Musikdramaturgie im Film. Robert Rabenalt
Erzählen gemeinsam, dass im Gegensatz zur Theaterbühne differenziertere bzw. indifferente Erzählinstanzen etabliert werden können. Mit den Möglichkeiten der filmischen Montage sind gegenüber Literatur und Theater vielfältigere Formen der Perspektivierung und zur Kreation und Imagination der erzählten Welt möglich.
Bernhard Asmuth sieht den Tonfilm als mediendramatische Form und damit als eine Art der Darbietung eines Dramas mit elektronischen Medien an.20 Mit dieser »szenisch-theatralischen Darbietungsform« sind »vier Produktionsbereiche bzw. die ihnen zugeordneten wissenschaftlichen Disziplinen beschäftigt« (Asmuth 2004, S. 22), nämlich Theater, Literatur, elektronische Medien und Musik.
Die Ausführungen von Aristoteles, die zwischen Epos und Tragödie unterscheiden, können auch für Filmdramaturgie berücksichtigt werden. Im Film finden sich beide Arten des nachahmenden bzw. nachschöpfenden Handelns, die auch als dramatisches und als episches Prinzip bezeichnet werden können. Diese Vergleichbarkeit von Film und Drama lässt weitere Überlegungen zu, die auch den Einsatz und die Analyse von Filmmusik betreffen, z. B. dass auch lyrische Prinzipien Anteil an der Filmerzählung haben. Daher hier eine Zusammenfassung der drei Prinzipien:
1. Dramatisches Prinzip (mimesis, Zeigehandlung): Das Erzählen durch zeigendes, direkt nachschöpfendes Handeln mithilfe von Figuren in wirklichkeitsnaher Präsenz und meist konflikthaften Situationen ist konstituierend für eine Bühnenhandlung. Die Erzählinstanz »verschwindet« hinter den Figuren. Eine Handlung ergibt sich traditionell in logischer, kausal-temporal übersichtlicher Abfolge von Ereignissen und Handlungen, die von den Eigenschaften, Motiven und Konflikten der Figuren und daraus folgenden Verdichtungen angetrieben werden (»und weil … und weil …«21). Formal sind Handlungen in Szenen und Szenen in Akten gebündelt.
Im dramatischen Prinzip ist Nachahmung besonders anschaulich, kann aber nicht auf das Theater beschränkt werden. Bei Aristoteles ist zu lesen, wie Modi der Nachahmung zu unterscheiden sind:
»Bei der Nachahmung gibt es ja diese drei Unterschiede, wie wir zu Beginn festgestellt haben: die Medien, die Gegenstände und den Modus der Nachahmung. Daher ist Sophokles im Sinn der einen Unterscheidung in der gleichen Weise ein nachahmender Dichter wie Homer, beide nämlich ahmen gute Charaktere nach, im Sinn der anderen Unterscheidung aber wie Aristophanes, denn beide [Sophokles und Aristophanes] verwenden einen Modus der Nachahmung, in dem Personen ihre Handlungen selbst ausführen. Daher kommt auch, wie einige meinen, der Name ›Drama‹ {(Bühnen-)Aktion} für ihre Dichtungen, weil sie ihre Charaktere selbst agieren lassen.« (Aristoteles 2008, S. 5; Kap. 3, 1448a25)
»Charaktere nachahmen« bedeutet in Bezug auf das Erzählen, die charakterisierenden Handlungen von darstellungswürdigen Figuren im darstellenden Spiel zu zeigen oder aber von solchen Handlungen der Charaktere mündlich oder schriftlich zu berichten.22 Nachahmung muss von der antiken rhetorischen Kategorie der imitatio unterschieden und kann besser als »Nachschöpfen« bezeichnet und verstanden werden. Dies hebt den Lernaspekt und das kreative Aneignen der Welt in den Vordergrund.23
2. Episches Prinzip (diegesis, Schilderung/Erzählung/Bericht): Das indirekt nachschöpfende Erzählen, bei dem Handlungen in Formen des Berichts (auktorial oder figural) geschildert werden (»und dann … und dann …«24), ist konstituierend für Epen, Romane, Erzählungen oder Novellen. Das Wesen der Figuren und ihrer Konflikte zeigt sich nicht im dargestellten Handeln und Sprechen, sondern durch die Beschreibung der Figuren und Vorgänge, d. h. mit den durch eine Erzählinstanz übermittelten Taten und zugewiesenen Worten. In diesem Modus ist die formal ordnende Hand einer auktorialen oder figuralen Erzählinstanz erkennbar. Die Erzählinstanz verknüpft alle Handlungsteile, Orte und Zeitebenen bzw. -abschnitte, weswegen dies nicht zwingend logisch, sondern gegebenenfalls thematisch, assoziativ oder Figurzentriert, aus wechselnder Perspektive usw. geschehen kann. Formal typisch sind die weitschweifige Anlage, gliedernde Kapitel und Rahmungen.
In einem Drama bleibt die Erzählinstanz hinter ihren Figuren und szenischen Einfällen verborgen: Die Figuren zeigen uns durch direkte Nachahmung (zeigendes Darstellen), worum es geht. Im berichtenden Modus mit indirekter Nachahmung (erzählendes Darstellen) tritt eine Erzählinstanz vermittelnd zwischen Geschichte und Publikum und berichtet von den Handlungen der Charaktere, d. h. erzählt auf indirekt nachahmende und nachschöpfende Art und Weise. Daraus ergeben sich andere Möglichkeiten zur Anordnung der Handlung im Drama oder im Epos. Das Grundprinzip des Nachschöpfens mit zum Aufführungsort gehörenden oder das Medium kennzeichnenden Mitteln gilt aber für beide Modi.
Das Dramatische und Epische des Films betreffend schlussfolgerten schon Adorno und Eisler in ihrem Filmmusik-Buch:
»Zur Einsicht in solche Möglichkeiten [zur Erzeugung von Spannung] hilft die Besinnung auf die dramaturgische Form des Films als solche. Film ist eine Mischform von Drama und Roman. Gleich dem Drama stellt er Personen und Vorgänge unmittelbar, leibhaft vor Augen, ohne das Moment des ›Berichts‹ zwischen den Vorgang und den Zuschauer zu schieben. Daher die Forderung nach der ›Intensität‹ des Films, wie sie als Spannung, Emotion, Konflikt sich kundgibt. Auf der anderen Seite aber hat der Film prinzipiell selber ein berichtendes Element. Jeder Spielfilm mahnt an Bildreportage. Der Film gliedert sich nach Kapiteln eher als nach Akten. Er baut sich aus Episoden auf. Dass zu Filmstoffen Romane und Novellen eher sich hergeben als Dramen, ist nicht zufällig, sondern hängt […] auch mit der extensiven epischen Form des Films zusammen. Ein Drama muss, um filmgerecht zu werden, gleichsam erst mit romanhaften Zügen versetzt werden. Zwischen den dramatischen und epischen Momenten aber besteht im Film ein Bruch: der eindimensionale Zeitverlauf des Films, seine epische Kontinuität erschwert die intensive Konzentration, die von der dramatischen Gegenwart der Filmvorgänge gefordert wird.« (Adorno und Eisler 1944/2006, S. 33 f.)
Adorno und Eisler benennen hier die womöglich grundlegendste dramaturgische Rechtfertigung von externer Musik im Tonfilm, sofern Filmmusik nicht nur aus Gewohnheit enthalten sein soll: Sie ist durch ihre eigene musikalische Kontinuität und ihren ergänzenden Wirkungsbereich in der Lage, die Brüche zwischen den sich abwechselnden Erzählmodi, welche den Erzählfluss fragmentieren und die »intensive Konzentration« behindern könnten, zu schließen.
Die beiden Modi entsprechen dem dramatischen bzw. epischen Prinzip, die in Hegels Ästhetik – ergänzt um die lyrischen Mittel – systematisiert werden.25 Hegel schreibt dem Epischen eine geistige, »einheitsvolle Totalität« zu, die den »allgemeinen Welthintergrund« und die »individuelle Begebenheit« miteinander verbindet (Hegel 1818–29/1984, S. 438 ff., Bd. 2). Er benennt die Eigenheiten des epischen Erzählens, die »einheitsvolle Totalität« und die Entfaltung ausufernder epischer Erzählformen, die sich dennoch in eine Gesamtform fügen müssen, in folgender Weise:
»[…] erstens nämlich die Totalität der Objekte, welche um des Zusammenhangs der besonderen (individuellen) Handlung mit ihrem substanziellen Boden (dem allgemeinen Welthintergrund-)Willen zur Darstellung gelangen dürfen; zweitens den von der Lyrik und dramatischen Poesie verschiedenen Charakter der epischen Entfaltungsweise; drittens die konkrete Einheit, zu welcher sich das epische Werk seiner breiten Auseinanderlegung ungeachtet in sich abzurunden hat.« (Hegel 1818–29/1984, S. 438, Bd. 2)
Im Kino gehen das dramatische und epische Prinzip abwechselnd ineinander über oder überlagern sich sogar, z. B. wenn die Figuren noch agieren (dramatische Aktion) und die Filmmusik bereits auf die epische Totalität anspielt und die Situation in einen größeren Kontext stellt. Für das Publikum kann durch die unterschiedlichen Modi eine jeweils andere Rezeptionshaltung entstehen. Rezeptionshaltungen sind entscheidend für die Plausibilität und Aufschlüsselung der Handlung. Diese Beobachtungen sind grundlegend, betreffen auch die Wahl der Terminologie zur Analyse von Filmmusik und rechtfertigen eine noch etwas weitergehende Erläuterung der Erzählmodi.
Im Film wechseln sich nicht nur beide Modi miteinander ab, sondern sind noch zusammen mit lyrischen Erzählmitteln wirksam. Jedoch können die drei Modi im Film weniger klar voneinander abgegrenzt werden als in Theater und Literatur. Dies zeichnet die Dramaturgie des Films auf grundlegender Ebene aus. Wesensmerkmal filmischer Erzählinstanzen ist demnach ihre Ambivalenz, die sich im flexiblen Umgang mit den Erzählmodi dramatisch, episch und lyrisch zeigt. Filmmusik gibt nicht selten Anhaltspunkte dafür, wie ein