Schlaflos. Anders Bortne
werden, während wir schlafen, aus der Erinnerung gelöscht. Die Forschung zeigt, dass der Erinnerungsverlust während des Schlafes rückwirkende Kraft besitzt.7 Während des Einschlafens wurden Versuchspersonen kurze Wortgruppen vorgespielt. Diejenigen, die 30 Sekunden nach dem Einschlafen wieder geweckt wurden, konnten sich noch immer daran erinnern, was sie vor dem Einschlafen gehört hatten. Diejenigen aber, die erst nach 10 Minuten wieder geweckt wurden, vermochten das nicht. Einige von ihnen erinnerten sich auch nicht mehr an das, was sie noch 10 Minuten vor dem Einschlafen gehört hatten. Dass wir uns nicht an den Moment des Einschlafens und den kurz davorliegenden Zeitraum erinnern, kann auch erklären, warum wir uns nicht an kurzes nächtliches Aufwachen erinnern.
Der undurchdringliche Aspekt des Schlafes scheint auch die Fantasie rund um das Thema in Grenzen gehalten zu haben. Die Mythologie hat stets die wichtigsten Fantasien der Menschen widergespiegelt. Rund um Sex, Krieg, Tod und Rausch entstanden Götterwelten. Mythen über den Schlaf gibt es dagegen nur wenige. In der altnordischen Mythologie gibt es keinen Gott des Schlafes, das Einzige, was dem nahekäme, wäre die Riesin namens Natt (Nacht), ein sogenanntes Trollweib. Jede Nacht reitet sie auf ihrem Pferd Rimfakse, das seinen Speichel in Form von Morgentau auf dem Gras hinterlässt, über den Himmel. In der griechischen Mythologie gibt es zumindest einen eigenen Gott des Schlafes: Hypnos.8 Hypnos ist der Zwillingsbruder von Thanatos, dem Gott des friedlichen Todes. Das sagt etwas darüber, wie die Griechen den Schlaf einordneten. Der Gott des Schlafes lebt in seiner Höhle in Erebos, einem – laut griechischer Mythologie – Land in ewiger Finsternis, jenseits der Pforten zur aufgehenden Sonne. Vor Hypnos’ Höhle wachsen Mohnblumen und auf dem Kopf trägt er einen Kranz aus Mohnblumen. Weil Hypnos es nicht mag, von Geräuschen geweckt zu werden, gibt es in der Höhle weder knarrende Pforten noch Türen. Einer der fünf Flüsse der Unterwelt, der Fluss des Vergessens, fließt an Hypnos’ Höhle vorbei. Von dort aus kann der Gott des Schlafes nicht erkennen, ob es Tag oder Nacht ist, was ihn jedoch nicht daran hindert, jede Nacht, zusammen mit seiner Mutter Nyx, der Göttin der Nacht, an den Himmel zu steigen. In späteren europäischen Sagen kommt der Schlaf in Gestalt eines kleinen Mannes, der aus einem Sack magischen Sand in die Augen der Menschen streut, damit sie einschlafen und träumen können. In Skandinavien nennt man ihn Jon Blund oder Ole Lukkøye, auf Deutsch Sandmann und auf Englisch sandman. Er steht für das Träumen, nicht das Schlafen oder den Schlaf. Man versteht schnell, warum die Fantasie des Menschen den Traum vorzieht. Der Schlaf an sich ist handlungsleer, er ist die Pause, der leere Zwischenraum. Im Schlaf sind wir alle uns selbst überlassen. Allein in unseren Träumen handeln und fühlen wir, und durch diese Handlungen und Gefühle üben wir Mitmenschlichkeit. Allein in unseren Träumen können wir einander sehen.
Doch um träumen zu können, muss man zunächst erst einmal schlafen können.
4
Am nächsten Morgen setze ich mich im Bett auf. Ich fühle mich schwer und benommen. Habe ich tief genug geschlafen? Lange genug? Habe ich überhaupt geschlafen? Mit den Jahren bin ich zu einem Experten geworden und kann mein Schlafverhalten beobachten und Diagnosen stellen. Und wie auch bei allen anderen Fachidioten: Je tiefer man gräbt, desto ausschweifender und unverständlicher werden die Antworten. Es ist schon lange her, dass ich auf die Frage Hast du gut geschlafen? ehrlich geantwortet habe. Ich habe mir angewöhnt, einfach nur zu nicken und Ganz okay! zu antworten. Die Frage ist eine Höflichkeitsphrase, niemand möchte eine ausführliche Antwort hören.
Was das Tagesgeschäft betrifft, weiß ich so ungefähr, was auf mich zukommt, aber über die Nächte habe ich keine Kontrolle. Ich weiß nie, was da auf mich zukommt, und in der Regel weiß ich auch hinterher nicht, wie es war. Der Schlaf kommt oder er kommt auch nicht. Ich kann eine ganze Nacht durchschlafen oder auch eine ganze Nacht lang nur wach liegen und die Decke anstarren. Ich kann die halbe Nacht wach liegen und die zweite Hälfte in Tiefschlaf fallen. Ich kann mich um drei Uhr nachts hinlegen und um halb fünf meinen Tag beginnen. Ich kann acht Stunden in einer Art bewusstlosen Dämmerzustandes zubringen, ohne in den Tiefschlaf zu kommen. Ich kann mich vom Bett aufs erste Sofa, von dort aufs zweite Sofa und dann auf den Fußboden vor den Fernseher und wieder zurück ins Bett bewegt haben. Ich kann mir drei Filme hintereinander angeschaut haben. In einigen Nächten finde ich Schlaf, in anderen nicht. Wo auch immer sich der Schlaf hinbewegt, ich versuche, ihm auf den Fersen zu bleiben.
Nachts kann alles Mögliche passieren, und das Einzige, was ich machen kann, ist, in mich hineinzuhorchen und Worte zu finden.
Aber jetzt bin ich unsicher.
Ich höre Line und die Kinder im Obergeschoss miteinander reden. Als Letzter aufzuwachen ist ungewohnt. Ich dusche und ziehe mich an, und wie ich so aus der Nacht auftauche und über die Schwelle in den Tag trete, merke ich, dass mit mir etwas nicht stimmt. Sind das die Nachwirkungen der Tablette? Ich muss irgendwie weggetreten gewesen sein, aber es fühlt sich nicht an, als ob ich geschlafen hätte. Ich bin nicht müde, aber ich habe auch nicht das Gefühl, erholt zu sein, wie sonst nach einer guten Nacht. Als ich ins Obergeschoss gehe, rufen die Kinder fröhlich nach mir, aber Lächeln geht nicht.
»Morgen!«, sagt Line.
»Morgen!«, erwidere ich.
Das erste Wort des Tages, der erste Austausch mit einem anderen Menschen – manchmal ist das, wie eine vollgekramte Rumpelkammer zu öffnen. An manchen Tagen bleibt das Gerümpel da, wo es ist, an anderen fällt dir alles entgegen. An jenem Morgen verstehe ich, dass ich mich zurückhalten muss; ich habe nichts Gutes beizutragen. Einfach nur durchhalten, sage ich mir. In einer Dreiviertelstunde sind die Kinder im Kindergarten und ich bin auf Arbeit. Meine Arbeit gibt mir den Abstand, den ich brauche: Abstand zu anderen Leuten, aber auch zu mir selbst. Hier zu Hause, mit unseren zwei kleinen Kindern, starrt mir das Leben mitten ins Gesicht; es gibt keinen Abstand, ich kann mich nirgendwo verstecken.
Wir machen uns fertig. Jacken und Schuhe müssen zusammengesucht werden, Trinkflaschen und Regensachen dürfen wir nicht vergessen, wir müssen uns anziehen. Das ist eine Situation, in der ich oft schnell ungeduldig werde, aber an diesem Morgen ist es noch schlimmer als sonst: Ich beginne zu schwitzen, dann beginnt es zu jucken. Mein Brustkorb wird eng, ich bekomme keine Luft. Der Flur mit all den Leuten und Klamotten und Schuhen wird für mich zu einem Käfig. Ich muss einfach raus hier.
»Aber ich will keine Jeans anziehen«, jammert unsere Fünfjährige, als ich ihr die Hose überziehen will. Ich merke, wie es in mir brodelt.
»Keine Widerrede!«
»Ich will aber nicht!«
Ich halte sie fest. »Das ist mir egal!«
»Anders!«, warnt mich Line.
Als wir nach draußen und auf die Treppe treten, packe ich unseren Zweijährigen, der nicht über die Türschwelle will.
»Komm schon!«
Er schüttelt den Kopf.
»Verdammt noch mal!«, knurre ich ihn an und zerre ihn ins Tageslicht. »Komm schon!«
Er schaut mich erstaunt an und sagt einfach nur: »Papa!«
»Jetzt reiß dich einfach mal zusammen!« Line schaut mich streng an und hält meinem Blick stand.
Mir ist heiß, der Schweiß läuft mir den Rücken runter und meine Kopfhaut juckt. Wenn ich jetzt wütend werde, ist alles aus, das weiß ich. Aber ich will mich nicht zusammenreißen, ich will mich nicht beherrschen. Wenn die Kinder denn den ganzen Weg über bocken wollen und Line streiten muss – bitte schön! Ich bin bereit.
Jetzt hält Line inne und es sieht aus, als habe sie plötzlich jemand Fremden vor sich.
»Was ist denn los mit dir?«, fragt sie. »Hast du irgendwelche Dr.-Evil-Pillen genommen, oder was?«
Ich schaue in die Gesichter unserer Kinder: Die Fünfjährige schaut mich an, als ob ich nicht ganz dicht sei. Das Gesicht des Zweijährigen ist rot und verweint. Ich nehme ihn