Schlaflos. Anders Bortne
Erkrankungen.
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Mit der Schlaflosigkeit fing es an, als ich mit Ende zwanzig mein Studium abgeschlossen hatte und wegen der neuen Arbeit von Bergen nach Oslo gezogen war. Morgens ging ich zur Arbeit, nachmittags probte ich mit einer meiner beiden Musikbands, abends war ich mit Freunden unterwegs. An den Wochenenden schrieb ich an meinem ersten Roman. Mein soziales Netzwerk war groß, meine Ambitionen riesig und dann traf ich auch noch Line.
Ich wohnte in einer kleinen, schmuddeligen, aber dafür eigenen Zweizimmerwohnung, ganz am Ende des Trondheimsveiens. Ich erinnere mich, wie sehr ich diese Wohnung liebte, auch wenn ich heute daran denken muss, dass dort meine Schlaflosigkeit ihren Anfang nahm. In dem kleinen Schlafzimmer, auf einem Boxspringbett von IKEA, lag ich nächtelang wach, hörte die letzte Tram, die nachts um eins vorbeiratterte, und die allererste morgens um fünf. Danach saß ich zitternd auf der Bettkante und war von einer unerklärlichen Unruhe erfüllt. Es war nichts Schlimmes passiert und würde auch nicht passieren. Ich würde genau dasselbe machen wie am Tag zuvor: mich duschen, anziehen, mir die Zähne putzen und zur Arbeit gehen, wo ich für das interne Informationsblatt der norwegischen Post Artikel schrieb. Die allergrößte Dramatik dieses Jobs bestand darin, Fotos von der Übergabe der riesigen Checks für die Angestellten des Monats zu knipsen. Wovor hatte ich Angst? Warum konnte ich nicht schlafen? Ich schaute in den Spiegel: Nichts davon zu sehen, dass ich die ganze Nacht über wach gelegen hatte. Und die Tage nach diesen schlaflosen Nächten verliefen überraschend gut. Und in der nächsten Nacht würde ich mit Sicherheit ja wieder schlafen können.
Doch ich konnte nicht mehr schlafen, es ging nichts mehr. Kein Schlaf – zwei, drei, vier Nächte hintereinander weg! Ich war so überrascht über dieses plötzliche Ausbleiben des Schlafes, dass ich es allen Bekannten erzählte, die mir über den Weg liefen, so wie nach einem Überfall auf offener Straße: Ich habe die beiden letzten Nächte nicht schlafen können! Wirklich wahr! Und ich habe keine Ahnung, warum!
Aber ich wollte auch gar nicht wissen, warum ich nicht schlafen konnte, ich wollte einfach nur schlafen. Ich ging wieder zum Arzt, dieses Mal zu einem anderen, der mir aber auch nur Schlaftabletten verschrieb. Was könnte denn noch helfen? Schlaftabletten waren das Einzige, das uns beiden einfiel – natürlich würde ich Tabletten nehmen müssen. Und anfangs halfen sie auch. Imovane, Apodorm, Stilnoct. Ich ging zum Arzt und bekam mein Rezept. Hatte ich die Tabletten aufgebraucht, schrieb mir ein Freund, der gerade sein Medizinstudium abgeschlossen hatte und nun zugelassener Arzt war, abends und am Wochenende neue Rezepte aus. Ab und an bekam ich von Freunden Schlaftabletten, die sie noch zu Hause rumliegen hatten. Wenn mein Pillendealer keine Zeit hatte, mich zu treffen, verabredeten wir ein Versteck, wo ich die Pillen einsammeln konnte. Ich hatte die Fantasie und die Überredungskunst eines Pillenjunkies. Ich konnte mir immer Tabletten beschaffen, versuchte aber auch immer, nicht durchblicken zu lassen, wie verzweifelt ich war. Einmal verabredete ich mich mit einer Freundin, die erzählt hatte, sie hätte noch eine Tablette bei sich zu Hause. Ich hatte drei Nächte hintereinander nicht schlafen können, es gab keine Alternative. Sie musste verreisen, also überredete ich sie, bevor sie losfuhr, die Tablette in einer Plastiktüte unter die Müllcontainer vor der Haustür zu legen. Ich lief im Sturzregen durch die Stadt zum vereinbarten Platz, legte mich auf den Boden und suchte so lange unter den Müllcontainern nach der Plastiktüte, bis ich sie fand. Glücklich lief ich nach Hause und hatte dabei die ganze Zeit meine Hand in der Hosentasche um den Blister gekrampft, der noch eine einzige Tablette enthielt.
Eine kleine Tablette nur und schon konnte ich nachts schlafen. Hatte ich am nächsten Tag in Bestform zu sein, konnte ich mich mit einer der kleinen Schlaftabletten begnügen. Als ich mein erstes Buch herausbrachte, ging es in der Nacht vor einem Interview gar nicht ohne Schlaftabletten. Ich hatte riesige Angst davor, wie ein Zombie dazuhocken, ich wollte als smart, cool und wach rüberkommen. Und ich wollte auf den Fotos gut aussehen. Das war in der Zeit, in der ich mir noch nicht eingestehen wollte, dass meine Schlafstörungen nicht aufhören wollten. Für mich waren die Schlafstörungen eine Extrabürde, die ich eine Weile tragen, aber eines Tages würde abwerfen können. In der Zwischenzeit versuchte ich, das anderen gegenüber so gut wie möglich zu verheimlichen und durchzuhalten. Also schluckte ich eine Schlaftablette, schlief fest, schlief lange und war am nächsten Tag ausgeruht.
Das war zu gut, um auch auf lange Sicht zu funktionieren. Die Tabletten verloren nach und nach an Wirkung und hatten am Ende gar keine mehr. Stattdessen wurde ich wirr und apathisch und mein Mund trocken.
Schlafmittel bringen keinen natürlichen Schlaf. Untersuchungen haben gezeigt, dass Menschen, die nur mit Schlaftabletten schlafen können, nicht genug jener tiefsten Gehirnwellen erzeugen, die Auskunft über die Tiefe und Qualität des Schlafes geben können.1 Schlaftabletten greifen die Rezeptoren an, die die Gehirnzellen daran hindern, Impulse auszusenden. Schlaftabletten, genau wie Alkohol, betäuben, darauf lässt sich kein Lebensstil aufbauen. Und dann gibt es auch noch all die anderen ungewollten Nebenwirkungen von Schlaftabletten, über die ich mir, als ich abhängig war – und abhängig war ich wirklich –, nicht im Klaren war: Schlaftabletten können vergesslich machen. Man macht Sachen, ohne sich darüber voll bewusst zu sein. Das Reaktionsvermögen kann am Tag darauf eingeschränkt sein, man kann zu einer Gefahr für den Straßenverkehr werden. Wenn man die Schlaftabletten dann absetzt, schläft man mitunter schlechter als vor Beginn der Einnahme. Und es kann noch schlimmer kommen. Eine große amerikanische Studie verglich 10.000 Patienten, die Schlaftabletten nahmen, um schlafen zu können, mit 20.000 anderen, die keine nahmen.2 Diejenigen, die Schlaftabletten einnahmen, hatten eine 4,6-prozentige Wahrscheinlichkeit, während der zweieinhalbjährigen Testphase zu sterben. Die Sterblichkeitsrate wurde größer, je mehr Tabletten man einnahm. Die Studie zeigte auch, was frühere Untersuchungen bereits angedeutet hatten, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Verbrauch von Schlaftabletten und Krebserkrankungen gibt. Diejenigen, die Schlaftabletten einnahmen, hatten eine 30–40 % höhere Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken!
Schlaftabletten funktionieren nicht und können mich das Leben kosten. Doch obwohl ich das jetzt weiß, hätte ich sie trotzdem genommen, wenn ich gewusst hätte, dass sie helfen. Ein Mensch, der drei Tage lang nichts zu essen bekommen hat, würde doch auch egal was essen, nur um keinen Hunger mehr haben zu müssen – und das trotz aller Warnungen zu den möglichen Nebenwirkungen, oder? Wenn man nicht schlafen kann, tut man wirklich alles, um doch nur ein paar Stunden schlafen zu können. Sie brauchen bloß die halbe Million Norweger – bei einer Bevölkerung von 5,2 Millionen – zu fragen, die heutzutage Schlaftabletten einnehmen, um schlafen zu können. Und der Verbrauch steigt. Von 2000 bis 2010 stieg der Verbrauch an Schlafmitteln allein in Norwegen von 6,9 % auf 11,1 %.3
Ich weiß nur von einem einzigen Menschen, der so wie ich an chronischer Insomnie leidet, aber fast alle anderen, die ich kenne, haben irgendwann einmal Schlaftabletten genommen. Und man braucht dafür nicht einmal, so wie ich, unter Müllcontainern herumzusuchen. Ein Freund von mir nahm das erste Mal während eines Krankenhausaufenthaltes Schlaftabletten – und nimmt sie immer noch. Jedes Mal, wenn er wieder alle aufgebraucht hat, loggt er sich auf der Internetseite seines Hausarztes ein, schreibt als Stichwort nur Schlaftabletten, und schon bekommt er sein Rezept. Nachgefragt wird nicht.
Auch wenn die Wirkung nachließ, nahm ich aus reiner Verzweiflung auch die folgenden zwei Jahre noch Tabletten. Einmal versuchte ich, die Schlaftabletten auszusetzen, um das System wieder auf null zu stellen und den Körper auf eine neue Runde vorzubereiten, aber das funktionierte nicht. Ich probierte auch sogenannte Einschlaftabletten, die noch weniger Wirkung hatten, aber nicht weniger belastende Nebenwirkungen. Die Medikamente arbeiteten nun gegen mich. Mein Gehirn hatte Stopp signalisiert. Nach drei Jahren Insomnie musste ich die Tabletten absetzen. Ohne sie ging es mir besser – auch wenn ich in der Zeit danach noch schlechter schlief. Das wiederum ließ mich sehr schnell nach anderen Dingen suchen, die meinem Schlaf helfen konnten. Aber bloß keine Schlaftabletten mehr, dachte ich. Es ist nun mehr als zwölf Jahre her, seit ich das letzte Mal Medikamente genommen habe, um schlafen zu können.