Schlaflos. Anders Bortne

Schlaflos - Anders Bortne


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      Bald ist es Nacht. Ich telefoniere mit einem Freund, der Arzt ist und dessen bessere Hälfte ebenfalls Schlafstörungen hat. Er hat mir schon mal geholfen, mit Ratschlägen und Rezepten. Ich fasse meine Krankengeschichte zusammen und lese ihm Abschnitte aus dem Beipackzettel vor.

      »Wovor hast du Angst?«, fragt er mich.

      »Das Medikament ist für psychisch Kranke. Ich will einfach nur schlafen! Ich möchte nichts nehmen, was mich irgendwie verändert.«

      »Der Arzt hat dir ein Medikament in einer sehr niedrigen Dosierung verschrieben. Das solltest du probieren. Du hast nichts zu verlieren.«

      Line schläft. Ich selbst liege hellwach da, blicke in den dunklen Raum und warte auf eine mich ereilende äußere Macht – von einem Pharmakonzern entwickelt und in einer Fabrik hergestellt –, die mich in den Schlaf befördern soll. Ohne das Wissen um eine kleine blaue Pille, die gerade dabei ist, sich in meinem Körper aufzulösen und ihre Wirkstoffe ins Blut und in mein Gehirn zu befördern, wäre ich schon längst wieder aufgestanden. Ich will die medizinische Wirkung nicht behindern, also lese ich nicht auf meinem iPad oder höre Musik oder schaue mir einen Film an. Stattdessen tue ich etwas, was ich schon jahrelang nicht mehr gemacht habe: Ich liege einfach nur da und warte.

      Bald schon erfasst mich eine Schwere, die mich auf die Matratze und das Kopfkissen drückt. Meine Arme und Beine werden schwer, die Augen fallen mir zu und ich werde in so etwas wie Schlaf hineingezogen.

      Schlaf ist nicht nur ein Grundzustand des Menschen, sondern dort beginnt und endet auch alles. Im Schlaf beginnen unsere Herzen das erste Mal zu schlagen, für die meisten hören sie auch im Schlaf wieder auf zu schlagen. Der Schlaf liegt wie Airbags um unsere Existenz und stellt die barmherzigen Pausen in unserem Dasein dar. Der wache Teil unseres Lebens gründet sich auf dem schlafenden. Dennoch scheinen Kopf und Geist alles daranzusetzen, die beiden Teile voneinander getrennt zu halten. Der zum Schlaf Bereite schließt die Tür, zieht die Vorhänge zu, macht das Licht aus und rollt sich unter einer Decke zusammen. Das Gesicht wird zugedeckt, die Augen schließen sich, so als ob der wachen Umwelt gegenüber nichts verraten werden sollte.

      Und doch scheint die Grenzlinie zwischen unseren Stunden im Wachzustand und denen, die wir im Schlaf verbringen, so unüberwindlich. Wie in den Tod, so können wir auch in den Schlaf nichts mit hineinnehmen oder mit herausbringen. Nachdem wir eine Mahlzeit zu uns genommen haben, können wir uns an alles erinnern: wie wir uns an den Tisch gesetzt haben, wie das Essen und die Getränke aufgetragen wurden, das Aussehen, den Duft und Geschmack der einzelnen Gerichte, wovon wir uns genommen haben, wie viel wir uns auf den Teller gelegt haben, was wir mochten, was nicht. Der Schlaf jedoch ist im Augenblick des Erwachens schon vergessen. Wir erinnern uns noch daran, wie müde wir waren, als wir ins Bett gingen, sind jetzt jedoch nicht mehr müde. Wir wissen, dass Zeit vergangen ist, wir haben jedoch keine Erinnerung an den Schlaf. Wo sind wir gewesen? Was haben wir gemacht? Es gibt keine Spuren am Körper, es gibt auch überhaupt keine anderen, um genau zu sein. Betrachten wir nur die Geschichte der Menschheit: Alles, was wir heute wissen, basiert auf dem Wachzustand des Menschen. Über den Schlaf und die Nacht wissen wir fast nichts.


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