Musikdramaturgie im Film. Robert Rabenalt

Musikdramaturgie im Film - Robert Rabenalt


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      Die Abgrenzung zwischen den expliziten und impliziten Dramaturgieanteilen soll eine weitere Möglichkeit zur Differenzierung der Formen und Wirkungsstrategien eines Werkes ermöglichen. Explizite und implizite Dramaturgieanteile wirken im Verbund und sind gemeinsam für Aufbau, Umsetzung und Wirkung eines Werkes verantwortlich.

      Die expliziten Dramaturgieanteile ließen sich mithilfe der Kommentare und der erläuternden Zusätze von Arbogast Schmitt in seiner Übersetzung der Poetik des Aristoteles (sie konkretisieren in geschweiften Klammern die Deutungsspielräume des griechischen Textes) auch als die »konstitutiven« Teile eines Werkes bezeichnen. Aristoteles formulierte für die Nachahmung von Handlung folgende Bedingung:

      »[…] die Anordnung der Handlungsteile muss so sein, dass das Ganze sich ändert und in Bewegung gerät, wenn auch nur ein Teil umgestellt oder entfernt wird. Das nämlich, was da sein oder nicht da sein kann ohne erkennbaren Unterschied, ist kein {konstitutiver} Teil des Ganzen.« (Aristoteles 2008, S. 13; Kap. 8, 1451a30)

      Die Nähe zum Konzept der geschlossenen Form ist unverkennbar: Die Unverrückbarkeit der Teile eines Werkes und ihre daraus resultierende konstituierende Eigenschaft sind wichtige Merkmale der expliziten Dramaturgie. Zur expliziten Dramaturgie gehören alle Elemente des Handlungsaufbaus und der an der Oberfläche stattfindenden Handlung. Dazu gehört auch das Sujet, das ein Prinzip für die konkrete Ausgestaltung der Handlung und die Bedingungen, unter denen sie sich entfalten kann, darstellt. Das Sujet konkretisiert das Umfeld und setzt den Figuren und Ereignissen charakteristische Grenzen. Dies zusammen sind die an der Oberfläche sichtbaren handlungs- und strukturbezogenen Gestaltungselemente und Parameter. Sie sind als konstitutiv anzusehen, da eine Veränderung dieser Bestandteile die Logik der Entfaltung der Geschichte verändern würde.

      Gliederung und Form (Anfang – Mitte – Schluss), Strukturen, Unverrückbarkeit der Teile, der zweckmäßige Umfang eines Werkes und Gesetzmäßigkeiten zur Entwicklung der Handlung sind die grundlegendsten Elemente der expliziten Dramaturgie. Dies ließe sich mit den Worten Aristoteles’ auch so formulieren:

      »Wir haben {als Ergebnis} bereits festgehalten, dass die Tragödie die Nachahmung einer vollständigen und ganzen Handlung ist, die einen gewissen Umfang hat. Es kann etwas nämlich auch ein Ganzes sein, ohne einen nennenswerten Umfang zu haben. Ein Ganzes aber ist, was Anfang, Mitte und Ende hat. Anfang ist, was selbst nicht aus innerer Notwendigkeit auf etwas Anderes folgt, nachdem aber naturgemäß etwas Anderes ist oder entsteht. Ende dagegen ist, was selbst nach etwas Anderem ist, und zwar entweder notwendig oder meistens, nach dem aber nichts anderes {folgen muss}. Mitte ist das, was selbst nach etwas Anderem ist, und nach dem etwas Anderes ist. Wer also eine Handlung zusammenstellen will, darf nicht von irgendwoher, wie es sich gerade trifft, anfangen, noch, wie es sich gerade ergibt, irgendwo enden, sondern muss sich an die genannten Kriterien halten. […] Bei welcher Größe es sich ergibt, dass die mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit aufeinander folgenden Handlungsschritte zu einem Umschlag vom Glück ins Unglück oder vom Unglück ins Glück führen, dies ist die hinreichende Begrenzung der Größe.« (Aristoteles 2008, S. 12; Kap. 7, 1450b24)

      Hier werden von Aristoteles neben Umfang, Strukturfragen und Gesetzmäßigkeiten zur Entwicklung der Handlung auch die Wirkungsqualitäten der Wendepunkte angesprochen, die auch zur expliziten Dramaturgie gehören.

      Explizite Dramaturgie kann sowohl ein Sammelbecken für Normen sein, als auch – wie Dahlhaus auf das Musiktheater bezogen schrieb – eine Reihe »begrifflicher Hilfsmittel« zur Verfügung stellen,

      »deren Funktion es ist, dem Verständnis der einzelnen Werke in ihrer Besonderheit den Weg zu bahnen. Die ›explizite Dramaturgie‹, die als Theorie oder Theoriefragment formuliert wurde, bildete keinen Kodex […], dem die Werke sich fügen mussten, sondern gleichsam ein kategoriales Gerüst, mit dem man sie umstellte und das man wieder abriss, sobald es seinem Zweck, der Rekonstruktion der ›impliziten‹ Poetik individueller Werke, gerecht geworden war.« (Dahlhaus 2001a/GS2, S. 468)

      Explizite und implizite Dramaturgie unterscheiden sich auch bei der Darstellung und Erzeugung von Komik und Humor. Während Komik (wie wir sie aus Filmen von Buster Keaton, Charles Chaplin u. a. kennen) überwiegend auf der expliziten Ebene funktioniert, z. B. durch Mittel der Unangemessenheit, Körperlichkeit, Übertreibung, Verwechslung und Eskalation, entfaltet sich Humor hauptsächlich implizit durch Erkennen von Zusammenhängen oder Anspielungen. Deren Entschlüsselung bereitet eine andere Art von Vergnügen als die Unmittelbarkeit der Komik. Als Beispiel für einen solchen humorvollen Einsatz kann die Verwendung von Strauss’ Also sprach Zarathustra in WALL•E (USA 2008, R. Andrew Stanton) genannt werden. Das Hinzudenken des inzwischen bei einem Großteil des Publikums bekannten audiovisuellen Kontextes des Stückes führt bei der Entschlüsselung zum Schmunzeln, während der Ernst der Szene (die Menschheit kehrt endlich zurück zur Erde, um sie wieder zu begrünen) erhalten bleibt.

      Implizite Dramaturgie befasst sich mit Bedeutungsanteilen, die einen Film (oder ein anderes Kunstwerk) auf tiefergehender Ebene oder alternativ verstehbar werden lassen. Nicht selten sind diese Anteile in Andeutungen oder Codes versteckt und beziehen sich auf den gesellschaftlichen, politischen oder persönlichen Hintergrund. Hinweise zu Teilaspekten oder zum Umfeld des gewählten Themas, des Films, der Filmschaffenden oder des Publikums können zu besonderen Wirkungen führen, wenn sie als spezielle Teilmomente in die Strukturen der hauptsächlich erzählten Geschichte eingearbeitet sind.43

      Die gesellschaftlichen oder künstlerischen Bezüge müssen bekannt sein und passend übersetzt werden, um ein Werk umfassender zu verstehen und »zwischen den Zeilen« zu lesen. Der Aktualitätsbezug eines Werkes beruht in starkem Maße hierauf. Bei Inszenierungen von Klassikern am Theater oder an der Oper werden die Strategien der impliziten Dramaturgie durch das sogenannte »Regietheater« besonders deutlich, die entweder für ein tiefergehendes Verständnis der Vorlage oder für den Aktualitätsbezug eines Werkes, den es bei seiner Entstehung nicht haben konnte, stehen. Es werden so gewisse Teilaspekte des in einer Geschichte verhandelten Themas akzentuiert, aber ohne diese direkt anzusprechen.

      Der implizit herbeigeführte Aktualitätsbezug oder zusätzliche Bedeutungsebenen einer erzählten Geschichte sind für die Dramaturgie von großer Bedeutung und können auf allen Ebenen des darstellenden Erzählens realisiert werden. Oft betrifft dies Fragen des Zeitgeistes oder die Einbettung eines Werkes in ein bestimmtes persönliches, künstlerisches Umfeld oder in aktuelle gesellschaftspolitische Diskurse. Generell akzentuiert das Konzept der impliziten Dramaturgie die Verstehensleistung des Publikums und markiert damit jene Anteile der Wirkung eines Kunstwerkes, die durch kollektive oder individuelle Aufschlüsselungen und Deutungen von Teilelementen entstehen, die bei alleiniger Untersuchung der expliziten Strukturen und Gestaltungselemente unbeachtet bleiben würden. Die Kategorien der impliziten Dramaturgie stellen damit auch Hilfsmittel zur Verfügung, um die Kommunikation zwischen Kunstschaffenden und Publikum über das Kunstwerk zu untersuchen.

      Hegel betitelte in seiner Ästhetik einen Abschnitt, der sich mit solchen Aspekten befasst, die in der hier verwendeten Systematik der impliziten Dramaturgie zuzurechnen sind, mit der »Äußerlichkeit des idealen Kunstwerkes im Verhältnis zum Publikum«:

      »Wie sehr es [das Kunstwerk] nun aber auch in sich eine übereinstimmende und abgerundete Welt abbilden mag, so ist das Kunstwerk selbst doch als wirkliches, vereinzeltes Objekt nicht FÜR SICH, sondern FÜR UNS, für ein Publikum, welches das Kunstwerk anschaut und genießt. […] Nun ist zwar das wahrhafte Ideal in den allgemeinen Interessen und Leidenschaften seiner Götter und Menschen für jeden verständlich; indem es seine Individuen jedoch innerhalb einer bestimmten äußerlichen Welt der Sitten, Gebräuche und sonstiger Partikularitäten zur Anschauung bringt, tritt dadurch die neue Forderung hervor, dass diese Äußerlichkeit nicht nur mit den dargestellten Charakteren, sondern ebensosehr auch MIT UNS in Übereinstimmung trete.« [alle H. i. O.] (Hegel 1818–29/1984, S. 259, Bd. 1)

      Die Voraussetzungen, die Hegel dafür nennt, wie ein Kunstwerk »mit


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