wirkte jünger als zwanzig. »Ist es dort so schlimm?«

      »Grauenhaft. Kein Geld, nichts zu essen. Den ganzen Tag schuften, wie meine Mutter und Schwester, um von nichts zu leben. Und niemand hat Arbeit.«

      »Ihr Vater arbeitet.«

      »Im Moment. Aber wenn die Trockenheit anhält, entlässt die Farm alle Arbeiter, dann haben wir keine Chance mehr. Als ich hergekommen bin, hab ich ihnen einen Gefallen getan.«

      »Es gibt andere Jobs in der Stadt. Die maquiladoras –«

      »Sind schon voll mit Mädchen vom Land, die in die Stadt gekommen sind, um Arbeit zu suchen. Hier ist es nicht wie in Juárez, wo es immer irgendwas gibt. Ich habe einen Job gefunden und verdiene gutes Geld.«

      Sie hatte recht, Ciudad Juárez war zwar viel gefährlicher, aber auch größer und geschäftiger und bot mehr Möglichkeiten. Nuevo Laredo würde nie so werden, es würde immer ein Durchgangsort bleiben, den der Grenzhandel am Leben hielt, dem er aber keinen Wohlstand brachte.

      Gonzalo sah sich in dem heruntergekommenen Zimmer um. Die Wände waren von Wasserflecken verfärbt, vermutlich waren sie das letzte Mal vor Iris’ Geburt gestrichen worden, die Farbe war abgeplatzt und heruntergerieselt. »Was ist in Ihren Augen gutes Geld?«, fragte er.

      »Sechshundert Pesos.«

      »Pro Kunde?«

      »Natürlich.«

      »Wie viele Kunden haben Sie pro Nacht?«

      »Ich zähle nicht.« Iris wandte den Blick ab.

      Gonzalo ließ nicht locker. »Wie viele?«

      »Keine Ahnung. Zehn. Fünfzehn.«

      »In diesem Loch«, sagte Gonzalo. »Was zahlen Sie pro Nacht dafür? Dreitausend Pesos? Viertausend? Wie viel bleibt Ihnen dann?«

      »Hauen Sie ab!«, rief Iris. »Ich muss mich nicht rechtfertigen.«

      »Hat sich schon jemand gemeldet, der auf Sie ›aufpassen‹ will?«, fragte Gonzalo. »Das ist nämlich nur eine Frage der Zeit. Keine Frau arbeitet hier lange allein. Irgendwann taucht ein Typ auf und sagt, wenn er fünfzig Prozent abbekommt, kümmert er sich um die bösen Kunden. Und wenn Sie ablehnen, erhöht sich der Anteil, außerdem wird er Sie schlagen. Freuen Sie sich darauf?«

      Sie hatte den Blick gesenkt, und Gonzalo kannte die Antwort. »Das geht Sie nichts an«, sagte sie tonlos.

      »Es ist also bereits passiert«, sagte er. »Und es wird nicht aufhören. Jede Nacht das Gleiche, bis Sie nicht mehr jung genug sind, nicht mehr gesund genug … und dann wird man Sie wegjagen und Sie dahin zurückschicken, wo Sie hergekommen sind. Pleite, süchtig oder in welchem Zustand auch immer.«

      »Bitte gehen Sie«, sagte Iris.

      »Ich gehe, wenn Sie Ihre Sachen gepackt haben und mit mir kommen.«

      »Was ich mache, ist nicht illegal!«

      »Nein. Aber das bedeutet nicht, dass es nicht falsch


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