Musikdramaturgie im Film. Robert Rabenalt

Musikdramaturgie im Film - Robert Rabenalt


Скачать книгу
Prosa abzielt und mit dem die Durchführungsarbeit in der musikalischen Komposition, z. B. in einem Allegro akzentuiert werden kann. Dass ein »Thema« auch formale Korrespondenzen zwischen Phrasen, Halbsätzen und Kadenzen wie eine »Melodie« zeigen kann, ist dabei nachgeordnet.

      Wie in vielen anderen Fällen muss hier von der Gleichzeitigkeit verschiedener Tendenzen ausgegangen werden. Das Nebeneinander der verschiedenen Auffassungen zum idealen Aufbau eines musikalischen »Gedankens« – einmal mit Analogie zum Lyrischen, einmal mit Tendenz zur musikalischen Prosa – erweist sich als fruchtbar bei der Analyse musikalischer Gestalten und Prozesse. Für die Unterscheidung von Leitmotiv, Leitthema und modularen Kompositionstechniken in der Filmmusik komme ich darauf zurück (siehe Kap. 4.6.8 »Filmmusikalisches Leitmotiv«).

      Die Musikästhetik Ende des 18. Jahrhunderts richtete sich in Abgrenzung zur im Barock noch populären Nachahmungsästhetik gegen die meist simplifizierende Nachahmung außermusikalischer Inhalte, also gegen einen referenziellen Bezug der Musik zur belebten und unbelebten Natur. Alles Gegenständliche und Objektive, die bloße Nachahmung von Wirklichkeit wurde um 1800 nicht nur von Heinrich Christoph Koch als »großer Fehler« tituliert:

      »Allerdings kan die Tonkunst das Gefühl, welches die schlagende Nachtigall im Thale in der Seele des Dichters erweckte, vollkommen ausdrücken, ohne sich des lebendigen Ausdruckes zu bedienen. Und wenn er[,] der lebendige Ausdruck, nicht ein Bild, eine Figur, unterstützt, wenn er nur das Amt des Wörterbuchs verwaltet, so ist er ein Fehler, ein großer Fehler.« (Kaiser 2007, Koch: Versuch … I. Teil, Einleitung, S. 7)

      Johann Jakob Engel unterschied in seiner Abhandlung zur »musikalischen Malerey« zwei Arten der Tonmalerei: die konkret nachahmende, gegenständliche und diejenige, die allgemeine Eigenschaften des Menschen abbildet. Die erste Art lässt außermusikalische Referenzen zu, für die zweite Art seien »tranzendentelle Ähnlichkeiten« (Engel 1780, S. 9) beim Zusammenspiel der beiden Sinne Hören und Sehen verantwortlich.

      Für Filmmusik sind beide Arten relevant. Im Film ist das Wissen um die Effekte beim Zusammenspiel der Sinne, das »intermodale Assoziation von Ton und Bild« genannt wird, eine wichtige Grundlage der Tongestaltung (Flückiger 2001/2007, S. 137). Wenn Sichtbares einen Klang assoziiert oder umgekehrt ein Klang die visuelle Erscheinung mit Bedeutung auflädt, dann ist es möglich, den Klang dramaturgisch zu nutzen.98

      Die musikalischen Romantiker99 entwickelten eine Musikästhetik, die musikalische Poesie als Nachahmung einer sich wechselseitig spiegelnden »inneren und äußeren Natur« (Dahlhaus 2000a/GS1, S. 546) ansahen. Die Bezeichnung »musikalische Poesie« dient zur Abgrenzung vom Handwerklichen und Alltäglichen und wird zur Kennzeichnung eines Bereichs der Freiheit sowie als Gegenbegriff zu Nachahmung eingesetzt.

      »›Poesie‹ ist der zentrale Begriff in den Kritiken Robert Schumanns, die aus der Poetik Jean Pauls eine Musikästhetik entwickeln. Poiesis erscheint erstens als Gegenbegriff zu Mimesis, zur Kopie von Vorbildern und zur Nachahmung der Wirklichkeit. Zweitens betont Schumann den Kontrast zur ›Prosa‹, zum ›Trivialen‹, ›Flachen‹ und ›Gemeinen‹. Gegenüber prosaischer Empirie erscheint ›Poesie‹ als das ›Übersinnliche‹, gegenüber den Einschränkungen des prosaischen Alltags als Reich der ›Freiheit‹. Drittens ist das ›Poetische‹ der Widerpart zum ›Mechanischen‹ und ›Gemachten‹, sowohl zu bloßer Virtuosität als auch zur Borniertheit eines musikalischen Handwerks, das sich selbst genügt.« (Dahlhaus 2000a/GS1, S. 547)

      Der Übergang von einer in diesem Sinne poetischen Musik zu einer Musik, die Bilder reiht und Vorgänge illustriert, ist allerdings in der Praxis fließend. Ein prominentes Beispiel zeigt, wie die beiden Tendenzen koexistieren:

      Beispiel 1: L. v. Beethoven: Sinfonie Nr. 6

      Beethovens Partitur der 6. Sinfonie (F-Dur op. 68, 1807/1808, »Pastorale«), die auf einer szenisch-programmatischen Grundlage konzipiert ist, enthält den oft zitierten Vermerk zum 1. Satz: »Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerey«. Und in Skizzen zur Sinfonie findet sich die Bemerkung: »Jede Mahlerey, nachdem sie in der Instrumentalmusik zu weit getrieben, verliert.« Während sich im 1. Satz noch Charakterisierungen, Gedanken und Empfindungen entsprechend der ergänzenden Satzbezeichnung »Erwachen heiterer Gefühle bei der Ankunft auf dem Lande« als Ausdruck des Naturerlebnisses zu einem Ganzen formieren und Kuckucksruf-Imitationen oder Bordunklänge als Bauernleier-Imitation sehr zurückhaltend in Erscheinung treten, bedienen die Sätze 2 bis 4, teils auch der 5. Satz die ästhetische Tradition der schildernden pastoralen Sinfonie als »Tongemälde«.

      Beispiel 2: L. v. Beethoven: Sinfonie Nr. 5

      Die im selben Konzert wie die »Pastorale« am 22. Dezember 1808 in Wien uraufgeführte, nicht weniger prominente 5. Sinfonie von Beethoven (c-Moll op. 67) vermag die romantische Idee von musikalischer Poesie vielleicht deutlicher zu zeigen, weil kaum eine Verwechslung mit Tonmalerei möglich ist. Hier wird eine übergeordnete Idee, die das musikalische Werk durchdringt, auf rein musikalische Weise charakterisiert, »weitergedichtet« und kommentiert. Im Kopfsatz erscheint zuerst das zum kulturellen Erbe gewordene Motto im alla-breve-Takt bestehend aus drei Achtelnoten nach einer Achtelpause auf einem Ton (g) und folgender Halben Note (es), dessen Gestalt sich als konstituierend für den gesamten Satz und die Sinfonie erweist. Dieses Motto steht – ganz im Gegensatz zu den schon im 19. Jahrhundert kolportierten Interpretationen – nicht für »das Schicksal, das an die Tür klopft«, sondern ist für Zeitgenossen sicherlich als Zitat verständlich geworden, welches politische Hintergründe betrifft und die zudem kaum offen ausgesprochen werden durften. Es geht um Anspielungen, die Beethovens Sympathien mit der französischen Revolution, damit verbundene Aktivitäten zur bürgerlichen Emanzipation und die Rolle Napoleons betreffen. Es lässt sich nicht ausschließen, dass die Deutung des »Inhalts« der 5. Sinfonie in Richtung Beethovens bürgerlich-freiheitlicher Ideale für einige Menschen als konkrete Botschaft verstanden wurde.100 Die Tonartenwahl der 5. Sinfonie, das Motto im 1. Satz und zusätzlich seine musikalische Verarbeitung rekurrieren auf französische Revolutionsopern und nationale (französische) Festmusiken dieser Zeit.101 Beethoven kannte – wie Georg Knepler darlegt – mit sehr großer Wahrscheinlichkeit durch das Magasin de Musique à l’usage des Fêtes nationales die Revolutionsmusiken von Cherubini, Kreutzer und Méhul, so auch Cherubinis »Hymne auf das Pantheon« und den dort enthaltenen »Schwur der Horatier«. Dessen sprachliche Gestalt lieferte die musikalische Vorlage:

      »Das ist nicht nur der Grundrhythmus der Fünften Sinfonie, der übrigens oft in der französischen Revolutionsmusik vorkommt, namentlich bei Méhul: die ganze Anlage mit der Erbreiterung des Rhythmus in den 4 ersten Takten – auch Beethoven wollte nach Schindlers Überlieferung das Anfangsmotiv etwas breiter genommen haben – mit Halt im 2. und 4. Takt, mit der komplementärrhythmischen Behandlung der Stimmen vom 5. Takt an, dies alles erinnert sofort an den Anfang der Fünften.« (Schmitz zitiert nach Knepler 1961, S. 554)

      Beethovens 5. Sinfonie, aber auch die 3. (»Eroica«) und die 9. Sinfonie galten lange als idealtypische Beispiele poetischer und »absoluter« Musik, die aus sich selbst heraus »erzählt«, die aber trotz konkreter außermusikalischer Referenzen, d. h. zur Lebenswirklichkeit, weit genug davon entfernt ist, schildernde Illustration zu sein.

      Die Überlegungen zur musikalischen Poesie zeigen, dass mit dem Begriff die von der Vokalmusik emanzipierte Instrumentalmusik gemeint ist. Ein referenzieller Bezug in der Musik beschreibt, anders als ein Klang bei der Tongestaltung im Film, nicht einen außermusikalischen Ursprung, sondern ist nur Impuls für die musikalische Arbeit. Instrumentalmusik rechtfertigt sich im Sinne der musikalische Poesie ästhetisch dadurch, »dass sie die Struktur einer thematischen Abhandlung annimmt; dass sie, wie Tieck es ausdrückt, ›für sich selbst dichtet und sich selber poetisch kommentiert‹«. (Dahlhaus 2003/GS5, S. 144). Musikalische Poetik ist keine Tonmalerei, Sujet- oder Affektdarstellung – mit anderen Worten: keine Nachahmung der äußeren Realität mit musikalischen Mitteln. Sie richtet sich nach innen und zeigt sich als Ausdruck der Gedanken, Kommentare und Charakterisierungen von außermusikalischen Erfahrungen, die sich in Musik zu einem sehr persönlichen Ganzen formen können. Als erstaunlich modern zeigt sich auch hier Aristoteles, der laut Fleischer die Wirkung von Instrumentalmusik hervorhebt, weil sie am ehesten Resonanzen


Скачать книгу