Musikdramaturgie im Film. Robert Rabenalt

Musikdramaturgie im Film - Robert Rabenalt


Скачать книгу
im eigentlichen Sinne musikalische Gattung ist. Gemeinsamkeiten zwischen den sich in der Zeit entfaltenden Kunstformen Musik und Film erlauben aber, filmische Anordnungen durchaus als »musikalisch« zu bezeichnen, z. B. in Fragen des Rhythmus und Timings oder der Komposition und Anordnung der Ebenen und Teile. Wenn Filmdramaturgie die für die Gattung des narrativen Films kaum zu überschätzende Bedeutung der Bilder und das darstellende Spiel der Figuren ordnet, dann wird sie diese Ordnungskraft auch auf die hinzugefügte Musik übertragen. Eine unmittelbar führende Rolle nimmt Musik dabei selten ein.

      Dennoch scheint der Einfluss von Musik auf Dramaturgie und Filmwirkung enorm zu sein. In der vorliegenden Studie wird der Frage nachgegangen, wie vielfältig und wie konkret Musik als dramaturgisches Mittel zum Einsatz kommt und wie Musik die Filmform und die Filmwirkung beeinflusst. Unter Wirkung wird dabei nicht eine messbare physiologische oder psychologische Wirkung, sondern die Erlebnisqualität (Unterhaltung, Anregung) verstanden, die ein in Dramaturgie enthaltener Aspekt ist. Unter der Vorgabe, die bestmögliche Wirkung zu erreichen, organisiert Dramaturgie als Werkzeug der Konstruktion und Reflexion Struktur und Inhalt und setzt als zugleich praxisbezogene Disziplin Thema und filmische Präsentation einer Geschichte mit den zur Verfügung stehenden Mitteln und Aufführungsarten um.

      Ziel dieser Untersuchung ist es, die oft benannte, aber selten ausführlich behandelte, zeitgemäße Bedeutung der Dramaturgie für die Gestaltung, den Einsatz und die Wirkung der Filmmusik konkret und systematisch darzustellen. Es soll untersucht werden, wie Musik eigene Wirkungsmechanismen und Merkmale zugunsten einer Geschichte und ihrer filmischen Präsentation einbringt und mit Hinblick auf die kognitive und emotionale Anteilnahme eines anvisierten, idealen Publikums eingesetzt wird. Es sollen neue Thesen für die genannten Bereiche entwickelt und Musikdramaturgie als essenzieller Bestandteil einer Filmmusiktheorie ausgebaut werden. Hierfür wird ein zum Teil neues terminologisches und kategoriales Modell zur Beschreibung und Analyse von Filmmusik zur Diskussion gestellt.

      Als Prämissen für dieses Vorhaben, die in der Arbeit an geeigneter Stelle näher erläutert werden, gelten folgende Punkte:

       – Es existiert eine Musikdramaturgie außerhalb des Musiktheaters.

       – Dramaturgie ist zugleich Theorie und Praxis.

       – Zur Filmspezifik gehören ästhetisch eigene Formen der Repräsentation und Präsentation mit den Mitteln der filmischen Montage sowie die Synthese von Wahrnehmung und Wirkungen unterschiedlicher, schon existierender Kunstformen.

       – Filmmusik wird als poetisches Gestaltungsmittel verstanden, das einen Film unverwechselbar werden lässt.

       – Film dient als Kunst und Unterhaltung zur Erfassung der Welt und ist vielfach ebenso bedeutsam wie die Welterfahrung selbst oder eine Vorstufe davon.

       – Kunstwissenschaft muss nicht normativ sein, leitet Thesen und Instrumentarium aus den Werken selbst ab und respektiert dabei einen stets verbleibenden, nicht übersetzbaren Rest.

      Aus den Zielen und Prämissen ergibt sich, dass Dramaturgie als Methode zum Einsatz kommt, d. h. als Instrument der Reflexion, Analyse und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung und des kreativen Durchdenkens von Phänomenen des darstellenden Erzählens und der Filmmusik. In der Filmmusikforschung ist Dramaturgie noch nicht systematisch als Methode genutzt worden, obwohl sie – von bestimmten kommerziellen Erwägungen abgesehen – die wohl wichtigste Instanz darstellt, vor der sich alle zum Einsatz kommenden Mittel im Film, darunter die Filmmusik, direkt oder indirekt rechtfertigen können und meist auch müssen. Ziel dieser Studie ist es daher auch, Dramaturgie als wissenschaftliches Werkzeug zur Annäherung an künstlerische, sich in der Zeit entfaltende, multimediale Werke zu erschließen.

      Konkrete Fragen, die die Untersuchung leiten, sind:

       – Wie kann eine zeitgemäße Definition von Dramaturgie aussehen, die für tradierte Erzählformen im Film und für neuere Formen des filmischen Erzählens geeignet ist?

       – Wie unterscheidet sich Musikdramaturgie im Film von Musikdramaturgie im Musiktheater?

       – Wie lassen sich Filmformen, Stile oder Gattungen musikdramaturgisch differenzieren?

       – Hat Musik bereits eigene narrative oder semantische Implikationen, und falls ja, wie werden sie in eine filmisch erzählte Geschichte integriert?

       – Wie hält Musik das Interesse am Erzählten wach oder beeinflusst die Lesarten der erzählten Geschichte?

       – Wie wirken sich die Verabredungen und Bedingungen zur Gestaltung und Wahrnehmung der auditiven Schicht im Film auf die dramaturgische Bedeutung von im Film eingesetzter Musik aus?

       – Unter welchen Umständen gehört Musik zur Filmspezifik und trägt substanziell zur Filmsprache und Dramaturgie des Films bei, und wann und warum bleibt Musik entbehrlich oder lediglich akzidentielle Zutat?

       – Wann sind die musikalisch-kompositorischen Mittel ausschlaggebend für die Wirkung von Filmmusik und wann vielmehr die Art, wie Musik im Film zum Einsatz kommt?

       – Wie kann existierende Terminologie zur Beschreibung und Analyse von Filmmusik geschärft oder eine neue Terminologie gefunden werden, sodass in dem weiten Spannungsfeld von Ästhetik und Pragmatik (Filmpraxis, Filmtheorie, Medienwissenschaft, Filmkunst, Filmwahrnehmung und kommerzielle Massenverwertung) ein Vokabular und eine Methodik bereitstehen, die der Eigenheit und Wirkungsweise von Filmmusik so umfassend wie möglich gerecht werden?

      Daraus ergibt sich, dass ein interdisziplinärer Ansatz notwendig ist, um die grundlegenden und breit gefächerten dramaturgischen Aspekte der Gestaltung und Wirkung von Filmmusik zu untersuchen. Die Gliederung des Buches und der Umfang der einzelnen Kapitel nimmt darauf Rücksicht. Vonseiten der beteiligten wissenschaftlichen und künstlerischen Disziplinen Theater, Literatur, Musik (Theorie und Komposition), Musikwissenschaft, Film und Filmtheorie existiert keine universell anerkannte Definition von Dramaturgie. Auffällig in den zahlreich vorliegenden Veröffentlichungen zu Filmmusik ist eine Diskrepanz zwischen dem durchaus vorhandenen Bewusstsein von der Bedeutung der Dramaturgie für die Filmmusik einerseits und andererseits dem nicht selten eingeengten oder ungenauen Blick darauf, was Dramaturgie genau sei. Die Begriffsbestimmung steht daher am Anfang der Betrachtungen und ersetzt eine noch häufig anzutreffende reduzierte Auffassung, nach der Dramaturgie lediglich den Handlungsaufbau oder einen nicht näher definierten Spannungsaufbau betrifft, manchmal nur Worthülse für die Ansammlung von Strukturmustern ist oder allein das In-Szene-Setzen meint und überdies implizite, nicht offensichtliche Dramaturgieanteile vernachlässigt.

      Die Untersuchungen zur Musikästhetik, Filmästhetik, Kunst- und Emotionspsychologie werden auf jene Aspekte eingegrenzt, die für die dramaturgische Bedeutung von Filmmusik und ihre Rezeption wichtig erscheinen. Somit kann zwar keine als vollständig geltende Ästhetik der Filmmusik entwickelt werden, jedoch steht diese mehr als in anderen Veröffentlichungen zur Filmmusik am Anfang der Betrachtungen, und im Verlauf treten wesentliche Merkmale einer Ästhetik der Filmmusik hervor. Querverbindungen zwischen den Disziplinen und die für Filmmusik spezifisch geltenden Bedingungen bei der Filmherstellung und Aufführung führen die unterschiedlichen Perspektiven immer wieder zusammen, sodass auch hier die Frage nach der dramaturgischen Bedeutung von Filmmusik ins Zentrum gerückt werden kann. Die kritische Reflexion des Vokabulars und eine Aufstellung der konkreten Aspekte der Musikdramaturgie im Film bilden die Grundlage für das letzte Kapitel. Dort werden konkrete Thesen zur Theorie der dramaturgischen Einbindung von Musik sowie das Instrumentarium zur musikdramaturgischen Analyse präsentiert und mit zahlreichen Beispielen untermauert.

      Wenn Begriffe und Zusammenhänge von Grund auf neu überdacht werden, ist meist auch eine Kritik an der Terminologie oder ihrem Gebrauch die Folge. Diese Kritik richtet sich aber nicht an Personen, die mit solcher Terminologie arbeiten. Erkenntnisse oder neue Begriffe sollen zum Weiterdenken anregen und stehen im besten Fall auch für hier nicht diskutierte Gegebenheiten, Gattungen und Formen zur Verfügung.

      Der Korpus der Studie erwächst aus Filmen, die entweder durch ihr ästhetisches Konzept, ihre Dramaturgie und Erzählstruktur,


Скачать книгу