Musikdramaturgie im Film. Robert Rabenalt
in der deutschsprachigen Literatur zum Film und zur Filmmusik findet sich vieles, das vonseiten der Theater- und Musikwissenschaft und von Filmpraktikern (darunter Filmmusiker) mithilfe der Vokabel »Dramaturgie« verhandelt wird.
In der Filmtheorie von Bordwell und Thompson ist ein nicht zu unterschätzender dramaturgisch zu nennender Theorieanteil erkennbar, so die Verbindung von Struktur und Aktivität des Publikums bzw. seine Verstehensleistung: »The spectator’s comprehension of the story is the principal aim of narration.« (Bordwell 1985, S. 30). Auch ist z. B. eine psychologische Komponente, die für den Begriff Narration charakteristisch zu sein scheint, in Bordwells Begriff primacy effect (Bordwell 1985, S. 38) enthalten. Unter primacy effect ist das Öffnen eines Registers zu verstehen, in das nachfolgende Reize eingeordnet werden. Der Begriff Narration wird so als eine gewählte Art der Vergabe von Informationen zum Verständnis der Handlung erklärbar, durch die auch die Struktur eines Films analysiert werden kann.
Von Bordwell und Thompson werden explizite dramaturgische Basisbegriffe wie fabula (Fabel) und syuzhet (Sujet) sowie implizite dramaturgische Strategien berücksichtigt, die sie mit den Begriffen style (die filmspezifischen ästhetischen Mittel) und mit excess (ein »Mehr« oder »Überschuss«) umreißen.49
Michaela Krützen (Krützen 2004) versteht den Aufsatz von Kristin Thompson zum cinematic excess so, dass der »Überschuss« zwar nicht die Narration beträfe, aber entscheidend sei, um Besonderheiten in Form und Qualität, in bzw. mit der eine Geschichte erzählt wird, zu erkennen.
»Der Exzess darf nicht als Störung abgetan werden. Bei der Analyse eines Films müssen Lücken und Sackgassen in der Erzählung berücksichtigt werden. Um die besondere Qualität dieser Lücken und Sackgassen in der Erzählung geht es Kristin Thompson. […] Thompson will die Aufmerksamkeit auf den Exzess lenken, um vor einer Überbewertung des Narrativen zu warnen: ›An awareness of excess may help change the status of narrative in general for the viewer. One of the great limitations for the viewer in our culture has been the attitude that film equals narrative (…). Such a belief limits the spectator’s participation to understanding only the chain of cause and effect.‹ (Thompson 1986, S. 140) Das Narrative und das Exzessive müssen in einem Zusammenhang gesehen werden.« (Krützen 2004, S. 299 f.)
Der auf Thompson zurückgehende Hinweis auf den cinematic excess, der sich später auch bei Bordwell findet (Bordwell 1985), kann als wichtiger Teil von Dramaturgie ernst genommen werden. Allerdings stehen Narration bzw. explizite Dramaturgie und »Überschuss« bzw. implizite Dramaturgie nicht gegeneinander, wie der zitierte Ausschnitt vielleicht suggeriert, sondern wirken zusammen und ergänzen sich, wodurch die Komplexität eines Kunstwerkes erst möglich wird.
Claudia Gorbman hat den Narrationsbegriff von Bordwell für die Filmmusikforschung übernommen. Sie verwendet den Terminus dramaturgy selten und zudem allgemein bleibend:
»The repetition, interaction and variation of musical themes throughout a film contributes much to the clarity of its dramaturgy and to the clarity of its formal structures.« (Gorbman 1987, S. 91)
Der Satz steht im Kontext von Max Steiners Vorgehensweise, nach der er auf Grundlage der Sichtung eines Rohschnitts musikalische Themen für die Hauptcharaktere und wesentlichen Ideen des Films skizziert, um sie dann in die gesamte Anlage der Filmmusik zu integrieren und entsprechend auszuarbeiten. Da Gorbman nicht näher darauf eingeht, was Dramaturgie ist, bleibt allerdings offen, was die Merkmale solch einer »klaren« oder »anschaulichen« Dramaturgie sind. Es kann vermutet werden, dass die epische Anlage bestimmter Filme als dramaturgische Besonderheit angesehen wird, die den Einsatz von Leitmotiven sinnfällig und manchmal vielleicht sogar nötig werden lässt. Bei Berücksichtigung ihrer Beispiele scheint mir wahrscheinlicher zu sein, dass die Informationsdistribution gemeint ist und der Begriff narration synonym verwendet werden kann.
Eine Filmnarratologie, die sich auch auf international verhandelte Theorien zum Thema bezieht, fassen im deutschsprachigen Raum Barbara Flückiger (Flückiger 2001/2007, S. 371–381) und Markus Kuhn zusammen. Kuhn (Kuhn 2011) referiert Ansätze der Erzähltheorie, deren verzweigte Ursprünge hier nicht dargestellt werden können. Das Problem, wie sich ein Erzähler im Film eigentlich konstituiert, wird nur theoretisch thematisiert. Die in der Filmpraxis sich sehr vielgestaltig zeigende Autorschaft bewirkt jedoch, dass eine eindeutige Abstufung von Erzählinstanzen (reale Autorinnen, idealer oder impliziter Autor, auktorialer und figuraler Erzähler) im Film schwer vorzunehmen oder an konkrete filmische Mittel gebunden ist, geschweige denn, dass Merkmale, die eine Erzählinstanz eindeutig markieren, narratologisch immer konsequent angewendet werden. Im Gegenteil: Die Dramaturgie eines Films verlangt für die wirkungsvollste Umsetzung von Thema und Geschichte Inkohärenzen in Bezug auf die Erzählinstanzen.50
Kuhn reflektiert speziell mit Blick auf eine Filmnarratologie das durchaus schon bei Genette komplexe Modell der Fokalisierung. Es handelt sich um ein System zur Differenzierung der Erzählperspektive und das Verhältnis zwischen dem Wissensstand einer Erzählerebene und einer Figur. 1. externe Fokalisierung: Der Erzähler gibt weniger Informationen preis als der Einblick der Figuren ist, 2. Null-Fokalisierung oder »auktorial«: Der Erzähler gibt die Informationen, die auch die Figuren haben, sorgt für den »optimalen« Überblick und nimmt dafür keine bestimmte Perspektive ein oder 3. interne Fokalisierung: Der Erzähler nimmt eine bestimmte Figurenperspektive ein und lässt dafür weg, was diese Figur nicht wissen kann.51 Das Konzept der Okularisierung (für visuelle Aspekte der Wahrnehmung) wird auch auf Teile der auditiven Schicht angewendet. So entsteht ein Modell der Aurikularisierung (für auditive Aspekte der Wahrnehmung), das Kuhn entsprechend Genettes Vorlage in Nullaurikularisierung, externe und interne Aurikularisierung unterteilt.52
Für die Analyse von Filmmusik legt Guido Heldt Diskussion und Forschungsstand der narratologischen Terminologie ausführlich dar. Gerade das umfassende Schrifttum an englischsprachigen Veröffentlichungen zum Thema wird von ihm produktiv reflektiert.53 Der zu beobachtende Übergang von der sprachbasierten zur transmedialen Narratologie bzw. Filmnarratologie führt in der Weise, wie Kuhn es zusammenfasst bzw. entwickelt und wie Heldt mit speziellem Blick auf die Filmmusik darlegt, zu einem äußerst differenzierten System, das narrative Instanzen beschreibt, welche für die Distribution von für die Handlung relevanten Informationen verantwortlich sind und Zuordnungen von Musik zu diesen Ebenen der Narration weitgehend erklärt. Im Kern bleibt es ein auf den Gesetzmäßigkeiten der Sprache beruhendes Konzept, das auf nichtsprachliche Anteile des Films erweitert wurde.
Die narratologische Terminologie zielt auf differenzierte narrative Ebenen und Erzählinstanzen ab, die im Film nicht die gleiche Eindeutigkeit haben wie in der Literatur. Schon Flückiger merkt an, dass die Fokalisierung im Film parallel auf mehrere Schichten durch Kamera, Stimme und Ton für das Publikum erfahrbar gemacht werden kann und daher sich die Gestaltungsmittel vervielfältigen (Flückiger 2001/2007, S. 373 f.). Da sich sprachliche, visuelle und klangliche Mittel im Film vielfältig ergänzen und innerhalb dieser Polyphonie der Mittel die Eigenständigkeit einer Ebene zu insgesamt anderen Erzählformen führen kann, ist der Fokus der Musikdramaturgie ein anderer.
Aus Perspektive der Dramaturgie tritt in das Beziehungsgeflecht von Perspektive und Wissensstand zwischen Erzählerebene und Figuren das Publikum ein und wird sogar zum Zentrum der Beurteilung dieser Verhältnisse. Für eine Theorie der Musikdramaturgie im Film entsteht daher die Notwendigkeit, ein Modell der auditiven Ebenen zur Verfügung zu haben, das Auskunft über die Einbindung des im Film Klingenden in dramaturgische Strategien geben kann, die letztlich darauf abzielen, dass jedes klingende Element der Tonspur im Sinne von Geschichte, Struktur und Wirkung ausgerichtet ist.
Wenn man auf die Ursprünge der von vielen Autorinnen und Autoren bereits diskutierten und zum Teil weiterentwickelten Kategorien zur Differenzierung der Klangschicht im Film blickt, stellt sich heraus, dass in Narratologie, Filmtheorie und Dramaturgie ein etwas anderes Verständnis zu den Begriffen Diegese, Fabel und Sujet sowie zu mimesis und diegesis besteht.54 Da im Besonderen das für die Filmmusik häufig verwendete Begriffspaar diegetische/non-diegetische Musik davon betroffen ist und die hier ausgebreiteten Ideen zur Wirkungsweise von Fabel und Sujet für den Einsatz der Filmmusik von Bordwells Rezeption der Terminologie und damit verbundenen Konzepten