Gemeinsam einsam durch die Welt. Sina Wunderlich
Na toll. Ein Affe sitzt auf mir. Wo zum Teufel kommt jetzt ein Affe her? Er spielt mit meinen Haaren herum. Ich habe gelesen, dass Affen hier in Indien so ziemlich das machen, was sie wollen, und einen überrumpeln, aber ich habe in diesem Moment definitiv nicht damit gerechnet. Der Affe springt auf Kilians Schulter und genießt die Aussicht. Jetzt kann ich ihn auch endlich sehen. Es ist schon ein süßer kleiner Kerl. Als es dem Affen zu langweilig wird, springt er von Kilians Schulter und wir können endlich weiter.
Wir laufen an einem Fluss vorbei. Ich schätze, es ist der Fluss Yamuna. Viele Frauen – und auch ein paar Männer – stehen mitsamt ihren Klamotten im Fluss und waschen sich.
Kilian schaut mich verwirrt an. „Wieso gehen die alle mit ihren Sachen baden?“
„Der Fluss heißt Yamuna und ist ein Nebenfluss des Ganges’. Die Leute hier denken, dass das Wasser heilig ist und ihre Sünden begleicht. Sie beten zu der Göttin Ganga Mata, waschen sich mit dem Wasser, lassen Blumen und Kerzen in dem Fluss schwimmen und nehmen es auch teilweise mit nach Hause.“
Kilian nickt verständnisvoll, aber schaut die Leute immer noch skeptisch an.
Wir biegen in eine kleine Gasse ein, die sich Paratha Wali Gali nennt. Der Name klingt schon lustig. Unfassbar viele Restaurants befinden sich hier. Wir gehen in das erstbeste Restaurant hinein, da wir keinen blassen Schimmer haben, welches von diesen gut und welches weniger gut ist. Die Angestellten hier sind wahrscheinlich viele Touristen gewöhnt, da wir uns mit ihnen auf Englisch verständigen können. Ein junger Mann berät uns. Wir bestellen uns, nach seinen Ratschlägen, etwas, dass sich Thali nennt. Schon nach ein paar Minuten bekommen wir Chai gebracht. Der junge Mann erklärt uns, dass das eine Art süßer Tee ist. Ich nippe an der Tasse. Es schmeckt wundervoll. Trotz der Hitze macht einem der warme Tee nichts aus. Der Mann verschwindet wieder in der Küche und kommt kurze Zeit später mit einem Aluminiumtablett, auf dem viele kleine Metallschalen stehen, wieder. Ein anderer Mann folgt ihm und stellt uns Teller hin. Ich schätze, dass es Fladenbrot ist, was darauf liegt. Er zeigt auf das Brot und sagt lächelnd: „Chapati.“ Ich vermute, dass das der Name des Fladenbrots ist. Wir bedanken uns und er verschwindet wieder. Der junge Mann, der uns beraten hat, stellt das Aluminiumtablett in die Mitte des Tisches. In den kleinen Schüsseln befinden sich die verschiedensten Dinge. Currys, Gemüse, Linsenbrei, Joghurt, Reis, Fleisch und noch vieles mehr. Wir beschließen, dass wir uns einfach durchtesten. Es schmeckt unfassbar gut, jedoch müssen wir sehr oft husten, da das Essen wirklich scharf ist.
„Das wusste selbst ich: Indisches Essen ist scharf!“, meint Kilian, der kurz zuvor wieder einmal gehustet hat, da das Curry so scharf war. Damit hat er wohl recht.
* * *
Vor ein paar Tagen sind wir mit Bus und Taxi von Neu-Delhi nach Agra gefahren. Es war eine lange und ätzende Fahrt mit dem Bus. Ich glaube, es waren knapp vier Stunden. Normalerweise schaue ich bei langen Autofahrten immer aus dem Fenster, doch das fiel mir nicht leicht. Egal, wo du dich befindest, du siehst immer die schreckliche Armut. So viele Leute liegen bei dieser drückenden Hitze auf den Gehwegen. Kinder haben schwere Lasten auf den Schultern, die sie umherschleppen. Ich würde es Kinderarbeit nennen. Mein Herz zieht sich zusammen, wenn ich solche Bilder sehe. Der Gedanke, dass ich nichts für diese Leute tun kann, bricht mir das Herz. Immer wieder habe ich versucht, doch noch einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Und jedes Mal wurde ich enttäuscht. Ich habe wieder arme, verletzte Menschen gesehen, die Hilfe benötigen, oder traurige Kinder, die arbeiten müssen. Mein Körper fühlte sich taub an. Als würde mein Herz mit Seilen zusammengeschnürt werden. Ich konnte nichts anderes tun, als wegzuschauen. Eigentlich ist genau das die falsche Handlung. Eigentlich sollte man hinsehen und eben nicht wegsehen. Man sollte etwas dagegen tun. Begreifen, wie es den Menschen hier geht, und ihnen verdammt noch mal helfen. Was ist eigentlich so schwer daran? Es gibt so viele Menschen, die viel zu viel Geld haben, aber zu geizig sind, um etwas davon abzugeben. Anstatt zu helfen, wollen sie nur noch mehr. Doch das hilft der Welt nicht weiter.
Es ist schon fast komisch, jetzt vor etwas so Schönem zu stehen. Die Kontraste in Indien sind enorm. Von einer grauenhaften Welt zu einer bildschönen Welt in nur zwei Sekunden. Je nachdem, in welche Richtung man gerade schaut. Wir befinden uns vor dem Taj Mahal. Bewaffnete Männer stehen überall an den Seiten und schauen starr geradeaus. Ich blicke schnell weg von ihnen. Irgendwie sind sie angsteinflößend. Das Taj Mahal ist ein unglaublich beeindruckender Bau. Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus.
„Und? Wo bleibt mein sprechendes Lexikon? Was weißt du über das Taj Mahal?“
Ich muss lachen. Wie schafft dieser Junge es nur, mich immer wieder zum Lachen zu bringen?
„Also gut. Das Taj Mahal ist ein Denkmal der Liebe. Um genau zu sein, ist es ein Grabmal. Der Großmogul Shah Jahan ließ es für seine Frau bauen, die bei der Geburt ihres 14. Kindes starb. Es wurde per Menschenhand gebaut und ist ein Monument der ewigen Liebe.“
Das Taj Mahal sieht aus wie auf all den Bildern, die man zuvor schon oft gesehen hat – und trotzdem erschlägt diese Schönheit einen komplett. Es ist total eindrucksvoll und meiner Meinung nach sollte man es als Weltwunder ansehen.
Schweigend laufen Kilian und ich die meiste Zeit nebeneinander her und bewundern das Bauwerk. Wir sind wohl beide sprachlos. Nach etwa einer Stunde haben wir uns alles angeschaut und sind auf dem Rückweg.
„Ich habe das Gefühl, dass an diesem Ort die Magie der Liebe festgehalten wurde. Sie wurde damals mit hier eingebaut und man spürt sie heute noch. Es ist total faszinierend. Wenn man die Hintergrundgeschichte kennt, warum das Bauwerk erbaut wurde, nimmt man es, glaube ich, noch einmal anders wahr. Man spürt die Trauer des Großmoguls und bemerkt zugleich, wie sehr er seine Frau geliebt haben muss.“
Kilians Worte berühren mich. Er hat es wirklich genau auf den Punkt gebracht. Wir verlassen, jeder in Gedanken versunken, den Ort der Liebe.
* * *
Ich liege neben Kilian im Bett. Wir haben ein Doppelbett in unserem Hotelzimmer. Eigentlich hat jeder genug Platz, aber trotzdem liege ich viel mehr auf Kilians Betthälfte. Vielleicht brauche ich ihn einfach gerade.
„Ich habe das Gefühl, Indien ist ein zweigeteiltes Land. Es gibt die grausame Hälfte und die bildschöne Hälfte.“
„Ja, irgendwie schon. Heute haben wir definitiv eine schöne Seite von Indien gesehen“, sagt Kilian leise.
Da hat er recht. Es war wunderschön. Man konnte fast die ganzen grausamen Eindrücke für einen Augenblick vergessen. Doch sobald man den einen Ort wieder verlassen hat, bekommt man die Realität erneut vor Augen geführt.
„Es war schön heute“, flüstert Kilian.
Ich glaube, er schaut mich an, doch es ist dunkel in dem Zimmer, sodass ich es nicht erkennen kann. „Ja, wunderschön. Aber jetzt freue ich mich auf unser nächstes Ziel. Wir bleiben innerhalb von Indien, wechseln jedoch noch einmal den Ort.“
Kilian unterbricht mich. „Nein, das meine ich gar nicht. Es war nicht einfach nur schön heute. Es war deinetwegen wunderschön heute.“
Ich schweige. Das hatte ich jetzt nicht erwartet. Er macht mich verdammt glücklich. Ich habe das Gefühl, dass heute ein bisschen von der Magie des Großmoguls an uns hängen geblieben ist. Wir sind zum Monument der ewigen Liebe gegangen und haben ein bisschen von dem Zauber mitgenommen, als wir das Taj Mahal wieder verlassen haben. Ich habe mich verliebt.
* * *
Ich kann mein Glück irgendwie gerade nicht fassen. Vor zwei Stunden sind wir in Kerala gelandet. Wir haben definitiv zum Abschluss einen schönen Teil von Indien erwischt. Wir stellen unsere Koffer ab. Für die nächsten paar Tage werden wir hier wohnen. Hier, in einer kleinen Hütte mitten im Grünen und an einem Fluss. Ich stelle meine Tasche neben meinen Koffer und laufe zu einem Fenster. Unsere Holzhütte steht direkt am Wasser. Ich habe das Gefühl, dass wir im Urwald angekommen sind. Die verschiedensten Grüntöne sind zu sehen. Es ist so bezaubernd hier. Als wäre ich in einem Traum. In einem Traum, aus dem ich nicht aufwachen möchte.
Kilian