Musikdramaturgie im Film. Robert Rabenalt
Problem so:
»Die Begriffe ›diegetisch‹ und ›nondiegetisch‹ können sich in der Analyse als zu scharfe Werkzeuge erweisen, wenn sie begrifflich zwei Modi der Beziehung von Musik und Handlung trennen, die auf das Gleiche hinauslaufen: auf das Verständnis des Filmdramas.« (Plebuch 2014, S. 80)
Alleinstehend könnte Diegese als erzählte oder besser: gezeigte Welt verstanden werden, d. h. als eine Welt, die uns die Figuren, aber auch Musik und Ton mit dort verankerten Quellen zeigen. Aus dramaturgischer Sicht sind aber die Modi der direkten oder indirekten Nachahmung für die Filmanalyse von hohem Wert – auch für Erkenntnisse zur Wirkungsweise von Filmmusik. In der Paarung diegetisch/nicht-diegetisch geht diese Möglichkeit allerdings verloren. Ich plädiere daher dafür, den Diegesebegriff für die Analyse der klingenden Ereignisse im Film fallen zu lassen.
Etwas seltener wird im Diskurs zur Anwendung narratologischer Terminologie für den Film Chatman zitiert, der in »Coming to Terms« sowohl Bordwell als auch Genette ausführlich diskutiert und kritisiert (Chatman 1990). Chatman entwickelte ein Modell der Filmnarratologie, das mit dem Begriffspaar diegetic und mimetic im eben beschriebenen Sinne arbeitet. Er sieht mimesis und diegesis nicht als Gegenpole, sondern als zwei Modi, wie eine Geschichte »kommuniziert« wird.59 Es wird damit anschaulich, dass im einen Fall von den Ereignissen berichtet wird und eine mehr oder weniger bemerkbare, vermittelnde Erzählinstanz zwischen Geschichte und Publikum tritt (diegetic). Im anderen Fall werden die Vorgänge ohne diese Instanz direkt durch die Figuren vorgeführt (mimetic).60 Obwohl Chatman immer wieder zitiert wird, ist mir nicht bekannt, dass die durch ihn weiter verwendete Lesart von mimesis und diegesis als narratologische Basis für die Filmmusik herangezogen worden wäre. Im Unterschied zu Chatman würde ich jedoch in Betracht ziehen, dass eben diese Modi der »Kommunikation« beide im Film (als Mischform aus Roman und Drama) anzutreffen sind und nicht auf Romane/Epen (= diegetisch) bzw. Dramen/Filme (= mimetisch) begrenzt sind.61
Die notwendige Unterscheidung zwischen Bericht und Zeigehandlung muss aber außerdem in Zusammenhang mit dem qualitativen Sprung im Verständnis des Mimesisbegriffs gesehen werden, der zwischen Platon und Aristoteles liegt. In der von Filmmusikforschenden zitierten Erzähltheorie wird die unterschiedliche Bedeutung des Begriffs mimesis bei Platon und bei Aristoteles offenbar als unbedeutend eingeschätzt. Möglicherweise liegt aber in dieser Differenz ein Grund für die Schwierigkeiten mit dem Begriffspaar diegetisch/non-diegetisch. Das führt dazu, dass mimesis bei Bordwell mit dem in Platons Verständnis enthaltenen Wahrheitsanspruch interpretiert wird und den von Aristoteles eingeführten Wahrscheinlichkeitsanspruch ignoriert.62 Bordwell sieht offenbar daher mimesis und diegesis als Gegenpole (Nachahmung vs. Erzählung) anstatt als zwei Arten der Darstellung durch Modi der Nachahmung mit ihren jeweils eigenen Wirkungen auf das Publikum.63 Aristoteles übernimmt zwar die Unterscheidung zwischen »Erzählen« und »Zeigen« von Platon. Die entscheidenden Neuerungen wurden aber oft überlesen. Zu nennen sind:
– Nachahmung ist nicht Imitation, sondern ein nachschöpfender Vorgang, der nicht die Wirklichkeit abbilden soll, sondern das Wahrscheinliche zeigt.
– In der Nachahmung erkannte Dinge befriedigen den Erkenntnisdrang und dienen zur Aneignung der Welt.
– Mimesis und diegesis sind unter dieser Voraussetzung Modi der Nachahmung (im genannten Sinne eines schöpferischen und nicht eines imitierenden Vorgangs).
– Die Definition und Bewertung der Begriffe bei Aristoteles werden davon bestimmt, wie Werke bei der Rezeption wirken, anstatt wie bei Platon normative Kategorien widerzuspiegeln. Das Publikum rückt damit erstmals ins Zentrum poetischer Theorie und charakterisiert damit einen Kernpunkt von Dramaturgie.
In seinem Artikel »Aristoteles« beschreibt der Philologe Ulrich Fleischer das, was bei Aristoteles neu ist, so:
»In der Kunsttheorie geht Aristoteles von der Lehre Platons aus, daß das Wesen des Kunstwerkes als ›Nachahmung‹ zu verstehen ist. Quelle der künstlerischen Nachahmung ist nach Aristoteles der Nachahmungstrieb, die dem Menschen eigentümliche Freude an Nachahmungen, die Aristoteles bezeichnenderweise auch dort feststellt, wo der nachgeahmte Gegenstand als solcher häßlich ist. Die Freude an der Nachahmung führt Aristoteles auf das Streben nach Erkenntnis zurück: In der Nachahmung wird das Dargestellte wiedererkannt, erschlossen, und dabei der dem Lernen eigentümliche Genuß gewonnen. […] Nachahmung kann [1.] die Gegenstände darstellen, wie sie sind, [2.] wie sie erscheinen und [3.] wie sie sein sollen. Hauptaufgabe der Kunst ist Darstellung des Seinsollenden, weswegen sie nicht so sehr das Einzelne als vielmehr das Allgemeine und das ideale Wesen der Dinge zum Vorbild nimmt.« (Fleischer 1989, S. 634)
Vor diesem Hintergrund ist mimesis zu verstehen als der direkt (von agierenden Figuren) ausgeführte, nachschaffende Modus, diegesis als der indirekt (durch eine Erzählinstanz vermittelte) nachschaffende Modus der Nachahmung. Beide zielen auf das ideale Wesen der Dinge und werden in der Erzählkunst zur Aneignung (nicht zur Imitation) der Wirklichkeit nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit angewendet. So wirkt auch laut Aristoteles das Scheitern eines Charakters (in der Tragödie) besonders eindrücklich, weil ihm trotz seiner herausragenden Eigenschaften, die der Grund sind, überhaupt von seinen oder ihren Taten zu berichten und ihn oder sie vom Publikum abheben, Fehler unterlaufen, die ihren Ursprung zugleich in diesen herausragenden Eigenschaften haben. So wird der Held/die Heldin zutiefst menschlich, sei die Geschichte noch so idealisiert oder fantastisch. Die Modi mimetisch und diegetisch erzeugen auf ihre jeweils eigene Weise den zu beobachtenden Genuss, der auch auf einem Lernprozess beim Publikum beruht.64
Wie die Übersetzung von Aristoteles’ Poetik von Fuhrmann (1982), die Übersetzung und Kommentare von Schmitt (2008) und Fleischer (Fleischer 1989) zeigen, ist die oben geschilderte Bedeutung des Mimesisbegriffs um den für die Dramaturgie entscheidenden Aspekt der schöpferischen Teilnahme des Publikums und Lust am Lernen, (Wieder-)Erkennen und Sich-Erschließen der Welt zu erweitern. Mit der so gewichteten Terminologie kann, solange der seit Souriau geläufige Diegesebegriff außen vor bleibt, die besondere Qualität und Überzeugungskraft der sich im Film abwechselnden Modi der Nachahmung ausgedrückt werden.
Für die Filmmusiktheorie sind nicht nur die Begriffe diegetisch und nicht-diegetisch aus Souriaus Vorstoß zur Diegese abgeleitet worden. Claudia Gorbman erwähnt mit Verweis auf Genette auch den Begriff meta-diegétic.65 Der Begriff soll eine weitere, untergeordnete Erzählinstanz bezeichnen, z. B. wenn eine Figur aus ihrer Perspektive von den Ereignissen erzählt und deren Ordnung verantwortet. In der aktuellen Filmmusiktheorie wird oft jene Musik damit bezeichnet, die (wie auch die Gedankenstimme) aus der subjektiven Perspektive einer Figur erklingt, d. h. »im Kopf«, als Gedanke, Erinnerung oder auditive Vision, z. B. Musik in Komponierszenen, die von anderen Figuren nicht gehört wird. Bei Genette bezeichnet meta-diegetisch den Modus, der als »Geschichte in der Geschichte« funktioniert, bei Wolf Schmid heißt dies »zitierte Welt« (Schmid 2014, S. 46).
Souriaus »diegetischen Raum« könnte man zur dramaturgischen Differenzierung der unterschiedlichen Wirkungsbereiche als imaginativen Handlungsraum bezeichnen und so den Begriff mimesis nicht nur als Nachahmung, sondern als »zeigende Darstellung« verstehen. Das Wortfeld Diegese/diegetisch könnte dann die Bedeutung von diegesis (»erzählende Darstellung«) behalten.66 Die Filmmusik in der Handlung (konventionell: diegetische Musik) könnte dann mimetische Filmmusik genannt werden, weil die Musik auditiv »gezeigt« wird (sowohl in der Ausführung durch Figuren als auch in jeder anderen Form, z. B. durch Wiedergabegeräte). Von außen kommende Filmmusik würde dann (allerdings genau anders herum als bisher üblich) als diegetisch bezeichnet werden, denn sie zeigt nicht, sondern »erzählt« und ist Teil des Berichts über die Ereignisse mit musikalischen Mitteln. Filmmusik, die nicht als Teil der Szene verstanden wird, gehört dann logisch zur indirekten, berichtenden statt zeigenden Art der Nachahmung, verweist zugleich auf eine mal deutlich, mal weniger deutlich erkennbare, von außen steuernde Erzählinstanz.
Bei Filmmusik, die sich wie z. B. beim underscoring im Genrekino oder beim mickey mousing in starkem Maße affirmativ zur Zeigehandlung verhält, zeigt sich sehr anschaulich, wie die soeben abgesteckte, zur derzeit üblichen Praxis umgedrehte