Musikdramaturgie im Film. Robert Rabenalt
und anderen zu findende Vorrang der Fabel vor den Figuren. Mit anderen Worten: Katharsis ist möglich, weil sich für das Publikum ein Konflikt und die an ihn gebundenen und durch die konkrete Handlung ausgelösten Affekte dramaturgisch auflösen. Dieser Vorgang kann sogar zu Erkenntnis oder zumindest moralischer Erbauung führen.
Da der umgangssprachliche, wissenschaftliche, aber auch philosophische Gebrauch der Begriffe Fabel und Mythos anders geprägt ist, sind beide Begriffsvarianten nicht unproblematisch. Daher wäre z. B. die Formulierung »Fabel als dramaturgische Kategorie« oder »Filmfabel« angebrachter. Im Englischen wird mal plot, meist story synonym für Fabel verwendet (Schmitt 2008, S. 233). Auch die aktuelle deutschsprachige Musikwissenschaft kommt zu nicht immer eindeutigen Varianten.81 Wolf Schmid hält dagegen, dass in den mehr als zweistufigen Modellen, die über die beiden Ebenen Fabel und Sujet hinausgehen, story der äquivalente Begriff für Fabel sei.82Plot wäre dann das Äquivalent zum Sujet, wie auch Bordwell (Bordwell 1985, S. 50) meint.
Die Regeln für ein Drama (als »ernste« Gattung) verfestigten sich seit der Renaissance.83 Zur Zeit der großen Zentralmonarchien führte dies aus ideologischen Gründen auch zum Paradigma der drei Einheiten Handlung, Zeit und Ort. Im Falle von Fabelkonstruktionen, die komplexer und weniger geradlinig oder kausal funktionieren, wenn Fabeln z. B. ein »eher rhizomatisches Diagramm« der Geschichten repräsentieren, wie Eco den Fabelbegriff erweitert (Eco 1979/dt. 1987, S. 153), wäre der Fabelauszug sehr schwierig zu bewerkstelligen und stellt dann eher eine Form der »kognitiven Annäherung« an die Narration dar (Wuss 1993/1999, S. 94). Anstatt die Architektur zur Dramatisierung (Chronologie oder Logik der Handlung) vorzugeben, kann bei solchen (Film-)Fabeln die Handlung assoziativ oder thematisch bzw. über variierte Motive zusammengehalten werden. Auch die Rolle der Filmmusik ist dramaturgisch schwerer zu bestimmen, wenn die Fabel eher ein abstrahierendes Organisationsschema bleibt und noch weniger Niederschlag in der konkret präsentierten Handlung findet als bei klassischen bzw. geschlossenen Fabelkonzepten.
Um das Generelle einer Fabel und das Konkrete des Sujets zu veranschaulichen, kann der Vergleich von Original und Remake dienen sowie umgekehrt ein Vergleich von Filmen herangezogen werden, die zwar unterschiedliche Geschichten erzählen, aber auf der gleichen Anlage bzw. Fabelidee beruhen. Das jeweilige Sujet, das die Details der erzählten Welt und ihre Spielregeln bestimmt, kann trotz gleicher Fabelidee sehr verschieden sein. Historisch rückwärts lässt sich z. B. folgende Reihe bilden: IL MERCENARIO (I/SP 1968, R. Sergio Corbucci) ist eine auch im Sujet sehr ähnliche Variante des viel bekannteren Films PER UN PUGNO DI DOLLARI (D/SP/I 1964, R. Sergio Leone). Leone aber hat die Fabel seines Films von Kurosawa und dessen Film YÔJINBÔ (J 1961) übernommen und zudem fast alle Szenen kopiert, sodass von einem Remake gesprochen werden kann. Der daraus resultierende Rechtsstreit konnte allerdings nicht gelöst werden, weil Kurosawa nicht nachweisen konnte, nicht selbst die Fabel-Idee aus Goldonis Stück Arlecchino servitore di due padroni (Der Diener zweier Herren) kopiert zu haben.84 So unterschiedlich die drei Milieus sind und die präsentierten Handlungen (Sujet) mal ganz unterschiedlich, mal fast identisch sind, erwächst der bestimmende Ansatz dafür, wie die Geschichten erzählt werden, jeweils aus der gleichen Fabelidee und dem daraus resultierenden dramaturgischen Potenzial.
Ein weiteres Beispiel: Die frappierende Fabel-Idee einer Kurzgeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts, An Occurrence at Owl Creek Bridge (Der Zwischenfall auf der Eulenflussbrücke) von Ambroce Bierce, wurde ebenfalls mehrfach in Filmfabeln überführt, so für CARNIVAL OF SOULS (USA 1962, R. Herk Harvey, M. Gene Moore). Diesen Film hat Christian Petzold für seinen Film YELLA (D 2007, R. Christian Petzold, M. Stefan Will) als Inspiration gesehen.85 In YELLA sind fast alle zentralen Handlungselemente aufgegriffen worden. Ähnliche Fabelkonstruktionen und Motivkomplexe wie in An Occurrence at Owl Creek Bridge von Ambrose Bierce liegen auch den Filmen STAY (USA 2005, R. Marc Forster), MULHOLLAND DRIVE (F/USA 2001, R. David Lynch, M. Angelo Badalamenti) und A BEAUTIFUL MIND (USA 2001, R. Ron Howard, M. James Horner) – in dessen erster Hälfte – zugrunde. Die Filme beziehen einen Großteil ihrer Spannung bereits aus der Anlage, mit anderen Worten: aus der Fabelidee. Sie beruht darauf, dass ein Großteil der Vorgänge sich als im Kopf der Figur abspielende Handlung erweist. Diese Fantasiewelt bzw. subjektive Perspektive kollidiert plötzlich (An Occurrence at Owl Creek Bridge) oder nach und nach (YELLA, STAY, MULLHOLLAND DRIVE) mit der als objektiv geltenden Perspektive und erzeugt Spannung sowie Überraschung beim Umschwung.
Der Filmwissenschaftler Peter Wuss entwickelte ein Modell der filmischen Narration, welches das Konzept Fabel in den wissenschaftlichen Diskurs nicht nur aufgenommen, sondern filmisch geprägt und für neuere Erzählformen geöffnet hat. Er verbindet Narratologie und klassische Dramaturgie und erweitert den aristotelischen Fabelbegriff, um ihn für den Film anwenden zu können (Wuss 1992, Wuss 1993/1999, Wuss 2005, Wuss 2009). Das Verständnis des Begriffspaares Fabel und Sujet von Wuss sieht im Detail anders aus als Thompsons und Bordwells Adaption der russischen formalistischen Terminologie. Dramaturgie, Narratologie und Filmästhetik fließen in sein Modell der Strukturbildung und der Wirkungsmechanismen filmischer Narration ein. Seine Untersuchungen sind außerdem durch Ansätze und Kategorien aus Psychologie und Emotionsforschung geprägt. Mit all diesen Disziplinen sind im Kontext der Filmdramaturgie antike, klassische und moderne Terminologie vereint und beeinflussen damit seinen Fabelbegriff:
»Die Fabel orientiert sich, wie Lessing es in seiner Interpretation des Aristoteles nannte, an ›Ketten von Ursachen und Wirkungen‹. […] Im Rahmen meines Modells handelt es sich hier eindeutig um konzeptuell geleitete Strukturen, die sich beim Erzählvorgang auf die Kausal-Ketten zwischen den dargestellten Ergebnissen stützen. Damit wird auch erkennbar, dass die traditionelle Dramaturgie im Grunde generell auf Überlegungen beruht, die sich an diesen Strukturtyp heften. Ihre hermeneutische Verfahrensweise legt nahe, den roten Faden des Films als eine homogene Erscheinung aufzufassen, als einen bewusst erlebten Sinnzusammenhang, der sich mit der Kausalkette der Geschehnisse zu entrollen scheint. Das vorgeschlagene Modell hingegen rechnet damit, dass der rote Faden der Filmgeschichten inhomogen und in sich differenziert ist, also potentiell auch unbewusste Komponenten enthalten kann, ja gelegentlich sogar auf solchen beruht. Eine umfassende Narrativik des Films hätte jedenfalls auch andere Verknüpfungsprinzipien als die Ketten von Ursachen und Wirkung in Erwägung zu ziehen und sie auf ihre Fähigkeit zur Kohärenzbildung zu überprüfen, etwa solche, die auf Strukturangebote im Perzeptions- und Stereotypenbereich beruhen.« (Wuss 1993/1999, S. 91)
Fabeln mit Kausalketten gehören im Modell von Peter Wuss zu den »konzeptgeleiteten« Strukturen mit maximaler Auffälligkeit. Die »perzeptionsgeleiteten« Strukturen beruhen auf unbewusst hergestellten Zusammenhängen mit zunehmender Auffälligkeit. Nach Wuss haftet diesem Strukturtypus eine »bemerkenswerte sinnliche Kraft« (Wuss 1993/1999, S. 58) an. Filmfabeln, die mehr auf perzeptionsgeleiteten Strukturen basieren, reihen z. B. Motive eines gemeinsamen Themas aneinander. Wuss führt dafür den Begriff der »Topik-Reihe« bzw. »topikalen« Reihe ein.86 In einer offenen Handlungskomposition werden Ereignisse durch mehrfache Wiederholungen und dabei unbewusst ablaufende Vergleiche und Invariantenbildung semantisch stabilisiert, von ihrer Vordergründigkeit abgelöst und im Sinne des Themas der Geschichte verallgemeinert. Bei Tarkovskij (Tarkovskij, Schlegel und Graf 1985/2009) findet sich ein weiteres offenes Konzept der Fabel, in welchem die »Logik des Poetischen«87 den Zusammenhalt herstellt und bei welchem über Assoziationen die Beziehung zwischen den Handlungselementen und zu einem generellen Thema entsteht. Eine Filmfabel nutzt laut dem Modell von Wuss für die Strukturbildung insgesamt drei Basisformen der Narration und Arten der Verknüpfung und Kohärenz, die je nach Geschichte oder Stil unterschiedlich stark gewichtet auftreten können:
1. Stereotypengeleitete Strukturen beruhen auf permanenten kulturellen Lernprozessen. So können mit wenigen Mitteln, die mitunter auf Klischees reduziert werden, inhaltliche Komplexe abgerufen werden, die eine variable Stabilität aufweisen. So entstehen Stile und Gattungen, die durch Wiederholungen im kulturellen Repertoire verankert sind.
2. Konzeptgeleitete Strukturen sind narrativ wirksame Ereignisse, die singulär in einem Film und dessen Handlungslogik funktionieren. Mit ihnen lassen sich Kausalketten bilden, ohne die eine traditionelle Erzählung kaum auskommt. Bei Wiederholungen von konzeptgeleiteten Strukturmomenten entstehen allerdings Redundanzen, die mitunter