Musikdramaturgie im Film. Robert Rabenalt

Musikdramaturgie im Film - Robert Rabenalt


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(»archeplot«) auch offene (»miniplot«) bzw. nichtlineare Dramaturgien (»antiplot«) zu erfassen (McKee 1997). Das von Peter Hanson und Paul Herman 2010 veröffentlichte Buch Tales from the Script (Hanson und Herman 2010) lässt 50 Drehbuchautorinnen und -autoren selbst zu Wort kommen. Die Herausgeber belegen so Vielfalt, Komplexität und gegenseitige Beeinflussungen unterschiedlicher Kino- bzw. Erzähltraditionen und widerlegen zugleich die vermutlich aus kommerziellen Gründen erwachsene Idee vom erfolgreichen Drehbuch, das lediglich auf schematisierten Mustern beruhen würde, und die von den meisten Drehbuchratgebern aufrechterhalten wird.37

      Daneben finden sich deutschsprachige Veröffentlichungen zur Filmdramaturgie in der neueren medienwissenschaftlichen Literatur, die einen starken Einfluss der nordamerikanischen Drehbuchratgeber zeigen oder eine daran orientierte Filmanalyse betreiben (Eder 1999/2007, Krützen 2004, Beil, Kühnel und Neuhaus 2012), selten mit ausgeprägter praktischer Erfahrung im Hintergrund (Wagner 2015). Stutterheim und Kaiser (Stutterheim und Kaiser 2009/2011) sowie Lang und Dreher (Lang und Dreher 2013) wenden erstmals das bereits in der Musikwissenschaft (Dahlhaus 1992) und in der Theaterwissenschaft (Rohmer 2000) angewandte Konzept zur Differenzierung zwischen expliziten und impliziten Dramaturgieanteilen auf Filmdramaturgie an.38 Einen meist nur am Rande betrachteten Teil von Filmdramaturgie, die Erschaffung und Entwicklung von Figuren, rückt Jens Becker (Becker 2012) ins Zentrum.

      Für den englischsprachigen Raum ist Bordwells (Bordwell 1985) und Thompsons (Bordwell und Thompson 1979) Theorie zum Film als viel zitierter Ansatz zur Filmdramaturgie zu nennen. Bordwell und Thompson kommen allerdings ohne den Terminus »Dramaturgie« (dramaturgy) aus und verwenden den Begriff narration für die in weiten Teilen vergleichbaren Sachverhalte. Sie akzentuieren durch die Bezeichnung narration die im Werk angelegte strategische Informationsdistribution und kognitive Arbeit während der Rezeption.39

      Bei der Frage nach der Unterscheidung zwischen der Dramaturgie fiktionaler und dokumentarischer Filme muss festgestellt werden, dass im Gegensatz zur Spielfilmdramaturgie kaum Literatur zur Dramaturgie des Dokumentarfilms vorliegt.40 Bei genauerer Betrachtung weisen beide Gattungen grundsätzlich gesehen viele Gemeinsamkeiten auf:

      »Ein Autor/eine Autorin will aus einem spezifischen Anliegen heraus über einen von ihm oder ihr gewählten Ausschnitt der Wirklichkeit erzählen – mit wirklichen Menschen und mit Materialien, die vor Ort aufgenommen werden. Und: Erzählen ist – im Unterschied zur Mitteilung und der Rede – eine künstlerische Tätigkeit. Von der Regie und Kameraperson werden für einen solchen Film zunächst Motive ausgewählt, die genau dieses Anliegen auf die treffendste und bildhafteste Weise vermitteln. Ein Dokumentarfilm ist kein spiegelndes Dokument der Wirklichkeit – auch nicht der des Direct Cinema, das oft als vermeintliche Folie dafür angeführt wird.« (Stutterheim 2011, S. 2)

      Auch die Analyse von Filmmusik im Dokumentarfilm bestätigt, dass grundlegende Gemeinsamkeiten in der Dramaturgie fiktionaler und dokumentarischer Filme bestehen.41 Wichtige Unterschiede sind z. B. darin zu finden, wie konkret ein Drehbuch verfasst ist, welche Intentionen die Filmschaffenden haben und dass im Dokumentarfilm eine Verantwortung gegenüber den Protagonisten besteht, deren Leben nicht nur der Vorwand für eine Geschichte ist. Interessant wäre die Frage, wie Aristoteles den Dokumentarfilm bewertet hätte. Vermutlich würde er seine Unterscheidung von Geschichtsschreibung und Poesie heranziehen: Die Mittel sind ganz ähnlich, aber der eine ahmt die Welt nach, wie sie ist, die Poesie ahmt die Welt nach, wie sie aus Sicht der Dichtenden sein sollte.

      Exkurs 1: Geschlossene und offene Form

      Die in Fachkreisen gebräuchlichen Bezeichnungen »geschlossene« oder »offene Dramaturgien« gehen zurück auf die Typologie von Dramen in geschlossener oder offener Form von Volker Klotz (Klotz 1960/1999). Sein Modell, das überhistorische Stiltendenzen aufzeigen soll, kann prinzipielle Unterschiede auf den verschiedenen Ebenen Handlung, Zeit, Ort, Figuren, Komposition und Sprache verdeutlichen. Für die Filmdramaturgie wurde das Konzept von offener und geschlossener Form von Kerstin Stutterheim adaptiert (Stutterheim und Kaiser 2009/2011, Stutterheim 2015). Dass das Modell von Klotz kritisch gesehen und bzw. angewendet werden müsse, bemerkt und begründet B. Asmuth (Asmuth 2004, S. 48–50). Eine Übertragung auf die Filmdramaturgie gelingt nur mit Berücksichtigung filmästhetischer Prämissen, zu denen auch die Klangschicht mit der Filmmusik gehört.

      Als geschlossene Form werden von Klotz Aufbau und Ausformung von Dramen bezeichnet, die eine in Struktur und Deutung vollständige Erzählung ausformen. Die Erzählweise orientiert sich hierbei meist auf eine Hauptfigur und einen Kontrahenten und bezieht gegebenenfalls Begleiterfiguren ein. Nebenhandlungen sind der Haupthandlung klar untergeordnet. Die geschlossene Form organisiert die Handlung so, dass sie exemplarisch oder als Ausschnitt für das Thema steht und die aristotelischen Ideale von Überschaubarkeit von Handlung, Zeit und Ort, die Unversetzbarkeit der Teile und die logische Aufeinanderfolge von Anfang, Mitte und Schluss größtenteils realisiert. Eine Szene hat ihre Bedeutung immer im Hinblick auf das Ganze.

      Die offene Form erzählt vom Thema dagegen in lückenhafter Weise. Eine Szene steht für sich selbst und kann in der Reihung als Variante oder als Kontrast zu anderen Szenen gesehen werden. Das eigentliche Thema muss hinter der Handlung erst abgeleitet werden. Die Handlung kann unvermittelt beginnen, sie kann statt logisch z. B. assoziativ angeordnet oder gereiht werden und muss nicht zwingend in sich abgerundet sein.

      »Das Ganze in Ausschnitten: Die äußere Handlung drängt über die Grenzen, die durch Anfang und Ende des Dramas gegeben sind, hinweg. Das Geschehen setzt unvermittelt ein, und es bricht unvermittelt ab. Innerhalb dieser Scheingrenzen verläuft es nicht kontinuierlich schlüssig, sondern punktuell interruptiv, nicht einer Entwicklung folgend, sondern Gleichwertiges reihend.« (Klotz 1960/1999, S. 217)

      Außer Handlungskomposition, Zeit und Raum der Geschichte systematisiert Klotz auch typische Figurenkonstellationen als zur geschlossenen oder offenen Form gehörend: Figuren in geringer vs. großer Zahl, Ständeklausel vs. keine soziale Beschränkungen, eindeutige Bedürfnisse vs. komplexes Zusammenspiel von Innen- und Außenwelt. Die Konflikte der Figuren werden in der offenen Form ausgestellt und nicht wie in der geschlossenen Form als spannungssteigerndes Element einer Kausalkette genutzt. (s. Abb. 2)

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      Abb. 2: Zentrale Aspekte im Modell der geschlossenen und offenen Form im Drama nach Klotz (nach: Jochen Vogt, Einladung zur Literaturwissenschaft [W. Fink Paderborn 2008]).

      Offene Formen und Dramaturgien lassen sich weniger gut systematisieren, haben aber gemeinsame Merkmale: Beginn und Ende sind voraussetzungslos bzw. nicht abgeschlossen. Lose verknüpfte Episoden werden durch Assoziationen oder Zufälle zusammengehalten und gehören mehr oder weniger zu einem übergeordneten Thema. Das Publikum muss selbst aktiv werden und Sinn stiftend das Geschehen deuten oder es einer übergeordneten Idee zuordnen.

      Dieser Teilaspekt des Modells zeigt Gemeinsamkeiten mit dem Konzept des »offenen Kunstwerks« von Umberto Eco, mit dem die »offene Form« aber nicht gleichgesetzt oder verwechselt werden darf. Hinter der Offenheit des Kunstwerkes stehen für Eco die besonderen Möglichkeiten der Teilhabe:

      »Die Poetik des ›offenen‹ Kunstwerks strebt danach, im Interpreten ›Akte bewußter Freiheit‹ hervorzurufen, ihn zum aktiven Zentrum eines Netzwerkes von unausschöpflichen Beziehungen zu machen, unter denen er seine Form herstellt, ohne von einer Notwendigkeit bestimmt zu sein, die ihm die definitiven Modi der Organisation des interpretierten Kunstwerkes vorschriebe« (Eco 1973/1977, S. 31)

      Hiermit kommt ein wichtiger Aspekt zur Sprache, der mit dem auch allgemeinsprachlich genutzten Wort »offen« kaum erfasst wird und daher auch Missverständnisse produziert.42 Andererseits wird mit dem von Eco geäußerten Gedanken auch deutlich, warum Filmmusik einen großen Anteil daran haben kann, ob geschlossene oder offene Erzählkonzepte funktionieren können. Denn Musik (insbesondere Instrumentalmusik) vertieft bei entsprechender Zuordnung den Inhalt im Sinne einer geschlossenen Form, bleibt aber dennoch ungegenständlich und bietet so auch die Möglichkeit, Form und Deutungen zu öffnen, zumindest wenn stereotype Kopplungen vermieden werden.


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