Musikdramaturgie im Film. Robert Rabenalt

Musikdramaturgie im Film - Robert Rabenalt


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weiß und die eigene Sichtweise auf Thema und Geschichte zwar nicht vollständig offenlegt, aber dennoch durchblicken lässt:

      »Ich selbst genoss meinen Bericht so, als würde er von einem ganz anderen erzählt, und ich steigerte mich von Wort zu Wort und gab dem Ganzen, von meiner Leidenschaft für das Berichtete selbst angefeuert, eine Reihe von Akzenten, die entweder den ganzen Bericht würzende Übertreibungen oder sogar zusätzliche Erfindungen waren, um nicht sagen zu müssen: Lügen. Ich hatte auf dem Schemel neben dem Fenster sitzend, den Schorschi auf seinem Bett gegenüber, einen durch und durch dramatischen Bericht gegeben, von dem ich überzeugt war, dass man ihn als ein wohlgelungenes Kunstwerk auffassen musste, obwohl kein Zweifel darüber bestehen konnte, dass es sich um wahre Begebenheiten und Tatsachen handelte. Wo es mir günstig erschien, hielt ich mich länger auf, verstärkte das eine, schwächte das andere ab, immer darauf bedacht, dem Höhepunkt der ganzen Geschichte zuzustreben, keine Pointe vorwegzunehmen und im Übrigen mich als den Mittelpunkt meines dramatischen Gedichts niemals außer acht zu lassen. Ich wusste, was dem Schorschi imponierte und was nicht, dieses Wissen war die Grundlage meines Berichts.«

      Thomas Bernhard, Ein Kind (Bernhard 1982/2012, S. 35 f.)

      Dramaturgie ist ein Bereich der Praxis (Erfindung und Umsetzung) und zugleich der Theorie (Analyse und Reflexion der Regeln). Um eine Brücke zwischen theoretischen und praktischen Anteilen von Dramaturgie zu schlagen, kann man grundsätzlich sagen, dass Dramaturgie als eine Form des kreativen Durchdenkens einer Sache mit den Mitteln der poetischen Gestaltung zeitbasierter Künste verstanden werden kann. Daraus ergibt sich, dass Dramaturgie kein geschlossenes oder homogenes System darstellt – in diesem Sinne sollten die zitierten Definitionen oder Anmerkungen verstanden werden. Unterschiedliche Auffassungen zu und Anforderungen an Aufbau, Umsetzung und Rezeption einer Geschichte lassen Dramaturgie als vielfältiges und keineswegs normatives Gefüge begreifbar werden. Dieses Gefüge besteht aus in der Praxis gewonnenen und erprobten Strukturen und Wirkungsstrategien, die sich nicht selten zu erzählerischen Modellen und rezeptionsästhetischen Modellvorstellungen zu Wahrnehmung und Aufschlüsselung von narrativen Werken verfestigt haben. Hierauf aufbauend entwickelte und entwickelt sich Dramaturgie als künstlerische und – wenn auch noch vereinzelt – zunehmend wissenschaftliche Disziplin, die unterschiedliche theoriebildende Ansätze und Forschungstraditionen bedient oder nutzt.

      Der im Folgenden ausgebreitete Dramaturgiebegriff berücksichtigt, dass Dramaturgie Strukturen und Wirkungen hervorbringt, aber mit ihrer Hilfe dieselben zugleich auch analysiert werden können.1 Ein solcher Dramaturgiebegriff lässt Strategien und Wirkungen als (bewusst oder unreflektiert) auf einer in Werken und Theorien überlieferten Basis sich entfaltend begreifbar werden. Aber auch nicht vollständig benennbare und dennoch praktizierte Strategien und funktionierende Wirkungsmechanismen sind Teil von Dramaturgie. Der Dramaturg und Drehbuchautor Jean-Claude Carrière spricht sogar von einem »Geheimnis«, das dem Erzählen innewohnt, und verortet damit Dramaturgie indirekt in einem Bereich, wo nicht alle Gestaltungselemente und Wirkungsweisen entschlüsselbar sind, aber dennoch in der Praxis existieren.2

      Der Terminus »Dramaturgie« zielt insgesamt auf drei wesentliche Aspekte des darstellenden Erzählens ab:

       1. die Tätigkeit der Fertigung und Aufführung von Dramen (in der Philosophie »Poiesis« genannt, altgriechisch: für zweckgebundenes Handeln),

       2. die Lehre von den Regeln und Prinzipien für die Umsetzung im Rahmen der dem Medium entsprechenden Kriterien (»Poetik«)

       3. eine Theorie, die Rechtfertigungen und Analysemethoden für die postulierten Regeln liefert und systematisiert.3

      Aus der Perspektive, Dramaturgie als Werkzeug der Umsetzung wie auch Analyse zu betrachten, hat, als Beispiel, Gotthold Ephraim Lessing auf zeitgenössische Dramenaufführungen geblickt. Seine »Hamburgische Dramaturgie«4 enthält neben den Analysen implizit auch eine Theorie der Theaterdramaturgie. Er greift dabei unter anderem auf den von Aristoteles mit »Mythos« titulierten, in der Folge aber mit »Fabel« übersetzten Terminus (Schmitt 2008, S. 222) für die Organisation der Einheit der Handlung zurück und führt den Begriff »Intrige« ein (Lessing 1767/69, S. 163 f.). »Intrige« steht in manchen Dramentheorien für das Prinzip der »Fabel«, in anderen für den Teil der Geschichte, der durch meist entgegengesetzte Interessen und daraus resultierende Konflikte eine Handlung vorantreibt. Lessing knüpft an das aristotelische Paradigma an, dass die Handlung aus Notwendigkeit und nach Wahrscheinlichkeit voranschreiten solle (Aristoteles 2008, S. 13; Kap. 9, 1451a35), und führt es mit den Ideen der Aufklärung zusammen. Die Katharsis, meist als Reinigung von den Affekten Furcht, Schaudern und Mitleid bzw. als Ausgleich dieser Affekte verstanden,5 transferiert Lessing demnach zu einer Verwandlung hin zu einem tugendhaften und aufgeklärten Geist.

      Von Brecht wurden die inhärenten Grundlagen der aristotelischen Dramaturgie und des bürgerlichen Theaters des 19. Jahrhunderts, wie z. B. die Einfühlung in Protagonisten und Konflikte sowie die schicksalhafte Unabänderlichkeit der Umstände, in denen eine Geschichte angesiedelt ist, scharf kritisiert. Doch auch er verwendet den Begriff »Fabel« und sieht ihn als einen zentralen dramaturgischen Terminus an. Zu Brechts Verständnis eines reformierten Fabel-Begriffs gehört die Idee, dass das Wesen des Menschen sich durch sein gesellschaftliches Handeln zeige.6 Dramaturgie ist aus dieser Sicht nicht nur die Lehre vom Drama (in allen seinen Formen und Medien), sondern immer auch eine Form der Lehre vom Menschen.7

      »Fabel« bzw. »Intrige«, »Figur« und »Konflikt« sind zentrale Kategorien der traditionellen Dramaturgie. Normative Dramaturgien überlieferten zudem für den Dramenaufbau Vorgaben, so z. B. die überschaubare Einheit von Handlung, Zeit und Raum. Es existiert darüber hinaus eine Vielzahl an Begriffen für Handlungskomposition, Figurenrede und die sinnlich erfahrbare Darbietung. Auch hier findet sich die theoretische Basis schon bei Aristoteles, der sechs Ebenen eines Dramas benennt: Einheit der Begebenheiten als Handlungskomposition (mýthos), Charaktere (ēthos), sprachliche Gestaltung (lexis), Denkweise (diánoia), die Aufführung (ópsis) und Lieddichtung (melopiía)8 (Aristoteles 2008, S. 10; Kap. 6, 1450a10). Das, was heute als Handlung bezeichnet wird, entsteht aus der Verflechtung dieser Ebenen. Aristoteles unterschied dafür Handlungen (pragmata) und das Geflecht aus Handlungen (praxeis). Der Begriff »Drama«, aus dem das Wort Dramaturgie seinen Ursprung hat, bezeichnet dagegen die Bühnenaktion bzw. Umsetzung durch Darstellende.

      Die Handlungskomposition wird in vielen Übersetzungen »fabula« oder »Fabel« genannt. Der Handlungsaufbau enthält gegebenenfalls normierte Stationen bzw. Momente für den Anstoß oder die Fortsetzung der Handlung, z. B.: »Kollision«, »Umkehr« bzw. »Peripetie« (auch: Handlungs- oder Glücksumschlag), »Erkennung« (anagnṓrisis) sowie »erregendes« und »retardierendes Moment« oder »steigende« und »fallende« Handlung (Freytag 1863) als Pendant zu Aristoteles’ »Schürzung des Knotens« und »Lösung des Knotens«. In Schmitts Übersetzung der Poetik von Aristoteles: »Verwicklung« und »Lösung« (Schmitt 2008).

      Gustav Freytag, wie auch Otto Ludwig in seinen von Nationalismus getragenen »Shakespeare-Studien« (Ludwig 1874/1901), beharrte auf einem Fünf-Akt-Schema, das nur auf einen eingeschränkten Korpus angewendet werden kann9 und welches das aristotelische Ideal erweitert. Damit einhergehend konnten gelockerte Regeln für eine Tragödie erfasst werden, z. B. für die Anzahl der handelnden Figuren oder für Handlungsorte. Auch Nebenhandlungen und Neben- oder Begleiterfiguren konnten im fünfaktigen Drama ausführlicher in Erscheinung treten. Einer Geschichte können so zusätzliche Bedeutungsebenen verliehen werden. Die bisher genannten Basisbegriffe sind – wie sich in den Untersuchungen zeigen wird – auf den narrativen Film produktiv anwendbar.10

      Zu den Bereichen des darstellenden Erzählens, die mithilfe der Dramaturgie erfasst werden können, gehören nicht nur die Strukturen und Wirkungen, sondern auch die Figuren und ihr äußeres Erscheinen sowie ihr innerer Charakter und »sozialer Gestus« (Becker 2012, S. 4). Hier hinein fließen auch soziologische und psychologische Aspekte. Figuren lassen sich dann in »Charaktere« und »Typen« unterscheiden, deren physische Erscheinung sichtbar, deren geistige Eigenschaften dagegen unsichtbar sind (Becker 2012, S. 3 f.) – nicht zuletzt für die Filmmusik und Musikdramaturgie ein möglicher Ansatzpunkt.


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