Musikdramaturgie im Film. Robert Rabenalt

Musikdramaturgie im Film - Robert Rabenalt


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Figur(en), Thema bzw. Konflikt und Grundzügen der Handlung.

      Anders als die präsentierte Handlung (Sujet, discours oder plot), welche die Vorgänge, Begebenheiten und Tätigkeiten der Figuren zeigt, benennt die Fabel den inneren, spannungsvollen Zusammenhang aller Teile und der wesentlichen Vorgänge. Die Fabel enthält implizit den auf eine bestimmte Wirkung abzielenden Grund für die gewählte Disposition von Figur, Konflikt und Thema sowie essenzielle Anhaltspunkte zur Organisation des Ablaufs der Handlung. Dieser Zusammenhalt kann nicht nur über Chronologie und Kausalität hergestellt und nachvollzogen werden, wie etwa bei Bordwell und vielen anderen zu lesen ist. Wirkungsvolle Fabelideen beruhen vielmehr auf einem besonderen Blickwinkel auf die Geschehnisse. Ein besonderer Blickwinkel kann Nebenfiguren neu gewichten, Anachronien rechtfertigen oder nicht-logische Abläufe nach sich ziehen mit dem dramaturgischen Ziel, den Eindruck zu erwecken, dass die gewählte Disposition die passendste für die Geschichte oder neue Variante einer im Prinzip schon bekannten Geschichte sei. Die präsentierte Handlung konkretisiert Zeitsprünge lediglich, wohingegen die Fabel erklärt, weshalb sie vorgenommen wurden.

      Erst im Laufe des Geschehens erklärt sich einem Publikum der innere Zusammenhalt und kann als Fabel rekonstruiert werden. Eine kunstvolle Fabel bewirkt die spannungsvolle, zwingend oder folgerichtig erscheinende raumzeitliche Anordnung und Entwicklung der Vorgänge. Gerade wenn die epischen Stoffe der antiken Mythen in Dramenfassungen umgewandelt werden sollten, war eine pointierte und schlüssige Fabelidee die Grundlage für herausragende Wirkungen bei den attischen Dramenwettbewerben. In einer Fabel steckt das bindende dramaturgische Element für die Verknüpfung der Handlung(en), weswegen sie oft mit der Kausalkette gleichgesetzt wird. Die Fabel bestimmt aber auch jene Bindungskräfte, welche nicht nur die kausalen, sondern auch unbewusst bleibenden, nicht-logisch gereihten Motive und Handlungen verknüpft. Sie bestimmt die spannungsvollen Konstellationen aus Thema, Figur, Konflikt und Ablauf der Handlung. Darin eingeschlossen ist die Perspektivierung und der folgerichtige Sinn von chronologischer oder nicht-chronologischer Anordnung der Vorgänge.

      Im Einfall für eine Fabel stecken Disposition und Charakterisierung der Figuren, die Gründe für ihre Konflikte und die Grundrichtung dafür, wie sich die Handlung räumlich und zeitlich entfaltet. Die Fabel kann dabei bereits zentrale Elemente der Handlung enthalten, z. B. Wendepunkte (plot points). Daher ist auch der Begriff Plot im Sprachgebrauch zu finden, der allerdings die Gegenüberstellung von Fabel und Sujet (story und plot) unmöglich macht. Die Fabel trägt den inventionalen Kern der Geschichte in sich,74 z. B. einen Grundkonflikt. Sie bestimmt den generellen Blickwinkel auf das Geschehen bzw. die generelle Erzählperspektive so, dass die Erzählung spannungsvoll wirkt. Die Fabel beinhaltet die Grundlage für einen Konflikt und gibt ihm eine Richtung, sodass er – zumindest in der geschlossenen Form – folgerichtig zu einer glücklichen oder unglücklichen Lösung geführt werden kann. In offenen Formen gibt die Fabel den Rahmen, damit der Grundkonflikt oder das generelle Thema variiert anstatt durchgeführt werden kann.

      Eine Fabel lässt sich erst rückblickend gedanklich zusammensetzen und erscheint dann als auf »ihrer temporalen Achse entlang entfaltet« (Eco 1979/dt. 1987, S. 152). Die Fabel ist nicht die Handlung, sondern stellt den Handlungszusammenhang her. Tarkovskij fand für solche Bindungsgesetze im filmischen Erzählen die Formulierung »Arrangement von Beobachtungen« (Tarkovskij, Schlegel und Graf 1985/2009, S. 98), die vor allem für neuere, nicht-aristotelische Dramaturgien gelten sollte. Es wäre schwierig zu behaupten, die Elemente der Fabel in allen Fällen eindeutig benennen zu können. Dennoch kann eine überzeugend erzählte Geschichte meist auf einen solchen Kern der Erzählung zurückgeführt werden.

      Wenn man den künstlerischen Schaffensprozess des Erzählens vor Augen hat, kann die Erfindung einer Fabelidee als Prozess verstanden werden, der die zu erzählende Geschichte vom vor-künstlerischen Stoff durch Abstraktion, eine Auswahl von Begebenheiten bzw. durch Nicht-Ausgewähltes abgrenzt und so einen »erzählbaren Teil« der Welt erschafft.75 Schon die bewusst oder unreflektiert angewendeten Kriterien der Auswahl und Abstraktion erzeugen eine werkimmanente Kohärenz, die sich in einer Fabelidee konkretisiert.

      Das Fabelkonzept des Aristoteles für antike Tragödien, das in der Filmdramaturgie immer wieder Erwähnung findet, beruht bekanntlich auf dessen Beobachtungen bei einigen Autoren von Dramen, deren Werke in den öffentlichen attischen Dramenwettbewerben besondere Wirkung zeigten. Begebenheiten und Handlungen werden nach den Gesetzen der »inneren Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit« (Aristoteles 2008, S. 13; Kap. 9, 1451 a35) komponiert, d. h. sie sind unter den Bedingungen der Mythostragödie kausal verbunden und werden – sich daraus ergebend – in einer raumzeitlich überschaubaren Einheit organisiert.76 Im Falle des Dramas bzw. der Tragödie ist nach Aristoteles die Handlungskomposition für die Konstitution gegenüber den Figuren vorzuziehen,77 welche die Handlungen zwar vorantreiben können, die aber nur als Teil der Fabel überhaupt eine Daseinsberechtigung haben (z. B. Ödipus in der Tragödie von Sophokles, dessen Geschichte zugunsten der Bauform des Dramas rückblickend erzählt wird). Aristoteles stellt dem die Epen gegenüber, die aufgrund ihres Modus der erzählenden bzw. berichtenden Darstellung (diegesis) anders funktionieren: Sie haben unbegrenzt Zeit und teils mehrere zentrale Figuren als konstituierende Kraft.78 Da der Film poetische Gattungsanteile von Drama und Epos enthält, wäre die Definition einer Filmfabel dementsprechend zu erweitern.

      Die Theoretiker der Neuzeit haben den Charakter der Fabel und die Bedeutung der Katharsis jeweils in ihrem Sinne interpretiert: im Barock und zur Zeit des aufkommenden Nationalismus im 19. Jahrhundert bei G. Freytag als Manifestation einer zentralen Macht und ihrer Repräsentanten, von Lessing als Weg zu einem aufgeklärten Geist und von Brecht, der die Fabel als zentrales dramaturgisches Element anerkennt, jedoch die Katharsis als zu überwindendes Konzept ablehnt, weil die für sie notwendige Einfühlung den Blick auf die änderbaren, verantwortlichen Umstände verstellt.

      Aristoteles selbst benutzte den Begriff mythos für das, was in der Regel heute mit dem dramaturgischen Begriff Fabel ausgedrückt werden kann. Erst in den lateinischen und französischen Übersetzungen der Poetik von Aristoteles in der Renaissance tritt der Begriff fabula überhaupt auf.79 Dass die Narratologie den Begriff Fabel auch als Gattungsbegriff nutzt, schließt im Falle der Filmdramaturgie nicht aus, ihn wieder im dramaturgischen Sinne zu verwenden:

      »Nicht also um Charaktere nachzuahmen, lässt man {die Schauspieler auf der Bühne} handeln, sondern man umfasst die Charaktere durch die Handlungen mit. Daher sind die {einzelnen} Handlungen und der Mythos {als Einheit dieser Handlungen} das Ziel der Tragödie, das Ziel aber ist das Wichtigste von allem. Außerdem kann ohne Handlungen eine Tragödie überhaupt nicht zustande kommen, ohne Charaktere aber sehr wohl.« (Aristoteles 2008, S. 10; Kap. 6, 1450 a20)

      In der Übersetzung von Fuhrmann, der in seinen Kommentaren zur Poetik den Vorrang der Fabel auch als »Primat der Handlungsstruktur« (Fuhrmann 1982, S. 110) bezeichnet, klingt der Abschnitt so:

      »Der wichtigste Teil ist die Zusammenfügung der Geschehnisse. Denn die Tragödie ist nicht Nachahmung von Menschen, sondern Handlungen […]. Folglich handeln die Personen nicht, um die Charaktere nachzuahmen, sondern um der Handlungen willen beziehen sie [die Dichter, R. R.] Charaktere ein. Daher sind die Geschehnisse und der Mythos das Ziel der Tragödie; das Ziel ist aber das Wichtigste von allem.« (Fuhrmann 1982, S. 21)

      Die Theorien zur dramaturgischen Kategorie Fabel bauen auf dem hier formulierten Vorrang der Fabel vor den Figuren auf. Dieser Sachverhalt ist vor dem Hintergrund zu verstehen, dass Erzähltheorien in einer Relation zu Relevanz und öffentlicher Wirksamkeit stehen, die eine Kunstgattung in der Gesellschaft hat. Besonders in der Anschaulichkeit des Dramas wird der Vorrang der Fabel gegenüber den Figuren deutlich: Ein Theaterstück sollte zwar eine Wirkung haben, die entstehenden Emotionen werden aber nicht um ihrer selbst willen hervorgerufen. Vielmehr wird dem Publikum die Gelegenheit gegeben, mitzuverfolgen, wie Konflikte erwachsen, Handlungen Affekte auslösen und diese sich auflösen, weil Konflikt und Handlungen zu ihrem logischen und letzten Ende geführt werden. Dieser Vorgang wird als Katharsis bezeichnet. Da Katharsis oft mit der Reinigung oder Läuterung von den dargestellten Affekten übersetzt wird, entsteht der Eindruck, dass allein dadurch, dass der Held oder die Heldin – gleichsam wie in einem Lehrstück – für uns ersatzweise leidet, die »Reinigung«


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