Musikdramaturgie im Film. Robert Rabenalt

Musikdramaturgie im Film - Robert Rabenalt


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geographischer, historischer, ja selbst philosophischer Notizen, Kenntnisse und Erkenntnisse« (Hegel 1818–29/1984, S. 260, Bd. 1). Hegel benennt auch Spezifikationen des »Partikulären«, also der konkreten fiktiven bzw. realen Umstände, und fragt hierfür, »wie ein Kunstwerk in betreff auf die Außenseite des Lokals, der Gewohnheiten, Gebräuche, religiösen, politischen, sozialen, sittlichen Zustände gestaltet sein müsse« (Hegel 1818–29/1984, S. 260, Bd. 1), um verstanden zu werden und das Publikum im Innern zu berühren. Diese Gedanken zeigen besonders deutlich, dass Strukturmodelle (als expliziter Dramaturgieanteil) allein kein Garant für eine gelungene Dramaturgie sein können.

      Im Vorwort einer interdisziplinär angelegten Veröffentlichung, die sich dem Thema implizite Dramaturgie widmet, schreibt Rolf Rohmer von den Schwierigkeiten und Vorteilen der Forschungsmethode:

      »Die erste Gruppe der vorliegenden Studien geht dem Phänomen der ›impliziten Dramaturgie‹ nach. Sie erkundet das Wirken dramaturgischer Strategien und Effekte insbesondere dort, wo sie weder reflektiert oder verbal behauptet noch konzeptionell ausgewiesen sind, sondern wo sie einfach stattfinden. Hier mussten bewährte Fragestellungen aufgegeben, erprobte Instrumente verworfen, sichere Wege und Methoden verlassen werden. Gleichzeitig konnten bestimmte Grenzen – Kunstgattungen wie Kommerz betreffend – nicht weiter gelten. Nun ließen sich dramaturgische Implikationen surrealer Filmsequenzen, kommerzieller Musicalpräsentationen, personaler Regiestrategien aufdecken, konnten neue kontextuale (Entertainment, Happening, Zitat) wie internale dramaturgische Sachverhalte (Rhythmus, musikalische Strukturen, metrische Potenziale, filmische Bildsprache) angegangen werden.« (Rohmer 2000, S. 8)

      Doch wie lässt sich nun der Begriff der »impliziten Dramaturgie« definieren? Einige Passagen aus Rohmers Text enthalten zusammenfassende Beschreibungen:

      »Freilich bestimmen solche einzelnen Sachverhalte [die der impliziten Dramaturgie zuzurechnen sind] auch wenn sie gehäuft auftreten nicht die Gesamtstruktur des Werkes, sie bilden nicht ihr ›Gerüst‹. Sie haben aber doch eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Sie verweisen auf oft nicht bemerkte dramaturgische Dimensionen in der Gesamtstruktur, präzisieren oder gewichten einzelne ihrer Teile bzw. Zusammenhänge und werden damit wichtig für die Deutung der Werke. […] ›Implizite Dramaturgien‹ sind spezielle Strukturelemente von unterschiedlicher, häufig grundsätzlicher Bedeutung, zwar in die Texte eingeschrieben, aber auffällig durch eine Art Sonderstellung im sich entfaltenden Textmaterial. Oft sind sie aus dem philosophischen, kulturgeschichtlichen, biografischen und sonstigen Umfeld des Autors in die Texte transponiert und dort gewissermaßen als Knotenpunkte festgemacht.« (Rohmer 2000, S. 15)

      Der vielleicht offenkundigste Unterschied zur expliziten Dramaturgie ist dadurch erkennbar, dass die Strategien der impliziten Dramaturgie speziell die über die Handlung hinausweisende Sinnkonstitution befördern. Implizite Dramaturgie beeinflusst die Deutung eines Werkes durch Präzisierungen. Das gelingt durch Strukturelemente, die mit alltäglichen und medialen Erfahrungen der Rezipierenden verknüpft werden. Bezogen auf Filmwerke schreibt Christine Lang:

      »Implizite Dramaturgien […] sind […] mit den historisch ein Filmwerk umgebenden ästhetischen Diskursen, mit technischen Innovationen und gesellschaftspolitischen Umständen verbunden.« (Lang und Dreher 2013, S. 35)

      Das Funktionieren dieser Sinnkonstitution (die Gewichtung und Präzisierung von inhaltlichen Zusammenhängen) durch implizite Dramaturgie ist daher abhängig von den »Lesefähigkeiten« des Publikums, welche wiederum regional und historisch ganz unterschiedlich sein können:

      »Implizite Dramaturgie [ist] nicht zuletzt und zum größten Teil für die Realismus-Wirkung und die Authentisierung des Erzählten verantwortlich. Stil und Humor sind immer zeit- und kontextabhängige Phänomene, und wenn etwa Metaphern und Verweise auf das Welt- und Alltagswissen medial erfahrener Rezipierender nicht stimmen, können ein Film oder eine Fernsehserie schnell ahnungslos oder naiv wirken.« (Lang und Dreher 2013, S. 34)

      In Ergänzung zu expliziten dramaturgischen Mitteln, mit denen eine Form von Glaubwürdigkeit innerhalb der Handlung erreicht wird,44 wirken Geschichten erst dann überzeugend, wenn Inhalte und ästhetische Mittel durch Strategien der implizite Dramaturgie mit dem kulturellen, sozialen und sonstigen Hintergrund des Publikums verknüpft werden. Die Digitalisierung der Medienwelt erlaubt zudem sehr weitreichende oder verzweigte Bezüge, denn sie führt zur ständigen Verfügbarkeit von nahezu allen künstlerischen Werken bzw. ihren Reproduktionen, ihren Stilen und ihrer Ästhetik. Durch Digitalisierung kann permanent und umfänglich Bezug auf künstlerische oder gesellschaftspolitische Diskurse genommen werden. Die Bezugnahme zu Erfahrungen des Publikums mit anderen künstlerischen Werken oder Alltagserfahrungen aus einer Vielzahl anderer Lebensbereiche ist somit sehr leicht herzustellen, sodass künstlerische Strategien darauf aufbauen können. Die auf solche Weise erzeugten Bedeutungszusammenhänge sind für Inszenierung, Aufschlüsselung und Deutung eines Werkes – insbesondere im sich stets von wandelnder Technik beeinflussten Medium Film – nicht selten essenziell.

      In der Theatertheorie und -dramaturgie ist die Unterscheidung in einen expliziten und einen impliziten Wirkungsradius der Gestaltungselemente geläufiger als in anderen Disziplinen, die sich mit dem darstellenden Erzählen befassen. Im Handbuch der Filmdramaturgie von Kerstin Stutterheim und Silke Kaiser wird diese Terminologie erstmals auf die Filmdramaturgie übertragen (Stutterheim und Kaiser 2009/2011, S. 57–60). Aber schon Kristin Thompson (Thompson 1986) untersuchte in diesem Sinne implizit zu nennende Dramaturgieanteile im Film.45 Auch Dahlhaus unterschied in seiner Opern- und Librettotheorie (Dahlhaus 1992) bereits explizite Dramaturgie und implizite Poetik, wie das Zitat im vorigen Kapitel belegt.46

      Für die Filmmusikforschung wurde die Differenzierung in explizite und implizite Dramaturgieanteile bisher noch nicht angewendet. Da aber insbesondere die Digitalisierung im Bereich des Films (d. h. die Verfügbarkeit zahlloser Medien, die Intertextualität und Verweisketten zulassen) zu einer Potenzierung der künstlerischen Möglichkeiten und damit einer vermuteten größeren Bedeutung der impliziten Dramaturgie geführt hat, kann dieser heuristische Ansatz auch für die aktuelle Filmmusikforschung sinnvoll und fruchtbar werden. Die Strategien der expliziten und impliziten Musikdramaturgie sollten aber nicht verabsolutiert, sondern in ihrem Zusammenwirken gesehen werden. Erst dann entfaltet sich der Sinn der Differenzierung in explizite und implizite dramaturgische Wirkungsbereiche. Die hier vorgeschlagene Systematik, mit der explizite und implizite Anteile der Musikdramaturgie differenziert werden können, ermöglicht es, verdeckt eingearbeitete Bestandteile und Strategien mit einem weiter reichenden Wirkungsradius zu analysieren und diese als Teildramaturgien zu verstehen.

      Teilaspekte der impliziten Dramaturgie im Film, die aus Sicht der film-, fernseh- und medienwissenschaftlichen Forschungszweige besonderes Interesse erlangt haben, wurden bisher untersucht, ohne die hier verwendete Terminologie zu verwenden. Intertextualität oder ein abgegrenztes ästhetisches System (wie z. B. in den Filmen von Quentin Tarantino) berufen sich auf Regeln und Kontexte, ohne die das Werk kaum zu entschlüsseln ist. Am Beispiel der Fernsehserie BREAKING BAD hat Christine Lang implizite Dramaturgie bereits als spezifischen analytischen Zugang angewendet.47 Intertextualität als Teilaspekt der impliziten Dramaturgie spielt vor allem bei Untersuchungen zu Popmusik als Filmmusik, präexistenter Musik und musikalischen Zitaten im Film bereits eine bedeutende Rolle.48 Der Beitrag der Filmmusik zu einer so gewonnenen Komplexität eines Filmwerkes ist ein mehr und mehr bearbeitetes Forschungsfeld, in welchem noch viele Fragen und Bereiche ausgelotet werden können.

      Aus dem in dieser Untersuchung verfolgten Ansatz ergibt sich unter anderem, auf die Schnittmengen zwischen Narratologie und Dramaturgie einzugehen. Hiermit sind inhaltliche Schnittmengen aus Sicht der unterschiedlichen Disziplinen gemeint, aber auch sprachliche Besonderheiten, wenn z. B. im angloamerikanischen Raum mit narration Aspekte von Dramaturgie mit behandelt werden.

      Das Wort dramaturgy existiert zwar im Englischen, wird aber in der Regel für die praktische Tätigkeit des Ins-Werk-Setzens genutzt oder steht im schlimmsten Fall nur für einen allgemeinen oder beliebigen


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