Gemeinsam einsam durch die Welt. Sina Wunderlich

Gemeinsam einsam durch die Welt - Sina Wunderlich


Скачать книгу
Das alles ergibt schöne Gerüchte. Eigentlich interessiert es mich nicht, was andere Leute über mich denken. Aber es ist trotzdem nicht einfach, wenn man so etwas hören muss. Und was ich auf keinen Fall möchte, ist, dass mein Kind umgeben von Vorurteilen aufwachsen muss.

      Das Kind der Schlampe.

      Das Kind der jungen Mutter, die noch gar keine Verantwortung übernehmen kann.

      Das Kind, das nie einen Vater hatte.

      Das arme Kind.

      Nein. Das möchte ich auf keinen Fall. Sollen die Leute über mich reden, was sie wollen, aber ganz sicher nicht über mein Kind.

      Es ist schlimm, dass so schnell Vorurteile und Gerüchte entstehen. Es ist schon fast so, dass das, was die Mehrheit der Menschen sagt, die Wahrheit ist, und nicht das, was eigentlich der Wahrheit entspricht. Ja, willkommen in der heutigen Gesellschaft.

      Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Aber ich merke, wie ich anfange, das Kind zu mögen. Wahrscheinlich ist das der Mutterinstinkt. Ich will das Kind beschützen, dafür sorgen, dass ihm nichts passiert, es verteidigen.

      Die Vorstellung, dass ich einen Teil von Kilian in den Armen halten kann, macht mich unfassbar glücklich. Ich würde Kilian nicht komplett verlieren. Irgendwie ist das Kind ja schon ein Geschenk des Himmels. Aber ich weiß ebenso genau, dass ich definitiv nicht bereit für ein Kind bin. Ich kann diese Verantwortung nicht übernehmen. Das kleine Wesen wäre abhängig von mir. Es ist so zerbrechlich. So hilflos ohne mich.

      Was ist, wenn ich keine gute Mutter bin?

      Was ist, wenn ich das alles allein nicht schaffe?

      Wie ist das Leben mit Kind?

      Ich packe das doch niemals allein. Auch wenn ich die Unterstützung meiner Eltern und von Philias habe, letztendlich bin ich ja trotzdem die Mutter von dem Bündel. Und ich muss mich um das Kleine kümmern. Ich und kein anderer.

      Ich war so froh, als ich selbstständig auf meinen eigenen Beinen stand und nicht mehr so abhängig von meinen Eltern war. Aber ich habe kein Geld für ein Kind. Ich wäre also schon wieder abhängig von ihnen. Will ich das wirklich?

      Soll ich dem kleinen Wesen ein Leben schenken? Oder soll ich mich doch erst einmal wieder sicher auf meine eigenen Beine stellen? Ich habe gerade wirklich andere Probleme. Vielleicht sollte ich das Kind einfach abtreiben.

      *

      Blumenmädchen

      Juni 1998

      Mein gesamter Körper tut unbeschreiblich weh. So lange musste ich bis jetzt definitiv noch nie still sitzen. Nach einem Zwischenstopp in London und zwei etlichen lang Flügen kommen wir am Indira Gandhi International Airport an. Indien. Unser nächstes Reiseziel. Ein Land, in das ich schon immer einmal reisen wollte. Meine Oma hat mir früher, als ich kleiner war, immer viele Geschichten aus Indien erzählt. Manchmal saß sie abends an meinem Bett und hat mir noch ein bisschen von ihren Abenteuern erzählt. Ich kann mich gut an ihre Worte erinnern, auch wenn diese Gutenachtgeschichten schon Jahre her sind.

      „Ach, Liebes. Es gibt so viele wunderschöne Orte auf der Welt. Man sollte niemals seine Zeit verschwenden und sein Leben nur an einem Ort verbringen. Diese Menschen verpassen die bezaubernde vielfältige Welt.“ Sie fing meistens mit diesen Sätzen an. Damals habe ich noch nicht ganz verstehen können, was sie damit meint. Jetzt, nachdem sie gestorben ist und ich dabei bin, ihre Lieblingsorte zu besuchen, verstehe ich langsam, was sie mit diesen Worten sagen wollte. Oft hat sie von der Vielfältigkeit Indiens erzählt, von den bunten Straßen, den Elefanten und dem scharfen Essen geschwärmt und auch die bedrückende Armut erwähnt. Mit großen Augen habe ich sie als Kind angeschaut und ihr fasziniert zugehört. Ich bin gespannt, wie Indien jetzt ist, wenn ich das Land nun mit eigenen Augen sehe.

      Wir laufen die langen Gänge des Flughafens entlang. Eigentlich folgen wir nur den Menschenmassen, die mit uns aus dem Flugzeug geströmt sind. Irgendjemand wird schon wissen, wohin wir müssen. Ich bin sehr froh, dass die ausgehängten Schilder nicht nur auf Indisch sind, sondern auch alles auf Englisch darunter steht. Indisch kann ich leider genauso wenig sprechen wie Isländisch.

      Nachdem wir unsere Koffer gefunden haben, gehen wir lange Zeit durch die Eingangshalle und bleiben alle zwei Sekunden stehen, da jemand vor uns zum Stehen kommt. Es ist so unfassbar überfüllt hier. Ich kann nicht mehr und will auch nicht mehr. Der Flug war schon total anstrengend, da mindestens drei kleine Kinder um uns herumsaßen, die nicht damit einverstanden waren, was ihre Eltern wollten. Auch irgendwie verständlich. Wer will schon als kleines Kind das machen, was die doofen Eltern wollen? Also haben sie durchgängig geschrien. Mein Kopf dröhnt noch immer davon. Und jetzt geht es nicht voran, da viel zu viele Menschen unterwegs sind. Ich kann die ersten Eindrücke von Indien überhaupt nicht genießen und auch nicht wirklich wahrnehmen. Ich will einfach nur noch in unser Hotel.

      * * *

      Die ersten gesammelten Eindrücke von Indien sind irgendwie nicht wirklich positiv. Es ist eine unglaublich erdrückende Hitze hier. Kilian und ich sitzen nebeneinander im Taxi und ich starre schwitzend aus dem Fenster. Wir verlassen das Flughafengelände und schon kurze Zeit später bemerkte ich, dass die Verkehrsregeln hier nicht die gleichen sind wie bei uns in Deutschland. Auf den Straßen hier herrscht einfach nur ein unglaubliches Chaos. Ich habe das Gefühl, dass jeder fährt, wie er will, und jedes Auto alle drei Sekunden hupt.

      Außerdem herrscht eine unfassbare Lautstärke. Meine Kopfschmerzen werden dadurch nicht wirklich gelindert. Grundsätzlich gilt, dass Lastwagen und die Autos, die die größten Hupen haben, Vorfahrt haben. Auch fahren auf zwei Fahrstreifen irgendwie nicht nur zwei Autos, sondern manchmal auch drei Autos. Haben die Leute hier schon einmal etwas von Verkehrsregeln gehört? Gleich nachdem ich mir diese Frage gestellt habe, könnte ich mir schon wieder an den Kopf greifen. Wieso sitzen da vier Personen auf einem Motorrad? Was ist nur los mit diesen Menschen? Indien wäre definitiv kein geeigneter Wohnort für mich. Ich brauche Ordnung in meinem Leben. Und wenn ich mir diese Straßen anschaue, wissen die Menschen wahrscheinlich nicht einmal, dass das Wort Ordnung existiert.

      Wir verlassen die großen Straßen und biegen in eine kleinere Seitengasse ein. Es ist nicht mehr weit bis zu unserem Hotel. Ich beobachte die Menschen, die auf den Gehwegen unterwegs sind. Viele liegen am Straßenrand. Schon jetzt bemerke ich, was meine Oma mit der bedrückenden Armut meinte. Nicht nur Erwachsene liegen auf den Wegen, sondern auch kleine Kinder – eingerollt in schmutzigen Decken. Ich muss schlucken. Es ist erschlagend, wie die Menschen hier leben. Doch auch wenn es noch so erschütternd ist, dass die Menschen hier in einer solchen Armut leben müssen, habe ich den Eindruck, dass sie trotzdem stolz und glücklich aussehen. Sie laufen aufrecht und mit Würde durch die Straßen und sehen nicht sonderlich bekümmert aus, dass sie eigentlich nichts haben. Das beeindruckt mich sehr.

      Weiter vorne kann ich eine Kuh erkennen, die mitten auf der Straße steht. Wieso steht dort eine Kuh auf der Straße? Es ist so ein kleiner Spalt zwischen Lachen und Weinen. Lachen, weil dieses verwirrende Chaos schon manchmal lustig aussieht, und Weinen, weil diese Armut einen extrem schafft.

      Ein paar Hundert Meter weiter hält das Taxi und wir steigen aus dem Auto. Unser Hotel ist ungefähr fünf Meter entfernt. Ich schaue mich um. Es stehen noch zwei weitere Taxis vor unserem Hotel, die ebenfalls Leute aus dem Auto lassen. Ein kleiner Junge kommt auf uns zu gerannt. Er trägt eine kurze Hose und ein T-Shirt. Schuhe hat er nicht an. Seine Sachen sind staubig. Ich schätze, dass er vielleicht sieben Jahre alt ist. Er grinst über das ganze Gesicht und fragt uns etwas. Der kleine Kerl ist wirklich süß. Ich wünschte, ich könnte ihn verstehen. Ich versuche, ihm klarzumachen, dass ich ihn nicht verstehen kann. Auch Kilian schaut ihn fragend an.

      Der Junge legt seine Hand auf seine Brust und sagt: „Bodhi.“

      Ich verstehe. Sein Name. Ich zeige erst auf mich und sage ihm langsam und deutlich meinen Namen, dann mache ich das Gleiche mit Kilian. Nachdenklich nickt der Junge und wiederholt unsere Namen. Er spricht sie lustig aus, aber im Groben stimmen sie. Er deutet hinter


Скачать книгу