Schlaflos. Anders Bortne
Schlafstörungen zu Hause bleiben musste.«
»Wie lange waren Sie krankgeschrieben?«
»Vier Tage.«
Meinem Chef hatte ich etwas von einer Magenverstimmung erzählt. Hätte ich die Wahrheit gesagt, dass ich nämlich wegen meiner Schlafstörungen krankgeschrieben worden war, hätten sie sich bei der Arbeit wohl gefragt, was eigentlich mit mir los sei. Ich verschweige meine Schlafstörungen nicht, aber bisher bin ich noch nie damit hausieren gegangen, schon gar nicht, wenn ich mit Leuten zu tun hatte, die mir nicht nahestehen. Wenn ich sage Ich schlafe nicht, dann ist das, als ob ich sagte Ich blute. Alle wollen dann wissen, wie es dazu gekommen sei. Und weil ich das nicht beantworten kann, kann sich jeder etwas anderes zusammenreimen: Anders ist deprimiert, Anders hat irgendein Trauma, Anders geht’s nicht gut auf Arbeit – oder zu Hause oder beides. Solange ich selbst keine Antwort für mich gefunden habe, habe ich Angst, dass die anderen mich als Weichei abschreiben.
Ich weiß nicht, warum ich blute, ich blute einfach.
Sich selbst krankzumelden, wenn auch nur für ein paar Tage, ist schon eine Niederlage. Meine Schlaflosigkeit tauchte vor sechzehn Jahren auf und fühlte sich zunächst an wie ein großer Stein, der mitten auf meinen Weg geplumpst war. Ich fand jedoch immer einen Weg drumherum: Mal bin ich mittags nach Hause gefahren, um etwas zu schlafen, mal kam ich eine Stunde später zur Arbeit oder ich ging eine Stunde früher oder hielt ganz einfach durch, bis ich wieder schlafen konnte. Es war nicht das erste Mal, dass ich wegen der Schlafstörungen alles langsamer angehen musste, aber ich war noch nie wegen Schlafmangel arbeitsunfähig gewesen. Ich habe keine Kraft mehr, weiterzukämpfen. Deshalb gibt es nun keinen Weg mehr drumherum.
»Hat jemand Ihre Schlafstörungen denn schon mal genauer untersucht?«, fragt der Arzt.
»Nein. Meinen Sie denn, das würde helfen?«
Untersuchung der Schlafstörungen ist eine Formulierung, die immer wieder auftauchte, wenn ich in den letzten Jahren mit Freunden oder der Familie über meine Beschwerden sprach. Hast du deine Schlafstörungen schon untersuchen lassen? Ist das etwa meine große Hoffnung? Bin ich eigentlich deshalb hier? Ich weiß nicht einmal, wie das gemacht wird, außer, dass ich eine Nacht unter Beobachtung im Krankenhaus sein müsste. Das hört sich an wie der Titel einer Doktorarbeit: Untersuchung von Schlafstörungen.
Der Arzt schiebt sich mit seinem Bürostuhl vom Schreibtisch weg und rollt zu einem Regal, aus dem er einen dünnen Ordner zieht. Sind das vielleicht seine eigenen Notizen? Er sucht in dem Ordner nach etwas, liest ein bisschen, sucht weiter. Letztes Mal, als ich mit einem meiner Kinder hier war, schaute er mich nicht ein einziges Mal an. Ich bin an Ärzte gewöhnt, die schon alles erlebt, alles gehört haben, die nie wirklich daran glauben, dass etwas Schwerwiegendes vorliegen könnte, ganz egal, mit welchen Beschwerden man ankommt. Aber jetzt ist er neugierig und engagiert. Vielleicht bin ich an diesem Tag für ihn der interessanteste Patient. Vielleicht waren vor mir heute nur Leute mit Migräne und Grippe hier und dann komme ich mit meinen sechzehn Jahren Schlaflosigkeit. Vielleicht war es gerade solch ein Fall, der ihn ursprünglich zum Medizinstudium motiviert hat? Vielleicht wird er jetzt in seinen alten Ordnern aus dem Studium blättern, seine Professoren von damals anrufen, die ebenfalls aus dem akademischen Dämmerschlaf erwachen und ihn dann des Nachts mit Vorschlägen zu innovativen Lösungen anklingeln. Spätabends noch schnell etwas essen, wissenschaftliche Formeln, die eine Wandtafel füllen, halbe Nächte im Archivkeller der Bibliothek.
»Ich weiß nicht, aber normalerweise schaut man sich schon die zugrunde liegenden Probleme an«, sagt er, noch immer über den Aktenordner gebeugt.
»Was meinen Sie?«
»Also, woran liegt es denn, dass Sie nicht schlafen können? Dafür kann es viele Gründe geben, wie Sie ja selbst sagen. Vielleicht wird eine Untersuchung dazu beitragen, die aufzuspüren.« Er klappt den Ordner zu, stellt ihn zurück ins Regal und rollt wieder zurück zu seinem Computer.
Indem ich dem Arzt von meinen Beschwerden berichte, indem ich um Hilfe bitte, merke ich etwas, das ich schon lange nicht mehr wahrgenommen habe: Hoffnung. Hoffnung und Angst. Gibt es die immer nur im Doppelpack? War ich deshalb so zögerlich gewesen, einen Arzt aufzusuchen? Hatte ich Angst davor, wieder einmal ein bisschen Hoffnung zu hegen?
»Für die nächste Zeit habe ich etwas für Sie, das, glaube ich, helfen könnte«, sagt er. »Das sind keine Schlaftabletten, das ist ein Medikament, das man bei bipolaren Störungen nimmt.«
»Glauben Sie denn, ich habe eine bipolare Erkrankung? Schlafe ich deshalb nicht?«
»Es sieht nicht nach einer bipolaren Erkrankung aus – Sie funktionieren bei Ihrer Arbeit. Und ein paar kleinere Episoden dann und wann besagen noch gar nichts. Es ist aber nicht unüblich, Medikamente, die eigentlich für etwas Bestimmtes gedacht sind, für etwas ganz anderes einzusetzen. Und das hier kann man zum Einschlafen nehmen. Es bremst das Gedankenkarussell.«
»Es bremst das Gedankenkarussell?«
»Es verlangsamt das Ganze. Nur nachts.«
»Ich werde also nicht zu einem sabbernden Idioten?«
»Nein, das sind Schlaftabletten.«
Ich nicke, verstehe aber nicht. Sind das nun Schlaftabletten oder nicht? Wovor ich am meisten Angst habe, sind Medikamente, die meine Fähigkeit, zu schreiben oder Musik zu machen, begrenzen oder ausschalten. Verliere ich die, dann ist es egal, ob ich in allen anderen Bereichen funktioniere.
»Wie lange soll ich das einnehmen?«
»Eine Woche und dann kommen Sie wieder. Dann besprechen wir, wie es Ihnen gegangen ist, und ich sehe mal, ob ich Sie an einen Spezialisten überweisen kann.« Er stellt ein Rezept aus und bedeutet mir, dass unser Gespräch nun zu Ende sei. »Lassen Sie sich von der Packungsbeilage nicht beunruhigen!«, sagt er noch, als ich schon aus dem Sprechzimmer gehe.
Als ich ein paar Stunden später in der Apotheke stehe, um mir mein Medikament zu holen, sehe ich, dass ich meine Bankkarte nicht mithabe. Die muss ich auf Arbeit liegen gelassen haben. Ich radele zur Arbeit, finde die Karte auf meinem Schreibtisch, radele wieder zurück zur Apotheke und wedele außer Atem mit der Karte in Richtung der Apothekerin, die verhalten zurücklächelt. Ich, der ich mich gegen Medikamente entschieden hatte und zum Arzt gegangen war, um eine dauerhafte Lösung zu finden, stehe jetzt wie ein Idiot vor der Apothekerin und schreie schon beinahe: »Schauen Sie mal, ich kann sogar für meine Pillen bezahlen!«
Die Apothekerin schiebt die Tablettenschachtel über den Ladentisch und tippt den Preis in die Kasse ein. Ich bezahle mit Karte. Die Schachtel sieht aus wie alle anderen, eine weiße, flache, rechtwinklige Tablettenschachtel.
»Und lassen Sie sich von der Packungsbeilage nicht beunruhigen!«, sagt sie noch.
Ich hole die Kinder aus dem Kindergarten, setze sie in die Box vorn am Lastenfahrrad und radele nach Hause. Während die beiden draußen spielen, koche ich Tomatensuppe, mache Eierpfannkuchen und lade unser Nachbarkind zum Essen ein. Nach dem Essen renne ich mit den restlichen Pfannkuchen zu unseren Nachbarn von oben. Hätte ich letzte Nacht schlecht geschlafen, hätten wir uns mit Schinkenpizza und Cola begnügt. Die Nachbarn hätten nichts abbekommen. Aber jetzt habe ich die Kraft, mich wie ein gut funktionierender, leistungsfähiger Mitmensch zu benehmen.
Line macht heute Überstunden und kommt erst nach Hause, als die Kinder schon im Bett sind. Ich erzähle ihr vom Arztbesuch und dem Medikament, das ich verschrieben bekommen habe.
»Aber das ist ja genau das, was du nicht wolltest!«, sagt sie. »Du hast selbst gesagt, du bist gegen Schlaftabletten!«
»Aber das sind doch keine Schlaftabletten!«, sage ich.
»Ach nein?«
»Der Arzt sagt, sie verlangsamten das Gedankenkarussell. Er möchte sehen, ob mir das was bringt.«
Line schaut mich an. Sie denkt nach, sehe ich, sagt aber nichts mehr. Das hier ist meine Entscheidung. Ich lege die Medikamentenschachtel auf den Tisch, an dem wir sitzen, falte den Beipackzettel