Musikdramaturgie im Film. Robert Rabenalt
Denn mit dem Begriff »diegetisch« im ursprünglichen dramaturgischen Sinn würde das Offensichtliche erklärt werden können: dass externe Musik auch nachahmend ist. Da sie allerdings als von außen kommend verstanden wird, geschieht dies nur indirekt und wird ganz selbstverständlich als durch eine vermittelnde Erzählinstanz verantwortete Musik erkannt. Auch weniger affirmative Musik ist in dieser Logik nachahmend, hat aber gleichzeitig eine Tendenz zum Kommentar. Ben Winters (Winters 2010) schlägt für diese Unterscheidung externer Musik (die er extra-fictional music nennt) die Begriffe extra-diegetic music (ohne Bezug zu Aktionen der Protagonisten) und intra-diegetic music (mit [affirmativem] Bezug zu den Aktionen der Protagonisten) vor.
Die theoriegeschichtlich gewachsenen Probleme mit dem Begriffspaar diegetisch/non-diegetisch werden durch immer neue Varianten eines Modells, dass den von vielen Seiten als problematisch angesehenen Diegesebegriff nutzt, nicht gelöst. Vor allem die daraus resultierende Illusion von Trennschärfe zwischen diegetisch und nicht-diegetisch ist als Problem oft diskutiert worden. So plädiert z. B. Gregg Redner für einen stufenlosen Übergang zwischen diegetisch und nicht-diegetisch (Redner 2011). Jeff Smith (Smith 2009) bemerkt zunächst völlig zutreffend, dass die durch Schnitte meistens nicht eindeutig zuzuordnenden Phänomene beim Einsatz von Musik im Film solange irrelevant sind, wie sie der Glaubwürdigkeit der erzählten Welt entsprechen oder zumindest nicht widersprechen. Er verwendet für diese dem Filmton eigene, variable Genauigkeit die Bezeichnung »fidelity of music« (Smith 2009, S. 15 f.), die auch Bordwell und Thompson nutzen. Auf sie beruft er sich auch bei der Unterscheidung von fabula und syuzhet und mahnt die Unterscheidung von narrativ und narration an (Smith 2009, S. 7), die auch bei Gorbman zu finden ist. Bei allen Schwierigkeiten, die aus der Übersetzung dieser Vokabeln ins Deutsche bestehen, kann gesagt werden, dass mit narrativ (als Substantiv: das Narrativ) die Anlage der erzählten Welt gemeint ist und aus meiner Sicht im Fabelbegriff enthalten ist. Narration (Narration als Vorgang) bezeichnet dagegen die strategisch dosierte Vergabe von Informationen für ein angestrebtes Verständnis der Geschichte durch ein ideales Publikum sowie die gezeigten, strukturierten und konkreten Handlungen.
Merkwürdig negativ bezeichnet Smith mit »temporal manipulation« und »spatially displaced sound« (Smith 2009, S. 8ff. u. a.) die eigentlich selbstverständlichen Phänomene der filmischen Montage.67 Damit entfernt sich Smith noch mehr von der Dramaturgie der Filmmusik und den Forschungsfragen der Musikdramaturgie im Film, als es narratologische Konzepte bereits provozieren. Im Gegensatz zu Bordwell und Thompson, die diegetische Musik weiter differenzieren in internal diegetic (»subjective«) und external diegetic (»objective«) (Bordwell und Thompson 1979, S. 257), differenziert Winters – wie oben schon angedeutet – nicht die sogenannte diegetische Musik (fictional music), sondern die sogenannte non-diegetische Musik (extra-fictional music), und zwar in intra-diegetic, meta-diegetic und extra-diegetic (Winters 2010, S. 238). Nur Musik, die von den Protagonisten erzeugt oder gehört wird, ist diegetisch.68 Musik, die affirmativ ist, aber nicht von ihnen erzeugt oder gehört werden kann, nennt Winters intra-diegetisch (Winters 2010, S. 237).
Dies wäre seine größte Änderung gegenüber dem kritisierten Modell, mit dem diese Musik vereinfachend als non-diegetisch bezeichnet würde. Meta-diegetisch sei Musik dann, wenn sie zu einer Passage erklingt, in der eine Figur berichtet (Winters 2010, S. 237, Anm. 60). Dies entspräche zwar Genettes Idee, widerspräche aber anderen Adaptionen, die auch Aspekte der subjektiven Wahrnehmung mit diesem Terminus einbeziehen, so z. B. auditive Analogien zum point of view.69 Die in Winters’ Artikel zu findende Gleichsetzung von nondiegetic music mit dem syuzhet und diegetic music mit fabula erzeugt bei Analysen aber viele Widersprüche. Die Ursache dafür liegt in der von Bordwell kolportierten Lesart der Begriffe fabula und syuzhet (ursprünglich aus der russischen formalistischen Literaturtheorie der 1920er Jahre), die Winters übernimmt, was noch separat diskutiert wird.70
Die im Ursprung begründeten Schwierigkeiten mit dem meiner Meinung nach ungeeigneten Begriffspaar diegetisch/non-diegetisch können durch Erweiterungen und Varianten dieses Konzepts nicht gelöst werden. Mit dieser These unterscheidet sich die hier ausgebreitete Kritik auch von bereits bestehender Kritik des narratologischen Vokabulars, wie sie bisher am umfassendsten von Guido Heldt formuliert und diskutiert wurde (Heldt 2013). Heldt weist bereits darauf hin, dass die von der Literaturtheorie kommenden narratologischen Kategorien bei der Adaption auf die Filmmusiktheorie nicht mit Aufgaben beladen werden dürfen, für die sie nicht gemacht sind (Heldt 2017, S. 81 f.).71
Wenn sich narratologische und filmologische Theorien und Vokabeln durchkreuzen (diegetisch/non-diegetisch mit den Konzepten narrativ und narration und mit fabula und syuzhet), bleibt unklar, ob die im Film gezeigte Welt (meist mit Diegese bezeichnet) der imaginierte Handlungsraum ist, d. h. der virtuelle Ort für die konkret ablaufende Handlung und weniger ein Universum, das – ähnlich dem Konzept der Fabel – den erzählbaren Teil einer Geschichte meint, dessen im Film sichtbare und hörbare Konkretisierung aber ein Merkmal vom Sujet wäre. Im einen Fall wäre diegetische Musik jene Musik des Handlungsraumes die eine dort zu findende szenische Ursache hat. Im anderen Fall wäre diegetische Musik jene Musik, die eine bestimmte Auswahl und Anordnung der Handlungselemente unterstützt, also eher die Fabel berührt. Beides ist für die Musikdramaturgie im Film von Bedeutung, kann aber durch die Unterscheidung diegetisch vs. nichtdiegetisch nicht angemessen zum Ausdruck gebracht oder differenziert werden. Die Bezeichnung »narrative film music« bei Gorbman bezieht sich eigentlich auf externe Filmmusik, die im zuletzt genannten Sinne der sogenannten Diegese zuarbeitet. Dennoch wird sie von Gorbman und vielen anderen als non-diegetisch bezeichnet. So unterläuft die Zuordnung diegetisch/non-diegetisch die oft referierte erzähltheoretische Basis bei Gorbman und einem Großteil der darauf aufbauenden Filmmusiktheorie.
An zwei grafischen Veranschaulichungen narrativer Ebenen in literarischen Werken von Wolf Schmid (Schmid 2014) wird das Problem der Bestimmung der verschiedenen Arten von Filmmusik mit dem Begriffspaar diegetisch/non-diegetisch besonders deutlich, denn im Film sind die Ebenen der Narration und die Fokalisation nicht in der präzisen Form, die Abb. 3 zeigt, sondern in flexibler oder fließender Form umgesetzt.
Abb. 3: Narrative Ebenen und Instanzen und ihre Kommunikation nach: Wolf Schmid, Modell der Kommunikationsebenen, in: Elemente der Narratologie (de Gruyter Berlin/Bboston 32014), S. 46.
Eine andere Konzeption, die Schmid vorgelegt hat, geht von der Auswahl, Anordnung und Konstruktion der Geschichte aus, um narrative Ebenen zu differenzieren. Abb. 4 zeigt unter anderem, warum der Begriff Diegese durch die Anwendung auf Film und Filmmusik durch Souriau, Bordwell/Thompson und Gorbman für die Filmmusiktheorie eher Probleme verursacht: Er ist nicht vereinbar mit den Kommunikationsebenen (Abb. 3) bzw. der Fokalisation und den narrativen Ebenen (Aufbau und Präsentation der Erzählung, Abb. 4). Zudem zeigt sich in der Übersicht von Schmid ein anderes, auch qualitatives anstatt nur quantitatives Konzept von Fabel und Sujet, als Bordwell/Thompson (und in der Folge viele andere) ihrer Filmtheorie zugrunde legen und das bereits seit einigen Jahrzehnten als zu eng konzipiert gilt.72 Konkret heißt das, dass es zwar nicht falsch ist, das Sujet als Teilmenge der Fabel zu verstehen. Die hier interessante Frage jedoch bliebe ungeklärt: Welche qualitativen Merkmale liegen den Auswahlprozessen zugrunde? Um die Wirkungsweise und damit Grundlagen der Filmmusik zu klären, hilft es zu verstehen, warum für die Filmerzählung Geschehnisse weggelassen bzw. welche Geschehnisse ausgewählt werden, um die Geschichte zu formen, nach welchen Kriterien das Arrangement der Teile und der Perspektive erfolgt und wie die Konkretisierung bzw. Präsentation der Erzählung mit filmischen Mitteln Einfluss auf Auswahl und Anordnung hat. Daher lohnt ein Blick auf die Kombination des Begriffspaares mit den narrativen Ebenen in Wolf Schmids sogenanntem idealgenetischen Modell.
Abb. 4: Zusammenwirken von Fabel und Sujet im Prozess von Auswahl, Komposition und Verbalisierung nach: Wolf Schmid, Idealgenetisches Modell der narrativen Ebenen, in Elemente der Narratologie (de Gruyter Berlin/Boston 32014), S. 225.
Es ist zu erkennen,