Musikdramaturgie im Film. Robert Rabenalt

Musikdramaturgie im Film - Robert Rabenalt


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und mimesis/diegesis

      Das filmmusikalische Vokabular wurde wesentlich durch das Wisconsin Project (Bordwell und Thompson 1979) und Gorbman (Gorbman 1987) beeinflusst. Es beruht auf einem in den 1950er Jahren in Frankreich begründeten interdisziplinären Forschungsprojekt – der »filmologischen Schule«. Anne und Étienne Souriau führten dort erstmals den Begriff diégèse bzw. diégétique ein (Souriau 1951/dt. 1997). Nicht nur Gerard Genette baute u. a. darauf das Vokabular eines Theoriegerüstes auf. Genette unterscheidet allerdings zwischen diegesis (mit dramentheoretischem Ursprung) und Diegese (eine narratologische Umdeutung).55 Einige Konzepte seines Modells wurden durch Bordwell und Thompson 1979 für den Film und von Gorbman 1987 für die Filmmusik adaptiert.

      Die Souriaus führten den aus der antiken Rhetorik und Dramentheorie stammenden Begriff diegesis bzw. diégèse in die Filmwissenschaft ein, unterschieden aber nicht in diegetisch und nicht-diegetisch, worauf schon Kessler, Fuxjäger und andere hinweisen,56 sondern in »diegetisch« (diégétique), »leinwandlich« (écranique) und »filmophanisch« (filmophanique) und andere sogenannte »filmische Realitäten« (Souriau 1951/dt. 1997, S. 144). Damit sind Diskursräume bzw. Schichten der Existenz eines Films wie z. B. seine profilmische Existenz, sein physikalisch bedingter Ablauf und die Mittel seiner Vorführung, der virtuelle Ort eines Geschehens in der Geschichte, die Filmzeit, die sich von der erzählten Zeit unterscheidet, und die Interpretationsleistung des Publikums gemeint. Das Theoriegebäude sollte filmästhetische Spezifika hervorheben, eine wissenschaftliche Filmanalyse begründen und eine damit einhergehende Anerkennung filmwissenschaftlichen Arbeitens bewirken.57

      Souriau zielte unter anderem darauf ab, dass der imaginative Handlungsraum, in dem auch Musik als Ereignis erklingt bzw. ihre Quelle hat, von den Mitteln seiner Darstellung getrennt werden muss. Imagination von Handlungsrealität, Handlungsraum und Handlungszeit sind von der filmisch umsetzenden Realität zu unterscheiden:

      »Dies ist der Raum, in dem sich die Geschichte abspielt. Beide Räume sind streng voneinander geschieden. Um sie nicht zu verwechseln, werden wir ihnen Namen geben […] Der erstgenannte ist der ›leinwandliche‹ [écranique] Raum. Den anderen nennen wir ›diegetisch‹ [diégètique] (abgeleitet vom griechischen diegesis, Diegese: Bericht, Erzählung, Darstellung). Damit haben wir also zwei Räume: 1.) Der leinwandliche Raum mit dem Spiel von Licht und Dunkelheit, den Formen, den sichtbaren Gestalten. 2.) Der diegetische Raum, der nur im Denken des Zuschauers rekonstruiert wird (und der zuvor vom Autor des Drehbuchs vorausgesetzt oder konstruiert wurde); in ihm sollen alle Ereignisse, die man mir zeigt, sich abspielen, in ihm scheinen sich die Figuren zu bewegen, sobald ich die Szene verstehe, an der man mich teilhaben lässt.« (Souriau 1951/dt. 1997, S. 144)

      Wenn man sich auf die philologische Deutung der aktuellen Aristoteles-Forschung (Schmitt 2008) stützt, wird deutlich, dass dieser Diegesebegriff die bei Platon und Aristoteles wesentliche Unterscheidung der direkten Nachahmung (Charaktere, die ihre Handlungen selbst ausführen) und indirekten Nachahmung (der Bericht von den Handlungen der Charaktere) ignoriert. So geht auch verloren, dass eine jeweils andere Rezeptionshaltung erzeugt werden kann: Struktur und Wirkung ergeben sich in wirklichkeitsnaher Präsenz oder mit spürbaren Eingriffen einer vermittelnden Instanz in die Abläufe.

      Hätte Souriau statt von »erzählter Welt« von »gezeigter Welt« gesprochen, die im Film ausschnitthaft präsentiert wird und durch Imagination vervollständigt und kohärent wird, wäre die ursprüngliche dramaturgische Unterscheidung von zeigender und erzählender Nachahmung erhalten geblieben. Dies wäre zum einen logischer, insofern die imaginierte Welt nicht verbal erzählt, sondern im Film tatsächlich (und noch wirklichkeitsnäher als im Theater) »gezeigt« wird. Zum anderen erreicht ein Film seine Wirkung in der sehr flexiblen Abwechslung von direkter und indirekter Nachahmung bzw. dramatischen und epischen Mitteln.

      Der Suche nach einem geeigneten Begriff für die Unterscheidung der dargestellten Welt von den Mitteln, die sie darstellen, liegt also eine geringe Bewertung von dramaturgisch wirksamen Erzählmodi zugrunde. »Erzählt« (diegesis) wird im Film mit vielen Mitteln, darunter Musik. Das Erzählen begrenzt sich nicht darauf, eine Welt zu imaginieren, in der Figuren handeln.58 Die gezeigte Welt ist nur ein Teil davon und sollte den Begriff Diegese daher nicht für sich allein beanspruchen, wie es bei der Übertragung auf die Terminologie der Filmmusik geschieht.

      Der Begriff diegetische Filmmusik wird in der Filmmusikforschung als Folge dieser Ungenauigkeit für die Musik im Film verwendet, die Teil der direkt nachschöpfenden, gezeigten Handlungen ist, d. h. für Musik mit einer Ursache im imaginativen Handlungsraum. Um einen Gegenpol dazu zu schaffen, ergänzen Bordwell und Thompson (Bordwell und Thompson 1979, S. 254 ff.) sowie Gorbman (Gorbman 1987, S. 22) den Begriff non-diegetic und ersetzen damit auch Genettes Begriff extra-diégétique (Genette 1972/dt. 1994). Auch hier wird deutlich, dass der Diegesebegriff eigentlich nicht geeignet ist, denn die Aussagekraft über die von Genette ausführlich differenzierte Fokalisierung und den Zugriff auf Informationen zur Handlung entfällt dann (Wer hört? Wer weiß wovon im Vergleich zur kompletten Information des auktorialen Erzählers? Wer spricht bzw. hört?). Allerdings unterscheiden sich literarische und filmische Fokalisation in der Flexibilität, und abgesehen davon wird nicht klar, wie eine »nicht-erzählerisch« eingesetzte bzw. »nicht-erzählte« Musik zum Verständnis des Filmdramas beitragen könnte.

      Bordwell greift noch weiter zurück auf Platon und Aristoteles, um die Unterscheidung von diegesis (telling) und mimesis (showing) zu untermauern:

      »Diegetic theories conceive of narration as consisting either literally or analogically of verbal activity: a telling. This telling may be either oral or written. […] Mimetic theories conceive of narration as the presentation of spectacle: a showing. Note, incidentally, that since the difference applies only to ›mode‹ of imitation, either theory may be applied to any medium.« (Bordwell 1985, S. 3)

      Doch schon wenige Seiten später vermengt Bordwell Neues und Altes aus den zum Teil unterschiedlich übersetzten und schwer zu deutenden historischen Quellen:

      »›Diegesis‹ has become to be the accepted term for the fictional world of story. Calling one tradition of narrative theory ›diegetic‹ brings out the linguistic conception underlying Plato’s formulation. For Plato, both pure narrative and theatrical imitation presuppose the priority of the poet’s voice; in drama, the poet simply makes his own speech like that of another.« (Bordwell 1985, S. 16)

      Gerade dann, wenn externe (nicht in der Handlung gezeigte) Musik als Beiordnung und erzählerisches Mittel bemerkbar und wirksam wird, wenn unstrittig ist, dass sie zum filmischen Diskurs gehört und auch mit ihr die Vorgänge strukturiert werden können (d. h. dass Filmmusik fokussiert, interpretiert und auf eine ordnende Instanz verweist), wird sie heute – eigentlich unpassend – als non-diegetisch (= »nicht-erzählend«?) bezeichnet. Wäre damals das Wort »virtuell« populär gewesen, hätte Souriau anstatt »diegetischer Raum« vielleicht diesen Begriff gewählt für den imaginativen (virtuellen) Handlungsraum. Dann wäre die Musik, die in dieser virtuellen Welt erklingt, von Gorbman vielleicht als »virtuelle Musik« bezeichnet worden, die beigeordnete Musik als »nicht-virtuell« (oder doch der Unterscheidung Platons folgend: »erzählend« bzw. »diegetisch«, was als Gegenteil zum derzeitigen Gebrauch zu bezeichnen wäre).

      Dieter Merlin benennt in einem Aufsatz das begriffstheoretische Problem als »diegesetheoretisches Paradoxon« (Merlin 2012, S. 125). Ob ein Element zur erzählten Welt oder zum filmischen Diskurs gehöre, könne nicht bestimmt werden, ohne dieses mit Elementen zu vergleichen, die bereits Teil der erzählten Welt sind (Merlin 2012, S. 125). Es wird klar, dass die Reduzierung der Begriffe diegetisch/nicht-diegetisch auf den Aspekt des Raumes einige (zum Teil besonders schöne) filmspezifische Bauformen und Wirkungsmechanismen nicht erfassen kann. Merlin zitiert Fuxjäger (Fuxjäger 2007), der den Aspekt der Nachahmung bereits berücksichtigt und mit zeichentheoretischen Unterscheidungen einen modifizierten Diegesebegriff entwickelt (Merlin 2012, S. 121 ff.), sowie weitere Autorinnen, die aus bestimmten Gründen kritische Reflexionen zur Terminologie liefern.

      Die Verwendung des Diegesebegriffs tendiert zu einer Absolutheit – einer 100-prozentigen


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